Nun ist sie da - die Erweiterung der
Europäischen Union um zehn Länder. Die meisten von ihnen gehören
zum ostmitteleuropäischen Raum und bildeten bis 1989 einen Teil
des ehemaligen Ostblocks. Dazu zählen auch die drei baltischen Länder
Estland, Lettland und Litauen, die, scheinbar so fernliegend, einen
schwierigen und ehrgeizigen Weg ins vereinte Europa beschritten
haben.
Anläßlich der EU-Erweiterung präsentieren wir in loser Folge Auszüge
aus dem Tagebuch, das unser Autor Patrick Wilden vergangenes Jahr
auf seiner elftägigen Reise durch Estland und Lettland führte.
Baltikumtours
Flughafenhalle, Tallinn © Patrick Wilden 2003
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Der zwölfte Tag: Rückkehr
Schönes lässt sich nur auf eine Weise wirklich besitzen, dadurch
nämlich, dass wir es zu verstehen versuchen und uns die (psychologischen wie
visuellen) Faktoren bewusst machen, durch die es entsteht. [...] [D]er
erfolgversprechendste Weg zu einem solchen bewussten Verstehen ist der Versuch,
schöne Landschaften künstlerisch darzustellen, sie zu beschreiben oder zu zeichnen,
ob ein Talent dazu vorhanden ist oder nicht." (Alain de Botton: Die Kunst des
Reisens, Frankfurt/M. 2003, S. 236f )
"Trivial", sagte V., den ich zusammen mit seiner Freundin E. in Frankfurt besuchte,
nachdem ich mittags glücklich wieder auf dem dortigen Flughafen gelandet war, zu
mitternächtlicher Stunde auf den Text hin, den ich soeben vorgelesen hatte. Er
befand de Bottons Paraphrase auf John Ruskins fünf Punkte, die dieser für die
Vergegenwärtigung von Erlebtem, für die "Erlangung des Schönen" zur Voraussetzung
macht, nicht weiter erwähnenswert, geschweige denn eines Kommentars würdig.
Erkenntnistheoretisch ist es wohl ein ganz alter Hut. Schon eine schlichte
Hermeneutik setzt ein Interesse voraus, etwas sensibel Gegebenes, das durch
Erlebtes abgeglichen, eben verstanden wird. Allein der Punkt, auf dem ich
herumritt, daß man nämlich mit Ruskin den besonderen Reiz der Erfahrung aus dem
Mehrwert heraus destillieren könne, den man nur auf ästhetischem, auf 'technischem'
Wege erlangt, konnte V. milde stimmen. Es ist eben das, was wir "schön" nennen -
meist mit einer gewissen Reflexivität, was andeutet, daß eine (Reise-) Erfahrung
als solche gemacht wurde, daß sie uns bewußt, eben daß sie verstanden wurde.
"Der Rückgriff auf dieses Wort ist vielleicht nur eine andere Art kundzutun, dass
ein Ort uns gefällt." (De Botton, S. 233)
Die Reise ins Baltikum hat mir gefallen. Ich bin mittlerweile zurückgekehrt, die
Erfahrung ist frisch und das ästhetische Empfinden noch soweit angeregt, daß ich
einen letzten Versuch unternehmen kann, über diese Reise zu schreiben - weniger
über Gewöhnung als über eine schrittweise Rückkehr, erste Formulierungsversuche,
über Bahnfahren, Augusthitze und Reisemüdigkeit.
Den touristischsten aller Stadtspaziergänge während unserer elf Tage im Baltikum
machten wir auf den letzten Drücker: in der knappen Stunde, die zwischen Frühstück
und Taxifahrt zum Flughafen am gestrigen Reisetag verblieb. Wir gingen in die
Altstadt (vana linn), gemessen, aber zielstrebig.
Auf den Geschäftsstraßen
kamen uns bereits Touristengruppen entgegen, sie waren früh aufgestanden, hatten
sich zu einem Stadtrundgang versammelt und folgten nun, an entsprechenden Stickern
kenntlich, ihrer englisch-, deutsch- oder russischsprachigen Führung. Wir
besuchten kurz nach neun bereits die orthodoxe Nikolai-Kirche, die soeben ihre
Pforten geöffnet hatte, und durchwanderten Straßen, von denen wir das Gefühl
hatten, noch nie in ihnen gewesen zu sein, denn erst gestern, mit dem geschärften
Blick desjenigen, der weiß, daß er nur eine Stunde Zeit hat, bemerkten wir die
vielen "Suveniir"-Läden, aus denen ein Großteil der Innenstadt besteht - ein
touristisches Ghetto, eine Kulissenstadt, mit dem Zweck restauriert, dort
deutschen, finnischen, amerikanischen Touristen Pullover anzudrehen.
Die melancholische Einsicht, daß der Reisebetrieb überall, auch in Tallinn, gleich
ist, minderte denn auch alle Anflüge von Wehmut während der Taxifahrt zum Flughafen
ungemein. Für eine ästhetische Erfahrung war ohnehin kein Raum mehr belassen worden.
