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Kultura-Extra
Lars Karl

Paläste im Untergrund – die Moskauer Metro


Wir hörten: 80 000 Arbeiter
Haben die Metro gebaut, viele noch nach der täglichen Arbeit
Oft die Nächte durch. Während dieses Jahres hatte man immer junge Männer und Mädchen
Lachend aus den Stollen klettern sehen, ihre Arbeitsanzüge
Die lehmigen, schweißdurchnäßten, stolz vorweisend.
Alle Schwierigkeiten –
Unterirdische Flüsse, Druck der Hochhäuser
Nachgebende Erdmassen – wurden besiegt. Bei der Ausschmückung
Wurde keine Mühe gespart. Der beste Marmor
Wurde weit hergeschafft, die schönsten Hölzer
Sorgfältig bearbeitet. Beinahe lautlos
Liefen schließlich die schönen Wagen
Durch taghelle Stollen: für strenge Besucher
Das Allerbeste.

(Bertholt Brecht, Inbesitznahme der Metro)


„Es gibt eine Metro!“ – sowjetisches Propagandaplakat aus den dreißiger Jahren.
(Bild: www.metro.ru)


Unterirdische Paläste für die proletarischen Massen – unter diesem Motto wurde am 15. Mai 1935 von Stalin die erste Strecke der Moskauer Metro eingeweiht. Auf 11,2 km Länge eröffnete sich den Besuchern ein steingewordener Triumph sozialistischer Utopie: palastartige, mosaikgeschmückte Säle mit Kronleuchtern, weitläufige Hallen in unterirdischen Bahnhöfen, die von einem Heer von Arbeitern, Ingenieuren und Künstlern zur Ruhm der Hauptstadt des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates unter Verwendung von rund 70 000 m2 verschiedenfarbigen Marmors, edler Metalle, Mosaiken, Gold, Bronze und Glasschmuck erbaut worden waren. Die Pravda kommentierte:

„Bahnsteig ist hier ein zu bescheidenes Wort. Es sind Bahnhöfe, verkleidet mit Marmor, Granit, Kupfer und bunten Kacheln. (...) Höhe, Sauberkeit, der Glanz der zart grauen, rosa-farbenen, rotgeäderten Säulen, gleichmäßiges Licht aus formstrengen Kronleuchtern, polierte Wände...“


Moskauer Metrostationen auf einer Briefmarkenserie aus dem Jahre 1950.
(Bild: www.metro.ru)


Diese ersten, von Stalin als Prestige- und Schauobjekt geplanten Bahnhöfe setzten eine Norm im Metrobau, die man bei später errichteten Stationen immer wieder zu erreichen suchte. Während in fast allen Großstädten der Welt in der Regel allein Funktionalität im Vordergrund steht, erfüllen die Moskauer Metrostationen zwei Bedingungen. Sie sind funktional, hatten darüber hinaus in der Vergangenheit allerdings auch eine nicht zu unterschätzende symbolische Funktion, wie bereits Boris Groys in seinem Essay „U-Bahn als U-Topie“ treffend feststellte:

„Die Moskauer Metro der Stalinzeit war in erster Linie nicht ein normales Transportmittel, sondern der Entwurf einer wahren Stadt der kommunistischen Zukunft. Die überschwengliche, palastartige künstlerische Ausstattung der Metrostationen aus der Stalinzeit kann gar nicht anders erklärt werden als durch ihre eigentümliche Funktion, zwischen dem Reich des Himmels und dem unterirdischen Reich zu vermitteln. Keine anderen Bauten aus der Zeit sehen so prächtig aus wie diese Metrostationen. In ihnen hat die Stalinepoche ihren konsequentesten Ausdruck gefunden.“


Ein unterirdisches Schloß - die Metrostation Komsomol’skaja (Ringlinie), erbaut im Jahre 1952.
(Bild: www.artbooks.ru)



