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Schwules Kino

Alarm in

Utopia



Bewertung:    



Erinnert sich noch jemand an die Kontroverse um den US-amerikanischen Kriminalfilm Cruising, den Regisseur William Friedkin nach seinem Welterfolg Der Exorzist 1980 in den Schwulenclubs in New York gedreht hat, in denen die sadomasochistische Lederdress-Szene, nun ja, verkehrte? Die Jüngeren können das gerne ausführlich googlen, nur so viel sei gesagt: Friedkin wollte eigenen Angaben zufolge nicht die homosexuelle Subkultur mit dem Film diffamieren (die damals gerade intensiv um gesellschaftliche Anerkennung kämpfte), sondern die Toleranz des überwiegend heterosexuellen Publikums auf die Probe stellen. Die Proteste der Minderheit waren indes verständlich, da Friedkins Film eine spekulative, voyeuristische Außensicht einnahm. Ein großer Unterschied zu dem surreal angehauchten Psychothriller Messer im Herz des französischen Autorenfilmers Yann Gonzalez (Drehbuch: Gonzalez und Cristiano Mangione), der ansonsten deutliche Anleihen an Cruising nimmt, indem er ebenfalls von einer Mordserie innerhalb der queeren Szene einer Großstadt (Paris) erzählt. Auch spielt die Handlung etwa zu der Zeit, als Cruising gedreht wurde, also in den späten Siebzigern, als sich auch die Produktion schnell und billig inszenierter, mit blutigen Effekten sadistisch aufgemotzter Psychokrimis vorwiegend italienischer Herkunft – die so genannten „Giallos“ – auf ihrem Zenit befanden.

„Im Mittelpunkt der Handlung steht oft ein (häufig maskiert auftretender) Serienmörder, dessen Taten in der Regel im Kontext einer psychosexuellen Pathologie stehen und der unter deutlich ritualisierten oder fetischisierten Vorzeichen (z.B. schwarze Handschuhe, phallische Tatwaffen) mordet. Bei den Opfern handelt es sich häufig um attraktive junge Frauen.“ So der Eintrag bei Wikipedia, und für diesen Film trifft diese Beschreibung exakt zu – nur dass die Opfer diesmal hübsche, potente Jungs sind. Zunächst sind Szenen eines Schwulenpornos zu sehen (auf Super8!), bevor einer der jungen Darsteller spätabends eine einschlägige Disko zum Baggern und Angebaggert-Werden aufsucht. Dort entdeckt er einen mysteriösen, dunkel gekleideten und maskierten Mann, dem er sogleich folgt. Die Hoffnung auf einen erregenden SM-Abend endet jedoch in einem blutigen Massaker, denn der Maskenmann entpuppt sich als hinterhältiger und skrupelloser Mörder.

Dann rennt eine Frau durch die Nacht, die von alptraumhaften Bildern verfolgt wird, und ihre lesbische Dauerfreundin (Kate Moran) um Hilfe und Schutz ersucht. Die aber – Cutterin eben jenes Filmes, der zu sehen war – will von ihrer Geliebten nichts mehr wissen. Die so Verschmähte Anne (eine gereifte Vanessa Paradis, die ehemalige Pop-Lolita mit der Lücke zwischen den Schneidezähnen) kann sich nur mühsam mit ihrer Arbeit als Regisseurin schwuler Pornos ablenken, bei der sie dem Ensemble scharfer Jungs so richtig die Sporen geben darf. Ein Mitarbeiter, der passenderweise La Bouche genannt wird, hilft notfalls am Set, dass alles ins rechte Lot gerät. Das Ensemble aber wird von dem unbekannten Messermörder immer weiter dezimiert, und da die Polizei keinen großen Eifer an den Tag legt, macht sich Anne selber auf die Spurensuche. Die führt die bisweilen psychisch haltlose, aber geschäftstüchtige Anne bis in einem verwunschenen Wald, der Aufschluss über ein zurückliegendes Geheimnis, eine Tragödie, gibt.

Wie auch in den früheren Giallos, in denen geistig gestörte Serienmörder ihr Unheil trieben, ist die Aufklärung in Messer im Herz hanebüchen. Aber der Film imitiert nicht einfach, sondern verwendet diese Klischees parodistisch bzw. als augenzwinkernde Referenz. Er ist eine postmoderne und emanzipierte Variante der früheren, oft schlecht gespielten, schundig geschnittenen und auf grelle Schockeffekte abzielenden Psychothriller à la Italia. Die schwul-lesbischen Protagonisten in Messer im Herz sind nicht bloßes Kanonenfutter innerhalb einer kruden Krimistory, sondern selbstbewusste, individualistische Charaktere, die sich nach gefilmten Orgien auf der Sommerwiese zum Picknick versammeln und gegenseitig Gedichte vorlesen, die keine bloßen Opfer sind, sondern sich gleichermaßen vor Liebe wie vor Liebeskummer verzehren. Auch die ausgetüftelte, optische Ästhetik ist eine digital aufpolierte, die weit vom rauen Schmuddellook der Giallos oder US-Thrillern entfernt ist. Insgesamt wird nicht nur eine düstere, abgründige Stimmung zelebriert – der Showdown findet konsequenterweise im Darkroom eines Pornokinos statt –, sondern auch ein homosexuelles Utopia der Sinnenfreude und Lebenslust, in der die Abwertung und Intoleranz der (unsichtbaren) Mehrheitsgesellschaft in Person eines missgünstigen Mörders wie ein Femegericht hineinbricht.



Messer im Herz | (C) Salzgeber Verleih

Max-Peter Heyne - 17. Juli 2019
ID 11573
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