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Hommage an die Litfaß-Säule

Die Litfaß-Säule wurde am 1. Juli 2005 150 Jahre alt.

Ihre Entstehungsgeschichte klingt wie der Bericht aus dem Lokalteil einer Berliner Tageszeitung von heute.

Die Geschichte begann mit dreißig Urinoirs im Jahre 1854.
Da war die Litfaß-Säule noch nicht geboren.


Zwei Freunde mit Vergangenheit, die Säule und das Klo

Einzig öffentliche Brunnen durfte Herr Ernst Litfaß, Buchdruckereibesitzer, mit Reklame bekleben. Nun hätten die hohen Herren es gerne gesehen, wenn ein liquider Privatmann, wie Litfaß es war, die allemal notwendigen Urinale finanzieren würde und somit seinen Beitrag leisten könnte dem Berliner Abwasser- und Kanalisationsproblem Herr zu werden. Das Abwasser floss direkt in die Spree.
So machte der Magistrat dies zur Bedingung des Vertrages: Litfass darf Brunnen mit Reklame umkleiden und soll im Gegenzug 30 Urinoirs aufstellen lassen. Die Rechnung wurde aber ohne den Polizeipräsidenten gemacht. Der war es nämlich, der den letztendlich gültigen Vertrag mit Litfaß abschloss und da gab es eine große Kumpanei zwischen den eben genannten. Der Magistrat hatte das Nachsehen. Seine Hoffnung auf die Sanierung von Brunnen und die Aufstellung von Urinoirs wurden enttäuscht.

Der Polizeipräsident Hinckeldey und Litfaß verfolgten ihre eigenen Pläne: Weg sollten sie, die letzten demokratischen Zuckungen von 1848, die Plakate von Umstürzlern und Barrikadenbauern. Solcher Art Plakate, die Litfaß zu jener Zeit selbst mit geschrieben und gedruckt hatte. Aber das war eben eine andere Zeit. Bürgerlich war Litfaß allemal, auch in seinen revolutionären Pamphleten verlor er nie die Facon: Seine revolutionären Schriften versah er mit dem Hinweis, dass der Nachdruck die Strafe des Gesetzes zu gewärtigen hat.

Und nun ein paar Jahre später witterte er seine große Chance: Nachdem er schon mit ungewöhnlich großen Plakaten aufgefallen war hatte er nun das Monopol für Reklame in der Öffentlichkeit. Dagegen gab es zwar Einwände seitens des Magistrats, aber er hatte einen einflussreichen Fürsprecher, den Polizeipräsidenten Hinckeldey und musste sich um seine Einkünfte keine Sorgen machen.
Die guten Verbindungen und eine gezielte Werbekampagne führten dann zur Benutzung der fertig gestellten 150 Anschlagssäulen am 1. Juli 1855. In der Nacht vom 30. Juni auf den 1. Juli wurden zudem alle nicht genehmigten Plakate in Berlin entfernt.

Es hat lange gedauert bis die Berliner Bevölkerung verstanden hatte, dass nun keine Urinoirs aufgestellt wurden, sondern diese Säulen lediglich zum Bekleben von Plakaten benutz werden können, kostenpflichtig versteht sich.


Sich drehende Säule am Potsdamer Platz


Die Litfaß-Säule war geboren und ihr Siegeszug gewiss. Ästhetisch stand sie mit ihrer Säulenform dem Klassizismus nahe, war aber eher die dickliche Proletenschwester. Eine Säule auf Augenhöhe, eine mit der man was anfangen kann ohne vor Ehrfurcht zu versinken. Ganz im Gegenteil, lächerlich konnte man sich über sie machen.

Verflucht wurde die Säule ebenfalls, ordentlich, nachdem die ersten ihrer Art aufgestellt wurden. Sowohl ihre Ästhetik, die plumpe Kopie der Klassischen Säule, als auch die Begrenztheit der geklebten Plakate: die geballte Warenwelt, geklebt war das, was es zu verkaufen gilt, brachte die Bürger gegen sie auf. Vielleicht war es auch einfach das gewöhnliche Grummeln gegen das ungewohnt Neue.


Litfaßsäule mit Beleuchtung durch Lichtreflexion


Dabei war und ist die Litfaß-Säule immer noch die Widerspiegelung des Alltags ohne künstlerische Effekthascherei:
Ob es 1870 Kriegsdepeschen waren, die Litfaß als Erster veröffentlichen durfte, ob es die geklebte Information war, wo Lebensmittelkarten zu haben sind nach dem Nazifaschismus oder ob es die Fahndungsplakate von RAF-Mitgliedern waren, die Litfaß-Säule ertrug alles.
Und dennoch: auch sie ist vermutlich nur eine Kopie aus Beton. Bereits 1825 gab es Werbesäulen in London und Paris.
Aber warum sollen wir nicht an sie glauben, unsere Litfaß-Säule, ist sie selbst doch die unbarmherzigste Vertreterin einer Secondhand - Gesellschaft, wie ihr Erfinder selbst, immer getragen vom Wind in tausend Richtungen von der Schauspielerei über die Revolution zur Reaktion. Lasst sie hochleben, die Zeitzeugin mit Bodenhaftung, die die uns mit ihrer Ästhetik nicht die Seele klaut, sonder nur feststellt, hier bin ich.

Und nicht vergessen, wie modern die Kumpanei doch ist bei denen da oben und uns plagt, man soll es nicht glauben, wieder ein Abwasserproblem: Heuer, zum 150gsten Geburtstag jährt sich ebenfalls das alte Problem, als wenn es seit Jahr und Tag noch nicht aus der Welt geschafft wurde. Ein überfordertes Abflusssystem leitete Abwasser in die Spree, tausende Fische starben. Experten betonen die Wichtigkeit der Sanierung des innerstädtischen Mischkanalnetzes.(Tagesspiegel vom 5. Juli 2005) Die Zeit wird zurückgedreht und vielleicht gibt es noch mal einen Geschäftsmann, der keine Angst vor neuen Ideen hat, der einen Vertrag schließt mit dem Senat zur Finanzierung der Sanierung des maroden Abwassersystems, aber aufgepasst, der Polizeipräsident hat vermutlich auch noch seine Finger im Spiel, oder wie viel wildgeklebte Plakate kann die Stadt noch verkraften?

Hoch lebe die alte Dame!


Am 27. Juni fand eine Geburtstagsfeier im Garten des Jüdischen Museums zu Ehren der Litfass-Säule und ihres Erfinders statt. Im Hintergrund der Libeskind-Bau.


Gratulation und alles Gute zum Hundertfünfzigsten!

silke parth - red. / 05. Juli 2005

Ein großer Teil der Informationen ist aus dem gerade erschienen Buch „Ernst Litfaß, Der Reklamekönig“ von Wilfried F. Schoeller, Schöffling & Co Verlag

 



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