Diesem Grundgedanken entsprechend steht die künstlerische Ausgestaltung jeder Station unter einem speziellen Motto, in dem die gesellschaftlichen Idealvorstellungen der stalinistischen Sowjetmacht ihren konkreten baulichen Ausdruck finden. Eine der beeindruckendsten ist wohl die 1952 fertiggestellte Komsomol‘skaja, benannt nach dem 1918 gegründeten kommunistischen Jugendverband (Komsomol‘). Auf den Kapitellen der 72 marmorverkleideten Pfeiler ruhen kleine Rundbögen, die Deckenzone wird von riesigen Kronleuchtern beherrscht. Zwischen den Leuchtern zeigen acht stuckgerahmte Monumentalmosaiken, die jeweils aus etwa 300.000 Einzelteilchen bestehen, Szenen aus der russischen Vergangenheit.


Vestibül der Metrostation Kievskaja (Ringlinie).
(Bild: www.artbooks.ru)


Auch in der Station Kievskaja (1953/54) wird die Vergangenheit auf künstlerische Weise mythisch verklärt. Unter Kronleuchtern und skulptierten Arkaden künden Monumentalmosaike von der zu Sowjetzeiten beschworenen Freundschaft zwischen Rußland und der Ukraine und zeigen neben der Unterwerfung der ukrainischen Kosaken unter die Zarenmacht auch die Befreiung der ukrainischen Hauptstadt Kiew im Zweiten Weltkrieg.


Die Metrostation „Platz der Revolution“ markiert den Aufgang zu Kreml und Rotem Platz.
(Bild: www.artbooks.ru)


Wie bereits ihre Bezeichnung suggeriert, hat die 1939 eröffnete Station Ploščad‘ Revolucii („Platz der Revolution“) die revolutionären Ereignisse des Jahres 1917 zum Thema. Unter 40 Bögen findet der Besucher hier – paarweise gruppiert und in Bronze gegossen – die idealisierten Helden der Sowjetmacht: ein Pionier mit umgehängtem Gewehr, die Besatzung des revolutionären Panzerkreuzers „Aurora“, ein Grenzsoldat mit Hund, aber auch eine Mutter mit Kind, ein Mädchen bei der Lektüre und ein Fußballer. Jeder Mensch ist in der Manier des sozialistischen Realismus in typischer, aber idealisierter Weise dargestellt, gleichgültig ob eine hockende Diskusswerferin oder ein über seine Geräte gebeugter Architekt.


Denkmal für einen großen Dichter – die Metrostation Majakovskaja (1938).
(Bild: www.artbooks.ru)


Andere U-Bahnhöfe der Stalin’schen Epoche wurden nach bedeutenden Persönlichkeiten benannt, wie etwa die 1938 fertiggestellte Station Majakovskaja dem russischen Dichter Vladimir V. Majakovskij (1893-1930) ihren Namen verdankt. In dem tiefengerichteten Raum treffen auf rostfreien Edelstahlpfeilern Arkaden und Jochbögen zusammen. Auf jedes Joch kommt in der Mitte des Saales ein indirekt beleuchtetes, mit fluoreszierenden Stoffen ausgestattetes Kuppelmosaik nach den Entwürfen Aleksandr A. Deinekas. Insgesamt 35 im Stile des sozialistischen Realismus ausgeführte Darstellungen zeigen die Entwicklung der sowjetischen Luftfahrt, der Technikbegeisterung und dem stalinistischen Fortschrittsglauben der dreißiger Jahre entsprechend. Historische Berühmtheit erlangte die Station am 6. November 1941, als Stalin an dieser Stelle im belagerten Moskau – die deutschen Truppen hatten sich bereits bis auf 10 km dem Stadtrand genähert – eine aufsehenerregende Rede vor dem Obersten Sowjet hielt und die Bevölkerung zum bedingungslosen Widerstand gegen die Faschisten aufforderte.

