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Dokumentarfilm

Essay

Am Anfang war das Bild - spektakulärer Fund entlarvt verstorbenes Au-pair als heimliche Meisterfotografin

Finding Vivian Maier


Bewertung:    



Auch in der nördlichen Hemisphäre gibt es Ressourcenknappheit: Zeitmangel. Wir alle sind uns unserer Sterblichkeit nur allzu schmerzhaft bewusst. Dies erklärt vielleicht die immer stärker zunehmende Sucht, jeden Moment fotografisch festzuhalten. Beschränkte man sich früher, als jedes Betätigen des Auslösers – anders als in Zeiten der DigiCams - wohlüberlegt sein wollte, noch auf das Festhalten besonderer Augenblicke, erscheint heute kein Alltagsmoment zu banal, um ihn abzulichten. Ist das Posten unseres Abendessens vielleicht nichts anderes als ein Schrei nach Aufmerksamkeit, der klägliche Versuch, in einer vermeintlich hyperkommunikativen Welt, die sich allerdings durch große Isolation auszeichnet, in den Dialog mit anderen zu treten?

Vielleicht versuchen wir auch, die wir uns zunehmend in einer virtuellen Scheinwelt bewegen, uns der Wahrhaftigkeit des Erlebten zu vergewissern, nach dem Motto – was ich festhalten kann, hat auch stattgefunden. Wir sind längst zu frenetischen, akribischen, ja pedantischen Chronisten unserer kleinen Leben geworden. Facebook hilft uns mithilfe der Timeline unsere Existenz chronologisch zu ordnen, die Dokumentation gibt uns und unserem virtuell aufgehübschten Dasein einen Sinn. Wir stricken uns das (oftmals gephotoshopte) Narrativ unseres Lebens.




© Vivian Maier/Collection John Maloof Courtesy Howard Greenberg Gallery, New York Les Douches La Galerie, Paris



Ähnliche Beweggründe hatte wohl auch das Kindermädchen Vivian Maier, als es – vergleichbar mit Jacob Riis - in den 50er und 60er Jahren durch die Straßen Chicagos und New Yorks streifte und scheinbar alltägliche Momente festhielt. Nach ihrem Tod entpuppten sich Vivians Bilder als Meisterwerke. Experten vergleichen ihre Aufnahmen mit Arbeiten von Robert Frank, Diane Arbus und Miroslav Tichý. Ruhm war Maier zu Lebzeiten jedoch nicht vergönnt. Sie starb einsam, krank und verarmt mit 83 Jahren in einem Pflegeheim in Illinois, nachdem sie sich in dem bescheidenen Apartment, das frühere Schützlinge für die mittellose, allein stehende alte Dame angemietet hatten, nicht mehr selbst versorgen konnte. Ihre letzten Lebensjahre verbrachte Maier Dosensuppe löffelnd und Selbstgespräche führend auf einer Parkbank. Ihre Besitztümer (nichts als Negative und stapelweise Zeitungsartikel) verstaute sie lange Zeit in einem angemieteten Container. Als sie sich die Miete dafür nicht mehr leisten konnte, wurde der Inhalt zwangsversteigert.

Und so kreuzt sich 2007 ihr Schicksal mit dem von John Maloof, einem jungen Historiker. Eigentlich war er für seine Dissertation auf der Suche nach historischen Aufnahmen von Chicago. Er staunt nicht schlecht, als er die bei einer Auktion entstandenen 30.000 Negative entwickelt. Schnell erkennt er, dass sich in der Dunkelkammer unter seinen Händen ein Kunstwerk entfaltet. Maloof ist derart entzückt, dass er seinen Fund mit der virtuellen Community teilt. Die Aufnahmen, die er bei Flickr einstellt, entfachen im Handumdrehen einen Begeisterungssturm. Maloof kauft weitere Negative auf (derzeit besitzt er mit ca. 150.000 den größten Anteil von Vivians Nachlass). Das Werk vervollständigt sich, Kritiker weltweit sind begeistert.

Sehr schnell kommt jedoch die Frage auf, wer hinter den Bildern steckt. Vivian Maier, die - fast zwanghaft - alles und jeden festgehalten hat, der nicht schnell genug ihrer Linse entkommen konnte, ist auf Google schlicht nicht existent. Ein Geist, N.N. Maloofs Neugier ist geweckt – er nimmt sich vor, das Leben einer Toten zu rekonstruieren und findet darin die Aufgabe seines Lebens (er selbst hat das Drehbuch zu Finding Vivian Maier geschrieben und gemeinsam mit Charlie Siskel Regie geführt).

