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Kommentar

In der vergangenen Spielzeit wurden an Münchner Theatern einige Stücke auf die Bühne gebracht , die moderne Beziehungen thematisierten. Junge Autoren gingen auf ihre Weise an das Motiv heran. „Gier“ von Sarah Kane, „Zärtlich“ von Abi Morgan, „Die Frau von früher“ von Roland Schimmelpfennig, Edna O`Brien‘s „Ein Triptychon“, „ Chatroon“ von Enda Walsh und „Geschichten vom alltäglichen Wahnsinn“ von Petr Zelenka waren die Wiedergabe von Realitäten und von Befindlichkeiten, mehr oder weniger künstlerisch gebrochen. Es gibt eine hervorstechende Gemeinsamkeit: Am Ende steht immer die Einsamkeit.

Zeitenwende oder der im Käfig der Reflektion gefangene Geist

Die Zivilisation löst in verstärktem Maße die traditionellen Kulturen ab. Dieser Vorgang ist weltweit zu bemerken und seine Folgen ziehen sich durch alle Bereiche des menschlichen Lebens. Kaum jemand oder etwas auf diesem Globus ist davon ausgenommen.
Der Brockhaus erklärt den Begriff Zivilisation mit „technische Kultur“; nach Oswald Spengler befinden sich alternde Kulturen in ihrem Endzustand. Derzeit findet sowohl als auch statt: Die großen Kulturen der letzten Vergangenheit befinden sich weitgehend in einem Zustand der Auflösung, des Chaos und des Werteverfalls. Ihre Inhalte dienen als Kopiervorlagen und Versatzstücke. Der Mensch, seine ideellen Vorstellungen, sein Gemeinwesen und die Umwelt befinden sich im Umbruch, jedoch vielfach ohne Richtung und Ziel. Orientierungslosigkeit heißt hier das passende Schlagwort. Aufgefangen und verdeckt wird dieses Chaos durch eine strenge vordergründige Reglementierung des Alltags. Die Technik rückt verstärkt in den Mittelpunkt und setzt die Prämissen. Der Faktor Funktionalität dominiert die Beweggründe des Systems und der Mensch wird untergeordnet. Die völlige Reduktion des Lebendigen auf dessen biologische Vorgänge wird nicht allzu lange auf sich warten lassen; das heißt, sie hat bereits ihre Nischen, in denen die Forschung zum Zwecke der Forschung forscht. Doch was wäre die Technik ohne die Ökonomie und so ersetzt die Marketingstrategie das Glaubensbekenntnis früherer Zeit. Der Markt bestimmt durch Angebot und Nachfrage scheinbar das Wohl der Menschheit. Technik und Ökonomie bauen sich Tempel, in denen sie sich huldigen lassen. Sie sind die Götter der Zivilisation.

Der Mensch hat die vormals weitgehend natürliche Umgebung bereits vor geraumer Zeit verlassen, er bewegt sich im Umfeld zwischen Maschine, Beton und Glasfassade. Dies hat einen ‚neuen’ Menschen hervorgebracht. Die starre äußere Lebensumgebung lässt keinen natürlichen Fortschritt zu. Eine Folge davon ist die Selbstentfremdung. Mit ihr gehen das Gefühl für die anderen Menschen, für den Ort und die Realität verloren – der natürliche Instinkt wird außer Kraft gesetzt. Damit könnte unter anderem der Weg für den Androiden frei werden.

Die moderne Architektur und das zeitgemäße Design setzen vor allem auf die glatte Fläche. Sie will Großzügigkeit im Raum und über das verwendete Material Luxus und Reichtum vorstellen. Die Glasfassaden, Betonwände, der Marmor und das blanke Holz spiegeln die Vorübergehenden. Wo immer sich der Mensch heute bewegt, befindet er sich zwischen glatten Flächen, erfährt er eine vielfache Reflektion seines Spiegelbildes in jedem Augenblick. Gehen wir davon aus, dass das Unbewusste alle Eindrücke in einem Moment wahrnimmt und über die Filterfunktion der Gewohnheit einen Teil davon ans Bewusstsein weitergibt, so befindet sich der einzelne damit ständig in Eigenreflektion. Damit ist das Signal gesetzt für: Ich bin Mittelpunkt der Welt. Ich bin die „Ich-Welt“, in der der Mensch Projektor und Projektionsfläche gleichzeitig ist und sich zudem in einem Spiegelkabinett befindet; im Spiegelkabinett der Wahrnehmungen, Vorstellungen und Einbildungen, nicht zuletzt der Eitelkeiten. Damit ist eine Irritierung des natürlichen Bewusstseins eingeleitet, deren Auswirkungen unabsehbar sind. Bleibt aber das Bewusstsein noch entscheidungsfähig, wenn es permanent im Brennpunkt der Paradoxien steht? Die fortschreitende Mechanisierung, Reglementierung der Umwelt erlauben es dem Menschen, sich maschinengleich in definierten Funktionen zu bewegen und damit als nützliches Mitglied der Gemeinschaft zu erscheinen, egal wie sein Bewusstseinszustand auch sein mag. Im Gegenteil, der Wert des Individuums wird heute mehr denn je daran gemessen, wie funktional einsetzbar er ist. Das heißt, wie weit er bereits seinen Verstand, sein Funktionswissen, über das umfassende Bewusstsein stellen konnte. Und die Spiegel seiner Umgebung werfen ihm dieses Bild als verbindlich und richtig an sein umfassendes Bewusstsein zurück. Ob hier Evolution oder Degeneration stattfindet, mag eine Frage des Standpunktes sein.