Während des Krieges wurden in einigen U-Bahnhöfen militärische Befehlszentralen und andere Regierungseinrichtugen untergebracht, so etwa der Generalstab der Roten Armee in der Haltestelle Kirovskaja. Die Bahnsteige wurden abgeriegelt, die betreffenden Stationen für den öffentlichen Verkehr gesperrt. Auf dem Höhepunkt der deutschen Luftangriffe auf Moskau wurde die Metro den Einwohnern der Hauptstadt als gewaltiger Luftschutzbunker zur Verfügung gestellt. Im Jahre 1941 suchten eine halbe Million Menschen pro Tag Zuflucht in den unterirdischen Hallen, etwa 150 Kinder wurden während der Bombennächte in ihnen geboren. Die Sowjetunion lernte aus den Lektionen des Zweiten Weltkriegs: In den fünfziger und sechziger Jahren wurden alle U-Bahnhöfe so angelegt, daß sie im Notfall auch als atombombensichere Schutzräume genutzt werden konnten.


Den Gefallenen des Vaterlandes zu Ehren – die Metrostation Park Pobedy (2003).
(Bild: www.artbooks.ru)


In Stein geronnene Erinnerung an den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ begegnet dem Besucher somit auch in der erst im Mai 2003 eröffneten Station Park Pobedy („Siegespark“), nicht weit entfernt von der gleichnamigen Gedenkstätte. 80 Meter unter der Erde feiern auf einem farbenfrohen Wandmosaik jubelnde Rotarmisten vor der Kulisse Moskaus zu einem gewaltigen Feuerwerk den Sieg über Hitlerdeutschland – die Handschrift des Moskauer „Hofkünstlers“ Zurab Cereteli ist unübersehbar.


Blütenpracht auf Glas - die Metrostation Novoslobodskaja (1952).
(Bild: www.artbooks.ru)


Friedlicheren Motiven widmet sich dagegen die Ausschmückung der Station Novoslobodskaja (1952). Auf von hinten beleuchteten Buntglasscheiben werden Motive der russischen Gobelinkunst variiert. Neben Blumen und figuralen Motiven (etwa: „Russe im Studierzimmer bei der Zeitungslektüre“) fordert das zentrale Motiv: „Frieden für die Welt“.

Bis zur Fertigstellung der ersten Metro-Stationen war es ein langer Weg. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts suchte man dringend nach neuen Lösungen für den Personalverkehr der auf über eine Million Einwohner angewachsenen Metropole. So wurden im Jahre 1902 die ersten Pläne für eine Moskauer Metro vorgelegt. Die für den Bau veranschlagten 155 Millionen Rubel – eine für damalige Verhältnisse astronomische Summe – bereitete den Abgeordneten der Staatsduma offenbar Sorgen, denn das Projekt wurde abgelehnt. Auch die Russisch-Orthodoxe Kirche hatte Bedenken angemeldet, da dem hohen Klerus die Aushölung der heiligen Erde unter mehreren Moskauer Kathedralen als untragbare Option erschien. Die Umsetzung eines weiteren Metroprojekts aus dem Jahre 1912, das bereits den Bau von insgesamt drei Linien vorsah, scheiterte am Ausbruch des Ersten Weltkriegs.


Die Metrostation Majakovskaja auf einer Streichholzschachtel (1973).
(Bild: www.metro.ru)


