"C the unseen"
Ein Rundgang durch die Europäische Kulturhauptstadt Chemnitz 2025
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In diesem Jahr ist die sächsische Stadt CHEMNITZ neben Nova Gorica (Slowenien) und Gorizia (Italien) eine der Kulturhauptstädte Europas. Nach Weimar 1999 die zweite ostdeutsche Stadt, der dieser Titel von der Europäischen Union verliehen wurde. Wie immer sind damit auch finanzielle Zuwendungen von der EU, aber vor allem aus dem Bundeshaushalt und dem Haushalt des Freistaats Sachsen verbunden. Den nicht unerheblichen Rest muss die Stadt Chemnitz selbst stemmen. Weitere Millionen sollen aus Förderprogrammen der EU und des Freistaates Sachsen für Investitionen in die Infrastruktur fließen. Das hat der klamme Haushalt der Stadt Chemnitz auch bitter nötig, sieht man sich allein die bisher noch immer eingleisige Regionalbahnverbindung von Leipzig an. Und auch die Reisewilligen aus Berlin oder der benachbarten Elbmetropole Dresden werden so ihre Probleme bei der Anreise haben. Die Frage nach einer ICE-Verbindung nach Chemnitz ist neben der Frage „Wo sind denn hier die Nazis?“ eines der sogenannten No-Gos in der im Südwesten Sachsens gelegenen Stadt, die Kunst- und Kulturbeflissene vielleicht bisher noch nicht wirklich auf dem Schirm hatten.
Dabei hat Chemnitz als Tor zum Erzgebirge nicht nur Volkskunst in Form von geschnitzten Weihnachtspyramiden, Schwibbögen oder dem typischen Räuchermännel zu bieten. In der Kulturhauptstadt gibt es einige architektonische Highlights zu bewundern, deren Erhalt aber wegen knapper Kassen auch teilweise gefährdet ist. So steht das Theater Chemnitz, ein Bauwerk der DDR-Moderne, seit 4 Jahren leer. Die 35 Millionen Euro Sanierungskosten kann die Stadt Chemnitz wegen eines 100-Millionen-Euro-Defizits in der Stadtkasse nicht mehr finanzieren (Quelle: MDR). Und auch das Ausweichquartier im Spinnbau, Zentrale des ehemaligen VEB Spinnereimaschinenbau Karl-Marx-Stadt, weist jetzt schon bauliche Mängel auf, die den Weiterbetrieb gefährden.
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Vor dem Theaterplatz - im Hintergrund die Oper Chemnitz | Foto: Stefan Bock
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Vom 9. bis 11. Mai haben daher 50 überwiegend junge Leute eines Chemnitzer Aktionsbündnisses, unterstützt von Vereinen und Initiativen, das Theater besetzt, um gegen die finanziellen Kürzungen bei der Kultur in Bund, Land und Kommunen zu protestieren. Also nicht nur in Berlin wird der Kultur der Gürtel enger geschnallt, auch das sich für ein Jahr Kulturhauptstadt nennen dürfende Chemnitz sieht sich massiven Sparmaßnahmen in den Bereichen Kultur, Bildung und Soziales ausgesetzt. Dass es da an manchen Ecken der Stadt auch etwas unfertig aussieht, mag da nicht verwundern. So hat es für eine Gestaltung des Seeberplatzes vor der Markthalle (Bj. 1891) an der Chemnitz wohl nicht mehr ganz gereicht. Dagegen glänzt am anderen Ufer die frisch sanierte Hartmannfabrik, das Herzstück und Hauptquartier der Kulturhauptstadt, das sonntags allerdings geschlossen hat.
Und nicht nur das verwundert. Die 2 Millionen erwarteten BesucherInnen dürften noch ein wenig ratlos in der Stadt umherlaufen. Zumindest werden bereits jetzt an vielen Orten große Chemnitz-2025-Aufsteller installiert. Man soll ja schließlich wissen, wo man ist. „C the unseen“ lautet das Motto der Kulturhauptstadt. Es gilt, bislang Ungesehenes und Unentdecktes sichtbar zu machen, heißt es dazu. Weithin sichtbar ist in jedem Fall das größte Kunstwerk der Stadt, der vom französischen Konzeptkünstler Daniel Buren in sieben Farben angestrichene und nachts illuminierte Schornstein des ehemaligen Heizkraftwerk Nord. Auch ein Verweis auf die expressionistische Farbpracht der in und um Chemnitz geborenen Mitglieder der Künstlergruppe "Die Brücke" Karl Schmidt-Rottluff, Erich Heckel und Fritz Bleyl, deren Bilder in den Kunstsammlungen Chemnitz ausgestellt sind.
