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Waldschlößchenbrücke


"Mirsinmir."


Es ist Sonnabendmittag. Brückentags–Sonnabendmittag.

Leicht ermattet von der Beobachtung der Eröffnungsfeierlichkeiten eines in Dresden recht populären Bauwerks suche ich Schatten, Labsal und Ruhe. Die ortsansässige Brauereiwirtschaft bietet zwar in ihrem Garten Herrn Tillich auf, besitzt jedoch im Inneren auch einen weitläufigen Gastraum mit einigen der von mir geschätzten Hochtische. Am letzten freien davon lasse ich mich nieder, auch wenn der ein wenig zu groß für mich Einzelnen ist.

Zur Strafe werde ich von der wuseligen Kellnerschaft ignoriert, darf dann aber doch irgendwann eine Bestellung loswerden. Weißbier und Weißwürstl, irgendwie ist mir heute bayerisch zumute.

Es ist viel los hier, zudem liegt mein Platz an der Hauptmagistrale zwischen Garten und WC. Auch Herr Tillich kommt vorbei, samt Personenschutz, der allerdings diskret am Kopf der Treppe stehen bleibt, vermutlich nicht ahnend, dass jene unten in ein weit verschlungenes Gangsystem mündet. Ich konstatiere eine Sicherheitslücke, bin mir aber sicher, dass Herrn Tillich keiner was tun wird.

*

Eine vierköpfige Seniorengruppe betritt das Lokal, schaut sich unsicher um. Es ist wirklich sehr voll hier. Einladend breite ich die Arme aus und deute auf meinen großen Hochtisch, der noch vier Plätze zu bieten hat. Ich komme aus dem Osten, da macht man das so. Zögernd treten sie näher, aber nach meiner Bemerkung, dass die hohen Stühle gut für den Rücken wären, nehmen sie Platz und bestaunen das eben für mich erscheinende Weißbier. Ich schiebe einen Brüderle-Witz hinterher und schmunzele, dass man von hier oben viel besser der Kellnerin ins Décolleté schauen könne, und schon ist das Eis gebrochen. Sogar die Dame in der Runde lacht.

Ich habe es mit dem klassischen Dresdner Bildungsbürgertum zu tun. Alle vier Mitte der Siebzig, ein Paar und zwei befreundete Herren, die gemeinsam ihren wohlverdienten Ruhestand genießen, wie es so schön heißt. Sie sind rüstig genug, um noch bei allem dabei zu sein, was vom weitläufigen Begriff Kultur abgedeckt wird. Den HSA [= Hochschulabsolvent; Anm. d. Red.], wie wir früher sagten, setze ich als selbstverständlich voraus. Ein Glücksfall für mich. Schon immer wollte ich eine ganz bestimmte Frage loswerden.

Aber erstmal üben wir uns in Smalltalk. Ich mache auf idealen Schwiegersohn, zelebriere gern ein Weißwurst-Schauessen, als diese serviert werden, und berichte kundig von den verschiedenen Möglichkeiten, jene stilgerecht zu verzehren. Selbst das Zuzeln gelingt mir heute. Wohlfühlatmosphäre.

Das Gespräch der Vier handelt von Dingen, bei denen auch ich mitreden kann. Gerne helfe ich mit dem Namen des ehemaligen Landeskonservators aus, als sie nicht drauf kommen, und bestätige, jenes wunderbare Buch von Matthias Lerm über das alte Dresden auch zu kennen, wenn auch nicht zu besitzen. Ich lerne auch was dazu, nämlich, dass die Rietschel-Büste vor der Sekundogenitur auf der Brühlschen Terrasse falsch ausgerichtet sei seit der Sanierung. Aha.

Ich fühl' mich wohl. Wir fühlen uns wohl. Einigermaßen geschickt weiche ich den Fragen zur Herkunft meiner Kenntnisse und zu meiner Profession damit aus, dass man sowas als Dresdner wohl wisse und bin mir sicher, dass, falls das Paar eine Tochter haben würde, die wieder auf dem Heiratsmarkt wäre, ich die Bilder schon längst gesehen hätte. Und die der Enkel sowieso.

„So ein netter junger Mann, was der sich alles merken kann“, wie einmal ein großer Sprachkünstler sang. Dresdner unter sich, es passt keine Eierschecke zwischen uns. Gerne erwähne ich auf Nachfrage meine oft hier verbrachte Kindheit, mein Studium an der hiesigen TU und meine glückliche Rückkehr vor über zwölf Jahren.

Die Wurst ist gezuzelt, das Bier fast ausgetrunken, gezahlt hab' ich auch, da trau' ich mich doch: „Darf ich Ihnen mal eine Frage stellen?“ Gespanntes Nicken.

Ich mache es kurz: Ich frag' sie einfach, ob das, was da nun heute gefeiert würde, das alles wirklich wert sei, den Ärger, die Blamage, das ganze Geld. Und oute mich im nächsten Halbsatz als bekennenden Brückengegner.



Die Waldschlößchenbrücke am Eröffnungstag - 24. August 2013 - Brückenfest, Dresden | Foto (C) Dr. Bernd Gross - Bildquelle: Wikipedia



Stille. Totenstille. Auch am Nebentisch werden die Gespräch leiser, glaube ich.

