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Rezension

Achtung, Einsturzgefahr

Steven Knight genügt eine Autofahrt, um die mühsam konstruierte Existenz eines Self-Made-Man in sich zusammen sacken zu lassen wie ein Kartenhaus


Bewertung:    



No Turning Back ist eine One-Man-Show. Neunzig Minuten lang beobachtet der Zuschauer den (Anti)helden dabei, wie er durch wenige Telefonate seine gesamte, bis zum Einsetzen der Handlung scheinbar intakte Existenz demoliert. Andere Figuren bekommt der Zuschauer nicht zu Gesicht. Auch die Szenerie ist stets die gleiche: Das Kameraauge ist, von wenigen Außenperspektiven abgesehen, permanent auf den Innenraum des BMW gerichtet, den der Protagonist im dichten Berufsverkehr bei Regen und Nebel ungeduldig Richtung London lenkt. Merkwürdige Versuchsanordnung, die sich Regisseur Steven Knight da ausgedacht hat, möchte man meinen - einem Kammerspiel nicht ganz unähnlich. Und doch reißt einen No Turning Back von der ersten Minute an in seinen Bann und lässt einen (selbst als wenig autobegeisterten Zuschauer) neunzig Minuten nicht mehr los. Dies allein grenzt an einen Geniestreich!

Ivan Locke ist Mitte Vierzig, verheiratet (wir dürfen annehmen, dass er seine Jugendliebe geheiratet hat) und Vater von zwei Söhnen. Vom einfachen Vorarbeiter hat er sich in den neun Jahren, die er für seine Firma tätig ist, zum Bauleiter hochgedient. Alle schätzen ihn als zuverlässigen, fähigen und loyalen Kollegen - solide und vorhersehbar wie die Materie, die er bearbeitet: Zement. Nun hat Ivan den großen Coup gelandet - er soll das Fundament für das größte Gebäude Europas gießen. 25 LKWs liefern den Stoff. Wenn auch nur eine Betonpumpe nicht korrekt arbeitet, entsteht ein Schaden in Milliardenhöhe. Ivan weiß nur zu gut, welche Last auf seinen Schultern ruht. Doch er lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Jede Millisekunde ist durchorchestriert, Ivan hat alles sorgsam geplant.

Nur macht ihm das Schicksal einen Strich durch die Rechnung. Aus einem achtlosen One Night Stand auf einer Betriebsfeier ist ein Kind hervorgegangen, das die Frau, Bethan, zu behalten gedenkt, da es „ihre letzte Chance auf ein Stückchen Glück“ sei. Ivan, zutiefst traumatisiert durch einen stets abwesenden, notorisch untreuen Vater, entschließt sich kurzerhand, Bethan bei der Geburt des Kindes beizustehen. Die Wehen setzen jedoch zwei Monate früher ein als geplant, was Ivans Planung und, in Folge, seine sorgsam zusammengezimmerte Existenz binnen Minuten zerbröckeln lässt. Kurzerhand entschließt er sich, seiner Baustelle den Rücken zu kehren und nach London zu brausen. Dass er damit nicht dem so wichtigen Betonguss beiwohnen kann und seine engsten Mitarbeiter im Stich lässt, zerreißt ihn innerlich, hält ihn aber nicht von seiner Entscheidung ab (so viel zum Titel).

Erst zu diesem Zeitpunkt setzt der Film überhaupt ein. Abgesehen von einer höchst gelungenen Charakterstudie (verkörpert durch einen brillanten Tom Hardy) überzeugt No Turning Back vor allem durch seine Machart: Die Handlung konstruiert sich einzig und allein durch die Dialoge, die Ivan mit den Schlüsselfiguren seines Lebens auf seiner halsbrecherischen Autofahrt führt. Sein Leben scheint in einem Telefonbuch kondensiert zu sein: Zwei Klicks verbinden ihn mit Ehefrau Katrina, der er schließlich von seinem Seitensprung erzählt, seinen beiden Söhnen, die zutiefst enttäuscht sind, dass er nicht wie versprochen ein wichtiges Fußballspiel mit ihnen guckt, der werdenden Mutter Bethan, die ihn im Minutentakt aus dem Kreißsaal anruft und seinen Kollegen, die ihn mit ihrer Hilflosigkeit schier zur Weißglut treiben. Der nervtötende, quasi zur Pavlov'schen Glocke mutierende Klingelton seines Handys lässt auch beim Zuschauer den Cortisolspiegel im Minutentakt steigen. Aus purer Verzweiflung trinkt Ivan irgendwann den Hustensaft aus seinem Handschuhfach. Spätestens nach der Halbzeit des Films möchte man die Freisprechanlage gewaltsam aus dem Armaturenbrett reißen.

Die wenigen Momente der Stille werden durch die quälenden Selbstgespräche unterbrochen, die Ivan, das Gesicht maskenartig verzogen, mit seinem längst verstorbenen Vater führt. Es besser machen zu wollen, ist sein Leitmotiv, das Fundament seiner Existenz, das, ausgelöst durch seinen eigenen Fehltritt, plötzlich Risse zeigt. Die temporeiche Autofahrt und die nicht enden wollenden Anrufe erzeugen ein Gefühl der Beklemmung. Man wartet eigentlich nur darauf, dass Ivans Wagen ins Schleudern gerät – vielleicht auch durch sein eigenes Zutun. Das Fahrtziel Katastrophe scheint eigentlich von Beginn der Reise in das Navigationssystem einprogrammiert zu sein. Dass es Knight dennoch gelingt, den Spannungsbogen die ganze Zeit über aufrecht zu erhalten und dem Ende einen unerwarteten Twist zu verleihen, macht den Film zu einem Meisterwerk.




No Turning Back mit Tom Hardy - Foto © StudioCanal



Lea Wagner - 27. Juni 2014
ID 7925
Weitere Infos siehe auch: http://www.noturningback.de


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