Maiers Todesanzeige liefert ihm erste Hinweise und ist Ausgangspunkt seiner Recherche. Dies erinnert stark an Carol Morleys 2011 erschienenen Dokumentarfilm Dreams of a Life: Durch eine Pressemeldung wurde Regisseurin Morley aufmerksam auf die unglaubliche Geschichte einer jungen Frau namens Joyce Vincent, die über zwei Jahre tot in ihrem Londoner Apartment lag – ohne vermisst zu werden. Die Polizei brach erst in die Wohnung ein, als sich der Stromanbieter über nicht beglichene Rechnungen beschwert hatte. Der Fernseher lief noch, und Joyce saß vor ihm auf dem Boden, mit dem Rücken ans Sofa gelehnt (sie war gerade dabei, Weihnachtsgeschenke einzuwickeln), als sei die Zeit bei ihrem Tod vor über zwei Jahren stehen geblieben. Die sich im Kühlschrank befindenden Joghurts gaben den Ermittlern einen Hinweis auf Joyces Todesdatum.

Morley ist fassungslos darüber, dass eine junge, beruflich erfolgreiche (sie war zeitweise Bankerin), attraktive und beliebte Frau zwei Jahre tot in ihrer Wohnung liegen kann, ohne dass es jemandem auffällt. Sie wollte wissen, wer dieser Mensch war und wie er in einer derart großen Einsamkeit enden konnte, dass sein Tod unbemerkt blieb. Morley machte sich auf die Suche nach Familienangehörigen, Arbeitskollegen und Freunden, führte Interviews mit ihnen und montierte Mitschnitte daraus zu einem Dokumentarfilm. Durch die Beschreibungen, Anekdoten und Interpretationen anderer entsteht zaghaft das Bild der Verstorbenen. Dass sich viele Aussagen widersprechen, macht das Ergebnis noch viel realistischer. Es führt uns die Subjektivität von Wahrnehmung vor Augen, zeigt uns einmal mehr, dass wir alles durch eine ganz persönliche (aus Ängsten, Wünschen und Erinnerungen bestehenden) Brille wahrnehmen. Einer ähnlichen Technik bedient sich Eva Menasse in ihrem Roman Quasikristalle – sie zeichnet mithilfe der Beschreibungen anderer ein Porträt von einer Frau, das sich durch die diversen Rollen, die diese Frau im Leben der ihr nahe stehenden Personen einnimmt, auszeichnet. Auch dieses enthält viele Widersprüche und Ungereimtheiten. Oft entsteht beim Leser der Eindruck, unterschiedliche Figuren würden charakterisiert.




© Vivian Maier/Collection John Maloof Courtesy Howard Greenberg Gallery, New York Les Douches La Galerie, Paris



Maloof geht nach dem gleichen Prinzip vor. Er macht die wenigen Freunde ausfindig, die Maier hatte und die noch am Leben sind, und er interviewt frühere Arbeitgeber: Eltern, die sie als Au-pair beschäftigten und deren, mittlerweile selbst längst erwachsene, Kinder (die Personen, die mit Maier die meiste Zeit verbracht haben). Es entsteht das Bild einer zutiefst einsamen, männerhassenden, oftmals grausamen, immerzu bizarren Kinderfrau, der nichts ferner lag, als mit Kindern zu spielen. Maier, Tochter einer Französin und eines Österreichers, wuchs in einem Dorf in den französischen Alpen auf, bevor sie mit 25 endgültig nach New York zog. Anfänglich verdingte sie sich als Näherin, bevor sie sich entschloss, Kinderfrau zu werden, „um mehr Zeit draußen verbringen zu können“. Sie war keine Naturliebhaberin, vielmehr ging es ihr darum, durch die Straßen zu ziehen und Außergewöhnliches, Witziges und Groteskes mit ihrer Kamera festzuhalten. Ihre eingeschüchterten Schützlinge hatte sie stets im Schlepptau. Sie erinnern sich noch heute an den Besuch eines Schlachthofs, auf dem Vivian – zum Entsetzen der Kinder – seelenruhig die geschlachteten Kälber fotografierte. Ein andermal kamen sie und ihre Kinderschar an einem schweren Unfall vorbei – ein Junge lag leblos auf der Straße, nachdem er angefahren worden war (Susan Sontag zufolge zeichnet Fotografie das Moment der „Anti-Intervention“ aus). Anstatt erste Hilfe zu leisten, griff Maier nach ihrer Kamera. Ein anderer Interviewpartner erinnert sich daran, wie Maier stundenlang den Inhalt von Mülleimern fotografierte. Sie muss ein schlimmer Messy gewesen sein – in ihrem Zimmer stapelte sie derart viele Zeitungen, dass sich der Dielenboden bog. Ein schweres Vorhängeschloss verwehrte Neugierigen Zutritt zu ihrem Bereich. Man stelle sich das Ausmaß der Tragödie für sie vor, als ihre Besitztümer (noch zu Lebzeiten) zwangsversteigert wurden.