Und ich erlebe die wundersame Verwandlung von vier liebenswürdigen älteren Herrschaften in wütende Glaubenskrieger.
Während die beiden einzelnen Männer verstohlen nach ihren Brieftaschen tasten, man weiß ja nie, disqualifiziert mich der Herr des Pärchens umgehend in einem eleganten Dreiecksschluss: Da ich gegen die Brücke sei, könne ich keine Ahnung haben, und wer keine Ahnung hätte, dürfe auch nicht mitreden. Q.e.d..

Die Dame hingegen kommt mir auf der Emo-Schiene, rezitiert zunächst kundig die Planungsgeschichte des Bauwerks aus den letzten hundert Jahren und ist dann sittlich entrüstet, dass auch ich Dresden dies verbieten wolle. Die Braunen und die Roten hätten es nicht geschafft, die Brücke zu bauen, und nun, da es endlich möglich war, kamen die Grünen als Spielverderber um die Ecke. Meine Frage, ob sie in der SED gewesen sei, schlucke ich runter.

Vorsichtig formuliere ich dagegen eine konkrete Nachfrage, was jenes Bauwerk ihnen denn persönlich brächte. Nach einiger Fachdiskussion einigen wir uns auf zwanzig Minuten Zeitersparnis zwischen Klotzsche, wo das Paar wohnt, und Tolkewitz, wo die Herren residieren. Immerhin. Und ich bin nicht so indiskret zu fragen, wie oft sie diesen Weg wohl zurücklegen.

Ja, wer hätte das denn ahnen können, dass es soviel Ärger gibt, wenn Dresden seine ihm seit hundert Jahren zustehende Brücke baut. Und Leute wie der Blobel sollten sich nicht einbilden, dass die hier irgendwas zu sagen hätten, nur weil sie mal eine Million für die Frauenkirche gespendet hätten.

Der Herr der Dame erklärt sich zum Bauexperten (der er sicher auch mal war) und berichtet, dass er die von mir als ästhetisch überlegen bezeichnete Carolabrücke schon selbst hätte nachspannen müssen. Und dass man heute ja auch so verrückt wäre, die Fußgänger-Tunnel unterm Pirnaischen Platz und am Goldenen Reiter zuzuschütten. Ich beleidige ihn vermutlich tödlich, als ich erkläre, dass das auch richtig sei, um die Dummheiten der siebziger Jahre rückgängig zu machen.

Das Gespräch kreist um technische Fragen, zum Wesentlichen kommen wir nicht. Ich beantworte seine Lobeshymnen auf die real existierende Stahlkonstruktion (die jedes Gewerbegebiet mit ihrer Ästhetik sicher schmücken würde) mit einigen Anmerkungen zum Korrosionsschutz, zum Pylon als Stand der Technik und setze noch einen fiesen Haken auf den Punkt: „Wenn schon, dann Netzwerkbogen!“ Das reicht, er scheidet aus und verzweifelt an der Arroganz der heutigen Ingenieure.

Aber seine Gemahlin, assistiert vom Herren-Duo, gibt sich weiter kämpferisch. Meine Behauptung, dass Dresden sicher vieles habe, aber kein Stau-Problem, führt sie sinngemäß auf meine leider erst jetzt erkannte Unzurechnungsfähigkeit zurück. Und den Verweis auf Großstädte wie Berlin oder München, wo es tatsächlich manchmal Schwierigkeiten mit einem erhöhten Verkehrsaufkommen gäbe, kontert sie mit der Einmaligkeit von Dresden. Ja, da hat sie sicher recht.

Ich stürze den letzten Schluck Bier hinunter. Was soll das jetzt noch? Mein Ziel werde ich nicht erreichen, nämlich zu erfahren, was wirklich hinter dem Beharren auf genau diese Brücke steht. Also warum noch mit den alten Leutchen um Details streiten? „Mirsinmir“, jene sächsische Variante der bayerischen Selbstgefälligkeit, da kann ich nicht mithalten. Wir sind fünf am Tisch, vier gegen einen, das (ent-)spricht in etwa dem aktuellen Dresdner Stimmungsbild und für sich. Das sagt doch alles über meine Heimatstadt.

Höflich verabschiede ich mich, bemerke versöhnlich, dass wir uns sicher nicht einigen werden können, und wünsche ein allseits schönes Wochenende. Im Gehen streife ich mein Jackett über, im Bewusstsein, heute für meine Verhältnisse sehr seriös gekleidet zu sein, lächele ein frisch rasiertes Abschiedslächeln und empfehle mich. Das Weltbild der Vier hat sicher eben einen heftigen Knacks bekommen, da muss man nachsichtig sein.

* *

Der Heimweg durch das wunderschöne Preußische Viertel ist von trüben Gedanken gesäumt. Warum begreif' ich das nicht?

Zu gern hätte ich gewusst, was kultivierte Menschen aus Dresden dazu bringt, sich bei einem bestimmten Thema so barbarisch aufzuführen. Ich habe es auch heute nicht herausbekommen.

Wahrscheinlich werde ich es nie erfahren.
Sandro Zimmermann - 25. August 2013
ID 7085

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