PURPLE PATH heißt ein Kunst- und Skulpturenweg, der 38 Städte und Gemeinden der Region wie Mittweida, Schwarzenberg, Glauchau, Seiffen, Freiberg und Schneeberg verbindet. Werke von internationalen Größen der zeitgenössischen Kunst wie Leiko Ikemura, James Turrell oder Rebecca Horn treffen auf sächsische und lokale Künstler wie Via Lewandowsky, Gregor-Torsten Kozik oder Michael Morgner. Eine Karte aller Werke und Orte findet man auf der Website der Kulturhauptstadt.
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Karl-Marx-Büste an der Chemnitzer Straße der Nationen | Foto: Stefan Bock
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Wer in Chemnitz bleibt, hat auch da die Möglichkeit, bei ausgedehnten Stadtspaziergängen auf weitere Kunstwerke zu treffen. Zuallererst den berühmten „Nischel“. Vom Selfie-Shooting beim Karl-Marx-Kopf an der Straße der Nationen [s. Foto oben], dem postsozialistischen Boulevard ins nicht vorhandene Zentrum der nach dem Krieg stark zerstörten Innenstadt, führt der Weg vorbei an Stadthalle, Kaufhaus Tietz und Rotem Turm zum Neuen Markt mit dem alten Rathaus gegenüber der Zentralhaltestelle mit der Galeria Kaufhof, in die nach der Schließung einige Stadtämter einziehen sollen, um den Leerstand in zentraler Lage zu verhindern. Die Kriegergruppe hat den gläsernen Kaufhof gekauft und wird die Räumlichkeiten nach dem kostenintensiven Umbau an die Stadt Chemnitz vermieten.
Mit dem historischen Kaufhaus Tietz ist ja bereits ein ähnlicher Umbau gelungen. Seit 2004 beherbergt das sogenannte Kulturkaufhaus u.a. eine Volkshochschule, die Stadtbibliothek, das Museum für Naturkunde mit dem berühmten Steinernen Wald und die Neue Sächsische Galerie. Jedoch die Wiederbelebung der früheren stalinistischen Aufmarsch- und Einkaufsstraße aus den 1950er-60er Jahren bleibt ein ewiges Thema in der Stadt. Streift man ein wenig weiter, kommt man noch am Sporthochhaus in der Theaterstraße vorbei. Wo früher in den beiden unteren Etagen ein Sportgeschäft ansässig war, zeigt nun der Verein „Kunst für Chemnitz“ echte Kunst aus Chemnitz u.a. von Gregor Kozik, Klaus Süß, Thomas Ranft, Dagmar Ranft-Schinke und Dagmar Zemke.
Zu DDR-Zeiten schlossen sich in den 1970er Jahren einige dieser KünstlerInnen in den beiden alternativen Galerien Oben und Clara Mosch zusammen. Deren Geschichte ist nun in einer kleinen Studio-Ausstellung zu Künstlerischen Freiräumen in Karl-Marx-Stadt in den Kunstsammlungen am Theaterplatz gleich neben dem Chemnitzer Opernhaus zu sehen. Einen Besuch wert ist hier auch die Sammlung von Gemälden des in Rottluff (heute Chemnitz) geborenen Malers Karl Schmidt-Rottluff und seiner Brücke-Kollegen. Und ein neues Museum für Chemnitz hat noch pünktlich zum Kulturhauptstadtjahr mit dem Karl Schmidt-Rottluff Haus eröffnet. Das ehemalige Elternhaus von Karl Schmidt-Rottluff an der Limbacher Straße 382 wurde in ein Künstlerhaus umgestaltet.
Die ehemalige Industriestadt Chemnitz ist natürlich auch stark mit der Architektur der Moderne verbunden. Bestes Beispiel dafür ist die Villa Esche, das 1902/03 von Henry van der Velde im Jugendstil erbaute Wohnhaus des Textilfabrikanten Herbert Eugen Esche. Zu finden in der Parkstraße 58 im Stadtteil Kappel. Bauhaus-Freunde sollten unbedingt das zentrumsnahe Stadtbad Chemnitz [s. Foto unten] besuchen. Entworfen von Architekt Fred Otto besitzt das 1935 eröffnete Bad 25- und 50-Meter-Bahnen, Saunabereiche und ein gläsernes Dach, das für viel Tageslicht sorgt. Das ehemalige jüdische Kaufhaus Schocken am Stefan-Heym-Platz 1, 1930 vom Architekten Erich Mendelsohn geplant und errichtet, beherbergt heute das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz (smac). Zum Kulturhauptstadtjahr befasst sich hier die Ausstellung Silberglanz & Kumpeltod mit der Geschichte des Erzbergbaus von der Bronzezeit bis in die Gegenwart in der Region um Chemnitz.