Erst die Sowjetmacht erhob das Projekt Metro in ihrer von Technik-Euphorie durchzogenen Propaganda zur obersten Staatsangelegenheit. Während sich die Bevölkerung Moskaus von 1917 bis 1930 von zwei auf fast vier Millionen verdoppelte, trugen nicht zuletzt auch reale Sachzwänge zur Beschleunigung verkehrstechnischer Bauprojekte bei. Schließlich billigte das Moskauer Parteikommitee zum Jahresende 1933 den finalen Entwurf zur Realisierung des Vorhabens, welches von Beginn an von gewaltigen technischen Schwierigkeiten begleitet war: 2.305.000 Kubikmeter Erdreich mußte ausgehoben, die Verarbeitung von 842.000 Kubikmetern Beton organisiert werden. Etwa 76.000 Menschen waren am Bau der ersten Linie der Moskauer Metro beteiligt, entgegen der anfangs zitierten Aussage von Bertholt Brecht nicht alle davon freiwillig – in den Steinbrüchen der Moskauer Baugesellschaft „Metrostroj“ arbeiteten auch Sträflinge und Zwangsarbeiter. Die Sowjetmacht ließ ihre Arbeiter in drei Schichten bis zu sechzehn Stunden am Tag das unterirdische Mammut-Projekt voranbringen, etwa 2000 kamen infolge von widrigen Arbeitsbedingungen und Unfällen ums Leben. Auch lagen die Kosten für das Prestige-Objekt mit 800 Millionen Rubeln um etwa 250 Millionen höher als ursprünglich geplant.


Schachtel der Zigarettenmarke „Metro“ aus den späten vierziger Jahren
(Bild: www.metro.ru)


… und aus dem Jahr 2000. Auf der Rückseite findet sich ein aktueller Streckenplan.
(Bild: www.metro.ru)


Trotzdem waren die Ausmaße dieses in der gesamten Sowjetunion gerühmten Großbauprojekts zunächst vergleichsweise bescheiden: Täglich wurden mit nur zwölf Zügen etwa 480 Fahrten durchgeführt, pro Tag nutzten lediglich 177.000 der damals vier Millionen Moskauer das neue Verkehrsmittel. Heute dagegen gehört die Untergrundbahn der russischen Hauptstadt mit über 280 km Schienenstrang, 160 Stationen und rund 4100 Waggons zu den größten öffentlichen Nahverkehrsnetzen der Welt. Täglich passieren neun Millionen Menschen die unterirdischen Bahnhöfe, die über etwa 500 Rolltreppen in manchmal mehr als 75 m Tiefe erreicht werden können. Nach Stalins Tod im Jahre 1953 ging die Epoche der pompösen Ausgestaltung und verschwenderischen Prachtentfaltung im Metro-Bau zu Ende. Der Stalin‘sche Barock galt nun als verpönt, nüchterner Pragmatismus und praxisorientierte Nützlichkeitserwägungen standen hoch im Kurs. Die in den sechziger und siebziger Jahren errichteten Stationen sollten einfach, zweckmäßig und vor allem billig sein. Investiert wurde nun vor allem in die Erweiterung des Streckennetzes - zu groß waren mittlerweile die Entfernungen aus den „Schlafstädten“ der Peripherie zu Industrieanlagen und sonstigen Arbeitsplätzen der Sowjetmetropole. Die Zahl der Haltestellen stieg ständig, ein Außenbezirk nach dem anderen konnte in das unterirdische Verkehrssystem integriert werden. Die Bilanz kann sich sehen lassen: Nach einer jüngst in Rußland veröffentlichten Schätzung wurden in den letzten sechzig Jahren etwa 86 Milliarden Menschen in rund 111 Millionen Zügen transportiert – 99,93% von ihnen sollen pünktlich gewesen sein.


Ein futuristischer Traum – die Metrostation Annino (2001).
(Bild: www.artbooks.ru)



l.k. - red. / 20. Juli 2004

Literatur:
  • Brecht, Bertholt: Inbesitznahme der Metro. In: Die Gedichte von Bertholt Brecht in einem Band. Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1981, S. 673 ff.
  • Groys, Boris: U-Bahn als U-Topie. In: Die Erfindung Rußlands. München,Wien (Carl Hanser Verlag) 1995, S. 160-166.
  • Neutatz, Dietmar: Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Großbaustelle des Stalinismus. Köln, Weimar, Wien (Böhlau) 2001.

Nützliche Links:
www.metro.ru
www.aktuell.ru
www.moskau.ru

 



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