Der Unterschied zum Menschen in der traditionellen Kultur, die das Verwobensein der Schicksale in einer Gemeinschaft bedeutete, in der der Einzelne in seiner Unvollkommenheit Teil des Ganzen war, ist der neue Mensch in erster Linie Ich. Er ist Welt für sich und nimmt als solche den Begriff „vollkommen“ in Anspruch.
Bedeutet dies eine Umkehr – Perversion der Natur? Als Inbegriff der künstlichen Welt?
Immerhin findet vielfach eine Wandlung der Gegebenheiten statt. Beispielsweise:Umkehr der Wertvorstellungen. Die äußere Ästhetik ersetzt das Ideal der inneren Schönheit von ehedem, wobei das Innere heute vielfach leer bleibt und die menschlichen Eigenschaften, die genetische Veranlagung sich unter dem Decknamen Individualität außen in der Welt widerspiegeln. Die Aufhebung der Privatsphäre des Menschen ist eine der Folgen davon. Der Distanzlosigkeit entspringt das neue künstliche Lebensgefühl von Zeitgemeinschaft.
Erfolgte die Bildung einer Individualität in der Vergangenheit aus dem Zusammenwirken von Veranlagung, Bildung, erworbenem Anstand, übernommenen Werten und entwickelter Moral, so reicht heute für die Präsentation einer Individualität das Ausleben dessen, wie man gerade ist, also die Anwesenheit von Befindlichkeit aus. Das gnadenlose Hervorkehren dieses modernen Ichs wird zum Modell der Selbstverwirklichung stilisiert und soll zur Nachahmung anregen.

Die Frage an die Wissenschaft müsste lauten: Sind Spiegelbilder Schimären der Sinneswahrnehmung oder haben sie, um überhaupt von den Sinnen wahrgenommen werden zu können, auch Materie? Sind also eigenständig. Das würde bedeuten, dass sich die Spiegelbilder verselbständigen können, und, treffen sie auf andere Spiegelbilder, eine Eigendynamik entwickeln. Bleiben die Abbildungen auf den Spiegeln haften? – und vermischen sich? Was bleibt dann noch vom Ich im Spiegel, nachdem bereits hunderte andere davor das Glas benutzten?

Wenn dann die wahne Vorstellung des Ich sich spiegelt und weitere wahne Vorstellungen entwirft und reflektiert, dann ist der Mensch verrückt – aus der Realität herausgenommen, in eine neue Welt versetzt. Und mit ihm sind es alle Menschen, die diesen Spiegel benutzen, gewollt oder ungewollt von ihm reflektiert werden. Sippenbildung innerhalb bestimmter Räume könnte eine Folge sein, es bilden sich menschliche Inseln der gleichen Anschauung und Kommunikation.
Man sieht im Spiegel nur, was man sehen will. Es kommt der Wiedergabe der Wünsche gleich. Was sich vordergründig als Paradies auf Erden ausnimmt, wird letztlich in eine Sackgasse führen, denn meist sind es die Unwägbarkeiten und die Überraschungen, die das Leben spannend machen und zu Evolutionssprüngen, auch im einzelnen Leben, führen. Durch das Wunschprogramm kann das weitgehend zurückgedrängt werden bzw. der Zufallsmoment sich auf die Querschläger- und Restprojektionen anderer beschränken.

Die menschlichen Beziehungen in der Zivilisation gestalten sich schwierig. Der Wegfall des natürlichen Lebensmusters als ein Geflecht von Bezügen der unterschiedlichsten Art, welche eine umfassende Symbiose nach dem Abbild der Natur bildeten, hinterlässt ein Loch, welches das Ich nun alleine zu füllen hat. Mit Hilfe der Hypertrophie ist das zu bewältigen. Das Ich bläst sich auf zur Tautologie: Ich bin ich. Und wer bist du? Ich bin ich. Das Ich als Einzelgröße schließt kein Wir ein, mehr noch, es lässt noch nicht einmal ein Du zu. Es ist nicht beziehungsfähig. Um zu einem Wir zu kommen, braucht es eine übergeordnete Idee, zugunsten der ein Teil des eigenen Egos zurückgestellt werden müßte. Damit wäre es allerdings nicht mehr perfekt und würde der Ausmusterung anheim fallen. Wie wäre in der Zivilisation mit diesem sogenannten Ausschuss zu verfahren? Die Antwort kann nur lauten: Ich bin ich, und sie entspringt dem stärksten natürlichen Trieb, dem Überlebenstrieb.