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Stadtbad Chemnitz | Foto: Stefan Bock
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Etwas für DDR-Nostalgiker dürfte das Kunstprojekt #3000Garagen sein. Typisch für die damalige Zeit waren große, teils in kollektivem Eigenbau errichtete aneinandergereihte Garagenkomplexe, in denen Trabant und Wartburg, auf die man lange warten musste, abgestellt und liebevoll gepflegt wurden. In diesen über die Stadt verteilten Garagenhöfen finden nun Kunstaktionen, Feste und Workshops zur Geschichte der Garagennutzung statt. Für die Installation Ersatzteillager von Martin Maleschka haben Chemnitzer GaragennutzerInnen dem Künstler verschiedene Alltagsgegenstände geliehen. So hat u.a. Katarina Witt, der aus Chemnitz stammende ehemalige DDR-Eiskunstlaufstar, das Nummernschild ihres ersten Autos beigesteuert. Na, wenn das nichts ist.
Während in Chemnitz noch geschraubt und geputzt wird und weitere geplante Kulturtermine auf sich warten lassen, sollte man unbedingt das Museum Gunzenhauser besuchen. Auch das von Architekt Fred Otto 1928 bis 1930 als Hauptsitz der Sparkasse Chemnitz im Stil der Neuen Sachlichkeit erbaute und 2007 vom Berliner Architekten Volker Staab umgebaute Haus ist ein architektonisches Highlight. Es beherbergt die Sammlung des Münchner Galeristen Dr. Alfred Gunzenhauser mit mehr als 3.000 Werken des Expressionismus, der Neuen Sachlichkeit und der deutschen Nachkriegsmoderne. Der Schwerpunkt liegt auch hier bei den Malern der Brücke. Hausheiliger ist aber der im thüringischen Gera geborene Maler und Vertreter der Neuen Sachlichkeit Otto Dix.
Bis zum 10. August sind die vier Ausstellungsgeschosse aber komplett einer wahrlich europäischen Kunstausstellung gewidmet. European Realities widmet sich den „Realismusbewegungen der 1920er und 1930er Jahre in Europa“. Hier stößt man neben Dix auch auf in Deutschland bekannte Namen wie Max Beckmann, George Grosz, Hans Grundig, Alexander Kanoldt, Lotte Laserstein, Christian Schaad, Rudolf Schlichter oder Magnus Zeller. Die Kuratorin Diana Kopka hat aber den Blick weit über das damalige Europa streifen lassen und KünstlerInnen aus Großbritannien, Frankreich, Spanien, Italien, Niederlande, Schweden, Schweiz, Estland, Litauen, Lettland, Bulgarien und den sich gerade bildenden Nationalstaaten des ehemaligen österreich-ungarischen Kaiserreichs ausgewählt, denen bisher keine so große Popularität beschieden war. Die Liste der europäischen Leihgeber ist lang. Die der realistischen Kunststile jener Zeit vielfältig. Dazu werden zu den einzelnen Positionen die Schaffensstationen der jeweiligen KünstlerInnen aufgeführt. Eine Reisebewegung innerhalb Europas, die durch die Flucht vor den Nationalsozialisten für einige bis nach Amerika und wieder zurück führte. Für die jüdische Malerin Ilona Singer-Weinberger endete die Reise allerdings im Konzentrationslager Ausschwitz.
Aufgeteilt in Sektionen wie Selbstbildnisse, Menschenbilder, die neue Frau, Stillleben, Sport und Körperkultur, Großstadt und Nachtleben, Arbeit, Armut und sozialer Protest führt die Ausstellung durch das sich nach dem Ersten Weltkrieg gerade neu orientierende Europa. Bei diesem sehr interessanten Rundgang kann man nun Malerinnen und Maler wie den Slowenen Ivan Kos, die Spanierin Maria Blanchard, Gerda Wegener aus Dänemark, Vilma Kiss aus Ungarn oder den lettischen Maler Kārlis Miesnieks entdecken. Bemerkenswert auch der Luxemburger Maler Jean Jacoby, der hier mit einer Vielzahl seiner Sportler-Bilder vertreten ist, und zweimal die Goldmedaille in den 1912 bis 1948 ausgetragenen olympischen Kunst-Wettbewerben gewinnen konnte. Eine Auswahl, die so bisher noch kaum zu sehen war. Eine echte europäische Entdeckung im Chemnitzer Kulturhauptstadtjahr.
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Stefan Bock - 17. Mai 2025 ID 15269
Weitere Infos siehe auch: https://chemnitz2025.de/
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