Maier eckte an. Sie wurde des Öfteren gefeuert, was ihr nicht viel ausgemacht zu haben scheint. Maier war ein politisch denkender Mensch. Filmaufnahmen zeigen, wie sie Passanten nach ihrer Meinung zu Watergate fragte. Als ihr durch eine Erbschaft etwas Geld zur Verfügung stand, ließ sie alles stehen und liegen und machte eine einjährige Weltreise. Freunde nennen ihre Unverfrorenheit und ihren militärisch anmutenden Gang als die sie am zutreffendsten charakterisierenden Merkmale.

Am meisten sagt das Werk über die Künstlerin aus. Bei aller Barschheit entlarven Maiers Aufnahmen sie als eine sensible, zutiefst neugierige Künstlerin mit einem treffsicheren Blick für das Skurrile. Viele ihrer Bilder haben Zwischenmenschliches als Motiv – wir sehen ältere, im Verborgenen Händchen haltende Paare, streitende Liebhaber und Mütter mit Kindern. Viele der fast ausnahmslos auf der Straße aufgenommenen Szenen zeigen jedoch Menschen, ganz allein mit sich und der überwältigenden Stadt. Winzig und verloren wirkende Menschen neben gigantesken, unmenschlich anmutenden Gebäuden, Menschen vor Schaufenstern, Menschen, die entrüstet, schockiert, ängstlich, konsterniert oder resigniert in Maiers Linse blicken. Gern spielte Maier auch mit Proportionen. Sie wurde nicht müde, dünne Hühnerschenkel neben breiten Stampfern zu fotografieren, Riesen neben Zwergen. Dies hat oft etwas Komisches, bisweilen Groteskes – ihr Auge wertet allerdings nicht, amüsiert sich nur im Stillen.




© Vivian Maier/Collection John Maloof Courtesy Howard Greenberg Gallery, New York Les Douches La Galerie, Paris



Maiers Fotografien enthalten viele zutiefst intime Momente. Ganz sicher hat sie ihre Objekte vorher nicht um Erlaubnis gefragt – die Schnappschüssen innewohnende Spontaneität macht diese ja gerade zu ehrlichen, oft witzigen Abbildern der Realität. Susan Sontag verglich Kameras mit Waffen. Jedes Blitzauslösen hat etwas Brutales – sei es, weil es die Stille gewaltsam wie ein Messer durchschneidet, sei es, weil es dem Objekt die bereits erfolgte Vergangenheit des soeben erlebten Moments bewusst macht. Das Klicken ist die akustische Vergegenwärtigung des Verrinnens von Zeit.

Ähnlich privat wie für den Abgebildeten ist der Moment des Fotografierens für den Künstler. Schließlich offenbart er seine Art, die Welt zu lesen – so als würde er ein Gedicht schreiben. Schnell stellt sich dem Zuschauer die Frage, ob Maloofs fast schon gewaltsame Zu-Tage-Beförderung von Maiers Kunstwerken (ganz zu schweigen von dem Profit, den er selbst daraus geschlagen hat), rechtmäßig ist. Man könnte aber auch die Frage stellen, ob der Betrachter wirklich den Urheber kennen muss, um die Kunst genießen zu können, oder ob man nicht eher das Werk losgelöst von jedem Kontext – Urheberschaft eingeschlossen - betrachten sollte, so, wie es der Dekonstruktivismus im Umgang mit Texten propagiert.


Lea Wagner - 23. Juli 2014
ID 7972
Weitere Infos siehe auch: http://www.vivianmaier.com


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