Doch bilden sich Lücken, Zwischenräume, Freiräume des Individuums, und diese sind der ideale Nistplatz für Träume, Sehnsüchte und vor allem für menschliche Schwächen. Die Wiedergabe dieser menschlichen Schwächen ist, neben den Berichten aus dem Alltag, das Hauptthema der neuen Kunst. Was mir Spiegel ist ...

Früher fand eine Brechung der Realität in der Kunst statt. Das Kunstwerk war stets auf der Suche nach dem Wesen der Dinge hinter der Erscheinung, um es ans Licht zu bringen. Heute wird die über die Spiegel gebrochene Realtiät, beispielsweise eine Verrücktheit, also die Erscheinung selbst als Kunstwerk wiedergegeben. Oder das Ausleben eines Ichs wird zum Kunstvorgang erklärt. Selbst das Zitieren von Natur in dieser Künstlichkeit ist abstrakt, ist reiner Gedanke und bar sinnlicher Erfahrung. Bei der Darstellung von Charakteren führt immer die Psychologie das Wort. Was sich früher als Persönlichkeit aus seinen Aussagen, seiner Geschichte und seinen Bezugsgeschichten im Betrachter hergestellt hat, wird heute anhand seiner Befindlichkeiten definiert. Dies geschieht unter Zuhilfenahme aller Erkenntnisse der Menschheit, der Volksmund und seine Weisheiten muss herhalten, große philosophische Aussagen werden bemüht, um dem Zivilisations-Ich Farbe, Kraft und Größe zu verschaffen.

Zeichnete sich Kunst in einer Kultur vor allem auch durch die Verwendung von symbolischen Bildern aus, kulturspezifisch verbindlichen Bildern, so ist es gerade das Fehlen solcher Bilder, was die neue Kunst auszeichnet. In Zeiten, in denen Kulturübergreifendes gefragt ist, geht es um globales Allgemeinverständnis. Das Werk muss einfach übersetzbar, beliebig transformierbar sein, um Wert, Markt-Wert, zugesprochen zu bekommen.

Die Aufhebung beziehungsweise der Ausverkauf der Kulturen, ihrer Inhalte und ihrer Kunst in der Zivilisation, wäre der stattfindende Vorgang zu nennen. Die Ergebnisse des sogenannten Kunstschaffensvorgangs sind keine Hervorbringungen mehr, vielmehr sind es Wiedergaben. Diese Reflexionen sind oftmals auch bar jeder persönlichen Künstlerhandschrift, beliebig, und nur das Bestehen auf dem Urheberrecht und die Gunst der ersten Stunde, gehören dem Schaffenden. Danach bestimmen die kreativen und die reaktiven Kräfte durch Nachahmung beziehungsweise Außerkraftsetzung über die Halbwertzeit des Werkes.

Dies hat einen Wandel zur Folge: War die Kunst einst Spiegel der Gesellschaft, Spiegel des Wir einer traditionellen natürlichen Gemeinschaft, ist sie nun bereits Spiegel der Ich-Welten. Das betrifft sowohl die Künstler wie auch das von ihnen Thematisierte, das stets in eine Nabelschau mündet.
Bleibt die Frage: Wie spannend ist ein Ich als Ich auf die Dauer? Führt man nun für die verschiedenen Standpunkte des Ich verschiedene Personen ein, so erreicht man immerhin einen Dialog, den Monolog einer multiplen Persönlichkeit. In den dargestellten Begegnungen steht eine Reihe von Ich-Welten nebeneinander, die lediglich im Konflikt Bezugspunkte zueinander aufbauen können. Die Momente sind kurz, münden stets in Rückzug und Flucht. Die - wie auch immer geartete - Erfahrungslosigkeit dominiert das Wiedergegebene und die Psychosektion soll Charakter schaffen und über die Abwesenheit von tiefgreifender Geschichte hinweg tragen.

Doch: Nur das Wir hat außergewöhnliche Geschichten, schreibt Geschichte, kennt das Abenteuer und die Überraschung. Es fordert dafür aber die bedingungslose Liebe, nicht mehr und nicht weniger. Der Preis, der zu gewinnen ist: ein erfülltes Leben mit allen Möglichkeiten.

Zudem, nur das Wir bot dem Ich eine Entwicklungsmöglichkeit. Der Mensch reflektierte den Menschen und über die Brechung durch die unterschiedlichsten Wesen, mit all ihren Tiefen und Untiefen, konnte der Mensch sich selbst erfahren und erweitern. Durch gegenseitige Anregung, Beeindruckung wurden immer neue Qualitäten geschaffen, die, wie der Mensch selbst, rund und vieldimensional waren.
Der Blick auf eine kulturell vielfältige Vergangenheit mit einem enormen Schatz an Kunstwerken von zeitloser Aussage und Gültigkeit bestätigt dies. Trotzdem ist davon auszugehen: Jeglicher Beschreibung der Welt liegt ein Irrtum zugrunde, ob dies nun ein übergeordnet gedachter oder ein platt reflektierter ist, bleibt völlig unerheblich.


C.M.Meier / 3. Januar 2006
ID 00000002199


Siehe auch:
http://www.c-m-meier.de/




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