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Feature



Lietzensee - Foto (C) Arnd Moritz

Licht im Schatten eines Lebens


Eine Idylle in Berlin. Das Westufer des Lietzensees. In dessen Stille vermengen sich Laute von Blesshühnern mit Kinderstimmen.



Lietzensee - Foto (C) Arnd Moritz

Hier reihen sich Häuser aneinander, in denen hilflose alte und siechende Menschen ihre Refugien finden. Viele von ihnen sind ohne Angehörige, ohne Freunde. Nur wenige finden Nähe durch soziale Engagements. Für wenige Stunden im Monat. Einmal die Woche besucht Astrid E. einen von ihnen, den 'einsamen Alten von Zimmer 109'.

Heute begleitet Pfarrer P. von der evangelischen Gemeinde am Lietzensee Astrid durch den Flur. Ihr Flüstern und ihre Schritte verlieren sich in den langen Fluren. Der Pfarrer kennt die Schicksale der Verlassenen.

Astrid: Ihm ist nicht mehr zu helfen. Er hat sich aufgegeben. Ich spreche mit ihm so, als ob ich Antworten erhielte. Aber er liegt nur da und schaut zur Decke. Regungslos. Seit Jahren.

Pfarrer: Damals sagte ich zu Astrid, sie solle schauen, ob sie etwas bewirken könne.

Astrid: Wenn er nicht schweigt, stöhnt er vor sich hin. Wenn die Tür sich öffnet, ruft er kraftlos monoton 'bitte, lieber Tod, hole mich; bitte, lieber Tod, hole mich!' Vier, fünf Mal. Dann schweigt er. Von der normalen Nahrungsration nimmt er jedesmal nur wenige Löffel. Er ist ein Knochengestell. Ein Wunder, dass er noch lebt.


Foto (C) Arnd Moritz

Ein Flurfenster ist weit geöffnet. Wasserwellen und vereinzelte Blesshühner untermalen mit ihren Lauten vom See her Astrids Worte.

Pfarrer: Er hatte nie die Fähigkeit, sich durchzusetzen. Seine Familie tyrannisierte ihn. Sein älterer Bruder, dem er als Kind vertraute, schlug ihn aus nichtigen Anlässen auf den Kopf. Das Jugendamt wurde zu spät aufmerksam. Man diagnostizierte eine leichte Hirnschädigung durch unbehandelte Folgen von Gewalteinwirkung. Nach der Volksschule in den 60ern verhalf ihm ein katholischer Kollege zu einer Arbeit in einem Möbellager nahe Paderborn. Er blieb dort zehn Jahre. Dann sprach er darüber, wie sehr er gelitten hatte. Aufgrund seiner Behinderung war er gehänselt, geschlagen und zum Laufburschen gemacht worden. Jahrelang war das so gegangen. Ich hörte von ihm durch den katholischen Kollegen. Unsere Gemeinde tat alles, um ihm ein Zuhause zu geben. Wir gaben ihm Arbeit als Gemeindehelfer. Er legte die Gesangbücher aus, betreute die Kollekte. Es war wunderbar, von ihm später zu hören, dass seine Zeit am See die schönste seines Lebens gewesen sei. Irgendwann wurde er schwächer. Seit gut drei Jahren liegt er und bittet den Tod, ihn zu holen. Er hat nie einen Menschen gehabt, der ihm die Nähe gab, die jeder doch so sehr braucht. Jetzt kümmert sich Astrid um ihn und sonntags schließen wir ihn in unsere Gebete mit ein.

Astrid: Viele haben nicht 'das ganz kleine Glück' einer persönlichen Betreuung. Um sie kümmern sich 'nur' Pflegekräfte. Ich gehe jetzt gleich rein zu ihm. Ich hatte ihn gefragt, was er haben wolle. Nach Jahren kam erstmals eine Antwort: Ho-hurt. Und jetzt bringe ich ihm seinen Joghurt.

Während sich die Tür hinter Astrid und dem Pfarrer schließt, verebben die Geräusche der Schritte von Besuchern, das ferne Piepsen der Enten und das Schmatzen der Wellen.

Es ist still auf dem Flur.

Astrid:Abends ist er eingeschlafen. Mit einem Lächeln auf seinem Gesicht. Zum Sozialbegräbnis bin ich wegen des BVG Streikes zu spät gekommen. Ein Grabpfleger fuhr mich mit dem Elektrowagen zur Urnenstätte. Aber die Beerdigung war vorbei. Ich legte meinen Strauß Blumen auf das Erdloch. Er war einsam, aber er wurde nicht vergessen. Er, der 'der einsame Alte von Zimmer 109' war.



Foto (C) Arnd Moritz


Arnd Moritz - red. 5. Juni 2010
ID 00000004661

Weitere Infos siehe auch: http://www.arndmoritz.de





 

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