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BERLINALE

WETTBEWERB

Inhebbek Hedi


Bewertung:    



Inhebbek Hedi ist Tunesiens Wettbewerbsbeitrag bei der Berlinale 2016. Hedi (Majd Mastoura) muss heiraten. Nicht weil er muss, nein, weil er alt genug ist, 25, und seine Mutter ihm ein braves Mädel ausgesucht hat. Das Haus ist halbwegs fertig, die Familie beziehungsweise die Mutter, die alles alleine managt, liegen in den letzten Zügen der Hochzeitsvorbereitungen. Alles wird gut und schön, alle werden zufrieden sein, vor allem sie selbst. Die Verlobten kennen sich kaum, bei den heimlichen Rendezvous im Auto reden sie ein wenig, sonst nichts. Ansonsten ist das Handy das einzige Kontaktmittel, SMS. Aber mehr muss ja nicht, bald ist man verheiratet.

Doch dann wird Hedi, Autovertreter bei Peugeot, Stirnglatze, Segelohren, zwei Tage vor seiner Hochzeit von seinem Chef noch auf Dienstreise nach Mahida geschickt. Ihm ist er genau so ausgeliefert wie seiner Mutter. Also fügt er sich und fährt los. Von einer Tristesse in andere. Lethargisch. Von Zuhause, wo die Mutter ihn nur runter macht in deprimierenden Hotels, in denen nach den Anschlägen nichts mehr los ist.

Ahmed, Hedis großer Bruder, ist aus Frankreich gekommen, zwar ohne Frau und Kind, aber immerhin skypt er sonst täglich fünfmal mit der Mutter, wenn er schon nicht mehr in Tunesien wohnt. Jetzt aber wird Ahmed, wo er da ist, in die Hochzeitsvorbereitungen mit eingespannt – und er tut notgedrungen sein Bestes.

Einzig und allein das Zeichnen von Comics scheint Hedi wirklich Freude zu bereiten. Ständig kritzelt er etwas auf seinen Arbeitsblock.

So tingelt Hedi lustlos und erfolglos zwischen seiner Heimatstadt und dem Ferienort Mahdia hin und her, wo er stumm Visitenkarten unter staubige Hoftore durchschiebt oder, wenn zwei Hunde auf dem Hof sind, umdreht und wieder ins Auto steigt. Er ist schüchtern, feige, hilflos, still.

Im tristen Hotel lernt er Rim kennen (Rym Ben Messaoud). Als Song-and-Dance-Girl tritt sie in Touristenhotels auf. Sie ist frei, frisch, ungezwungen. Er freundet sich mit ihr an. Sie küssen sich. Sie schlafen miteinander. Schnell, liebevoll und leicht ist plötzlich alles, auch wenn man über den Balkon klettern muss, weil man ja nicht gemeinsam das Hotel betreten kann. Moralische Schranken überall in der arabischen Welt, auch im freizügigeren Tunesien.

Bald darauf gesteht er ihr, dass er versprochen ist. Sie ist not amused. Es folgt ein wenig Hin und Her, Reueszenen mit laufendem Motor, jähe Entschlossenheit, Sex, ein Plan zu seiner Flucht nach Montpellier, eine Existenz als Comiczeichner dort, mit Rim leben. Hedi ist plötzlich wild entschlossen.

Die Hotelhallen sind leer. Rim geht aus arbeitstechnischen Gründen weg, sie sieht keine Zukunft hier. Hedis Zukunft als Ehemann und Autovertreter kommt auch nicht als Wolke Sieben daher. Dort wird es schön sein, so wie mit Rim am Strand. Es ist so unbeschwert. Sie sitzen nebeneinander, schauen hinaus auf Meer. Erinnerungen kommen hoch. Es ist noch etwas da aus dieser Zeit des Aufbruchs.

„Weißt du noch, der 14.1. warst du dabei?“ fragt Hedi sie. „Wir waren drei Tage zu Hause.“ "Es war plötzlich alles anders, selbst als wir in die Firma kamen. Es lag eine seltsame Atmosphäre in der Luft. Als ob sich alle umeinander kümmern würden."

Rim war damals, in den Tagen des "arabischen Frühlings", auf Djerba und hat die Demos nicht mitbekommen. Dennoch zehren beide davon. Hedi lächelt sogar einmal. Erinnerungen an vor fünf Jahren. Wie es war. Wie es nicht mehr ist. Die Euphorie des arabischen Frühlings ist vorbei.

Durch die Liebschaft mit Rim will Hedi nicht mehr heiraten. Er will mit ihr nach Frankreich gehen und ein neues Leben anfangen. Tun, was er will. Doch was ist das? Seine Verlobte schnauzt er an: „Was willst du mit deinem Leben anfangen?" Fast aggressiv. Sie weiß es nicht, „heiraten, Kinder“, sagt sie. „Aber“, insistiert er laut: „Etwas nur für dich?“ Sie weiß es nicht, fängt fast an zu weinen. In Wirklichkeit ist es aber seine Frage.

Erst ist er wild entschlossen. Alles anders machen. Als Zeichner eine Karriere in Frankreich. Mit Rim leben. Doch dann kommen wieder Zweifel hoch. Als Mutter und Bruder ihn suchen und finden, nehmen sie ihn einfach mit nach Hause, wie ein weggelaufenes Kind. „Bleiben oder weggehen“, diese Frage stellt sich für jeden Menschen im Leben, nicht nur in Tunesien.

*

Mohamed Ben Attia, geboren 1975 in Tunis, stellt in seinem Film, der auch die erste tunesisch-belgisch-französische Koproduktion ist, die Thematik der „tunesischen Revolution“ (Aufbruch und das Zurückfallen in die traditionellen Ordnung) exemplarisch oben drüber und beschreibt in seinem ersten Langfilm, wie bleischwer Althergebrachtes wiegt und wie sehr jede/r Einzelne damit zu tun hat.

Zumindest die Koproduktion wird als Zeichen eines Aufbruchs, eines Öffnens Tunesien gesehen, dem Land, auf dem die Hoffnungen der Welt ruhten, der arabische Raum möge zu retten sein.

Hedi jedoch fügt sich in sein Schicksal. Am Flughafen sagt er Rim, dass er nicht mitkommt. Rim, enttäuscht, mit Tränen in den Augen, wendet sich schnell ab und steigt in den Flieger nach Frankreich.

Ein bitteres Ende für alle Beteiligten.

Frustriert verlasse ich den Kinosaal.



Majd Mastoura und Rym Ben Messaoud in Inhebbek Hedi auf der BERLINALE 2016 | © Mohamed Ben Attia

Hilde Meier - 18. Februar 2016
ID 9151
Weitere Infos siehe auch: https://www.berlinale.de


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