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Filmstart: 16. August 2007

Am Ende kommen Touristen (D 2007)

Drehbuch und Regie: Robert Thalheim




Viele Deutsche glauben, dass in Auschwitz nur die Überreste des ehemaligen Vernichtungslagers und ein Museum liegen. Weniger bekannt ist, dass in der Kleinstadt Auschwitz, polnisch Oswiecim - fast mittendrin - so etwas wie „normales“ Leben stattfindet. Als der junge Zivildienstleistende Sven (Alexander Fehling) nach Auschwitz kommt, soll er Jugendarbeit an der Internationalen Begegnungsstätte leisten. Er ist im angrenzenden Gästehaus untergebracht, das sonst nur noch von dem knurrigen KZ-Überlebenden Stanislaw Krzeminski (Ryszard Ronczewski) bewohnt wird. Dort wird er in einer zwiespältigen Weise mit der deutschen Vergangenheit konfrontiert. Da ist zum einen der touristische Massenbetrieb, so gibt es organisierte Tagesfahrten mit dem Reisebus von Krakau nach Auschwitz. Etliche Jugendgruppen besuchen die Begegnungsstätte, in der Erinnerungskultur, aber auch eine gewisse Betroffenheitskultur gepflegt wird. Fast direkt unter dem Wachturm befindet sich ein Obststand, und Touristen lassen sich vor der schaurigen Kulisse des Eingangtors fotografieren, als wäre es der Eiffelturm.




Museum Auschwitz: Sven (Alexander Fehling) steht vor der Vitrine mit den Koffern der Deportierten - Foto © 23/c Filmverleih



Im Umgang mit dem Überlebenden Krzeminski stellt sich für Sven die Problematik weniger oberflächlich da. Alle Versuche der Annäherung scheitern aber. Zu Svens Aufgaben gehört es, Krzeminski zu seinen Terminen zu kutschieren, sei es zur Krankengymnastik oder zum Einkaufen. Sven versteht nur sehr langsam, warum Krzeminski das Lager nie verlassen hat. Der Überlebende sieht es als seine Aufgabe an, die Erinnerung an die Massenvernichtung aufrecht zu erhalten. In der Begegnungsstätte trifft er oft auf Unverständnis bei den Jugendlichen, wenn er dort als Zeitzeuge auftritt. Sie wollen die eintätowierte Häftlingsnummer auf seinem Arm sehen. Ein Jugendlicher staunt, dass die kaum noch zu sehen ist. „Ich habe sie mir nicht erneuern lassen“, erklärt Krzeminski lakonisch.

Neben der Arbeit an der Begegnungsstätte restauriert Krzeminski Koffer. Es sind die Koffer der damaligen Lagerinsassen, die für das Museum präpariert werden. Leider sind seine Methoden der Restaurierung längst überholt. Als man ihm die Arbeit wegnehmen will, merkt Sven, dass man ihm damit seinen Lebensinhalt nehmen würde. Sven und Krzeminski erleben zum Schluss einen Bewusstseinswandel. Dieser geschieht aber unabhängig voneinander. Eine wirkliche Aussöhnung der Gegensätze ist nicht oder nur bedingt möglich.



Schwierige Annäherung: Sven (Alexander Fehling) hilft Krzeminski (Ryszard Ronczewski) bei der Kofferreparatur - Foto © 23/5 Filmverleih



Als krassen Gegenpol zur Arbeit rund um das Lager empfindet Sven das Leben in der Kleinstadt Auschwitz, die immerhin rund 40.000 Bewohner zählt. Als Deutscher wird Sven beargwöhnt. Er hat sich aber mit der polnischen Dolmetscherin Ania (Barbara Wysocka) angefreundet, die ihm auch ein kleines Zimmer in ihrer Wohnung vermietet. Nun lernt Sven auch das „normale“ Leben kennen, er geht zur Disco und besucht ein Punk-Konzert. Mit Ania macht er Ausflüge in die Umgebung. Als er mit ihr durch ein idyllisches Dorf radelt, erfährt er, dass dort das ehemalige Außenlager II gestanden hat. Die Frage, wie man an einem solchen Ort leben kann, beschäftigt ihn sehr. Als er Ania darauf anspricht, erzählt sie eigentlich nur, dass sie fort will und hofft, ein Stipendium für Brüssel zu bekommen.



Scheinbar idyllische Radtour: Sven (Alexander Fehling) und Ania (Barbara Wysocka) radeln am ehemaligen Vernichtungslager vorbei - Foto © 23/5 Filmverleih



Der Regisseur Robert Thalheim war selbst Mitte der 90er Jahre als Zivildienstleistender in Auschwitz. Das erklärt die vielen kleinen, detailgenauen Beobachtungen und Momente, die er in seinem Film festgehalten hat. Hier ist es gelungen, die Vergangenheit in die Gegenwart zu holen; hier sitzt sie einem spürbar und unentrinnbar im Nacken. „Von vorneherein war es immer wieder ein Thema, wie wir diesen Ort zeigen sollen“, erinnert sich Thalheim „wie man in Dialog mit den Bildern treten kann, die viele Zuschauer im Kopf haben, ohne sie einfach zu verdoppeln. Mir ging es darum, die Perspektive von jemandem zu illustrieren, der nicht als Besucher für einige Stunden kommt, sondern um für einige Zeit dort zu leben und zu arbeiten... Ich setze darauf, dass der Zuschauer selbst die historischen Bilder abrufen kann oder zumindest wie Sven durch die Geschichte von Krzeminski eine Ahnung von den Verbrechen der Vergangenheit dieses Ortes bekommt.“ Thalheim ist es in der Tat gelungen, den Zuschauern ohne Schreckensbilder die vergangenen Gräuel klar zu machen. Der Darsteller des Krzeminski ist der Pole Ryszard Ronczewski. Er ist Jahrgang 1930 und arbeitet seit 1956 im Fernseh-, Film- und Theatergeschäft. Bei dem Franzosen Marcel Marceau erlernte er zusätzlich die hohe Kunst der Pantomime. Deshalb gelingt es ihm wohl auch so fantastisch, durch dezenten Einsatz von Mimik und Körpersprache viel beredter zu sein, als die wortkargen Dialoge es ihm erlauben.

Der Hauptdarsteller Alexander Fehling ist ein neues und unverbrauchtes Gesicht auf der Leinwand, der Berliner ist allerdings ein versierter Theater-Profi. Am Ende kommen Touristen ist seine erste Hauptrolle in einem Kinofilm. Fehling fand es richtig, dass der Charakter des Sven offen angelegt war: „Man kann Sven manchmal nicht verstehen, nicht all seine Handlungen sind plausibel oder etwa sympathisch. Svens Blick auf sein eigenes und auf das Leben an sich hat sich am Ende verändert. Er erkennt die Widersprüche und Zwischenräume, die man zwischen Erwartungen und Unsicherheit aushalten muss... Für mich war bei Svens Entwicklung wichtig, dass er sich erst in dem Moment, als er eine persönliche Verbindung zu Auschwitz hat und eine innere Beteiligung spürt, des Themas wirklich annehmen kann. Faktenwissen nützt einem Erinnerungsprogramm nur begrenzt.“

Seine Welturaufführung konnte Am Ende kommen Touristen beim Filmfestival in Cannes in der Reihe „Un certain regard“ feiern. Produziert wurde der Film von der 23/5 Filmproduktion, die der Regisseur Hans-Christian Schmid (siehe Requiem und damaliges Interview mit ihm) ins Leben rief. Am Ende kommen Touristen ist der zweite Spielfilm dieser Firma und entstand in Koproduktion mit dem ZDF (Das kleine Fernsehspiel). Es ist auch die zweite Kinofilm-Regie von Robert Thalheim, der 2005 mit seinem Debüt-Film Netto den Förderpreis des Max-Ophüls-Festivals gewann.

Mit Am Ende kommen Touristen hat sich eine junge Riege deutscher Filmschaffender behutsam und gekonnt eines sehr schwierigen Themas angenommen. Die Tatsache, dass sie zu jung sind, um persönlich in diese Zeit verstrickt gewesen zu sein, erlaubt ihnen einen neuen und anderen Blick auf ein alte und schon häufig bearbeitete Geschichte. Hier wird nicht erklärt oder gerechtfertigt, sondern die „Widersprüche und Zwischenräume“ ausgelotet, die Alexander Fehling als Sven sehr feinfühlig dargestellt hat.


Helga Fitzner - 15. August 2007
ID 6484

Weitere Infos siehe auch:


Post an Helga Fitzner



 

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