Der Flug setzte in erster Linie die üblichen technischen Akzente - Start, Landung,
"Your captain speaking..." - und verlief, den landläufigen Kriterien
entsprechend, reibungslos. Zum Mittagmahl, das wie auf dem Hinflug aus einer
kleinen Portion Lachs mit Kartoffeln und Spinat bestand, bestellte ich estnisches
Bier, wie alte Männer. Ansonsten vertiefte ich mich in meine Reiselektüre, die
sich dem entscheidenden Punkt zu nähern versprach. Ich war ohnehin längst
angekommen, der Betrieb hatte uns eingefangen, wir waren Teil von ihm, und erst
die Rückkehr würde uns aus seinen Klauen entlassen - mit der Aussicht auf den so
leidigen, so geliebten Alltag, der uns von neuem in unser Leben sperrte.
Nikolai und ich trennten uns auf dem Bahnsteig des Flughafen-Fernbahnhofs, und
weil ich in Frankfurt noch E. und V. besuchen, jedoch nicht vor dem Spätnachmittag
dort erscheinen wollte, begab ich mich in die klimatisierte Abflughalle B auf ein
Stück Kuchen in der Gaststätte "Lilienthal", um die Hitze des Tages von mir
abzuschirmen und meine Ankunft ein bißchen zu strecken.
Hier machte ich auch die eigentümliche Erfahrung der Reisemüdigkeit, die man
geradezu in eine Definition packen könnte: Reisemüdigkeit heißt, in der gut
gekühlten Abflughalle B des Frankfurter Flughafens zu sitzen, die Anzeigetafeln
klickern und die Flugaufrufe die große weite Welt versprechen zu hören - und bei
alledem das beruhigende Gefühl zu haben, einfach nur Kuchen essen, ein Buch lesen
und dableiben zu dürfen.
Später, als ich E. und V. meine Aufwartung machte und ins Erzählen verfiel, merkte
ich deutlich, wie wohlig bestimmte Eindrücke sich bereits zu kristallisieren
begannen, mit welcher selbstgefälligen Pose man die Neugier und das Interesse der
anderen hervorlockt, indem man erste Wunden, Trophäen und Mitbringsel präsentiert.
Bei alledem hatte ich aber nicht das Gefühl, daß der ganz persönliche Exotismus
meiner Geschichten den gewöhnlichen Alltag des Frankfurter Lebens stören würde -
im Gegenteil: er wurde zur Voraussetzung dafür, daß die Sonne weiter brüllte,
die Straßenbahnen weiter fuhren und ich noch einen Apfelwein bestellen konnte.
Es ist schön, portionsweise anzukommen, vom eben Erlebten kleine Kostproben geben,
sich aber noch etwas aufheben zu können. Auf A. traf ich erst heute, mehr oder
weniger zufällig, obwohl wir uns verabredet hatten, auf dem völlig chaotischen,
rummeligen und wabernd heißen Frankfurter Hauptbahnhof. Die Reise war, nachdem
ich mich von E. und V. verabschiedet hatte, noch nicht zu Ende. Der Zug, in dem
ich mich mit A. treffen wollte, hatte eine Stunde Verspätung, die ich mit
Herumstöbern im Presseladen, Lesen und Espresso-Trinken verbrachte.
Irgendwann blickte ich von diesem Getränk auf - bis zur Ankunft des Zuges blieben noch
zwanzig Minuten - und stellte fest, daß ich in einer schreienden, zischenden,
trappelnden Umgebung saß, in einem einzigen riesigen Reiselärm, der bis zu diesem
Augenblick durch meine Lektüre, durch Gedanken an die baldige Begegnung mit A.,
den verspäteten Zug völlig in den Hintergrund gedrängt worden war. Es war, stellte
ich fest, als säße ich hinter einem tosenden Wasserfall - weder das Klingeln
meines Handys noch der Personenruf, mit dem mich A., die bereits einen Zug früher
gefahren war und auf dem Bahnhof herumirrte, zum Service-Point hatte bestellen
lassen, waren an mein Ohr gedrungen.
Wir haben uns dann doch noch getroffen, eher erleichtert als angespannt,
verschwitzt und sogar fröhlich inmitten der Absurdität, inmitten der Heftigkeit
des Bahnhofs. Mittlerweile ist es Nacht, A. schläft selig im Nebenzimmer, Grillen
und Kirchturmuhren schlagen - "die andere Seite der Stille" vielleicht, wie George
Elliot sagt, denn der Reiselärm sitzt mir noch immer in den Ohren.
Es war eine schöne Reise, eine, die einen mit einem primitiven Stolz erfüllt,
vielleicht weil sie die Erfüllung eines verborgenen Wunschtraums war, weil alles
"so gut geklappt" hat, weil wir mit ein bißchen weltmännischer Verlogenheit in
die Haut eines anderen, eines Reisenden geschlüpft sind, der sich ein wenig nach
der yuppiehaften Leichtigkeit des Helden aus Javier Marías' Morgen in der Schlacht
denk an mich sehnt.
Und was war nun "das Baltikum", das Ziel und Objekt dieser Reise? Ich würde
sagen: in erster Linie eine bestimmte Art rampenartig abgesenkter Bürgersteige,
die sich an allen Orten fanden, die wir bereist haben. Daß ich sie "schön" fand,
wie so vieles andere in diesen elf Tagen, darum brauche ich, glaube ich, nun nicht
mehr viele Worte zu machen.

© Patrick Wilden 2003
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Patrick Wilden
Frankfurt - Tübingen, 6./7. August 2003
Siehe auch:
Der erste Tag: Tallinn
Der sechste Tag: Saaremaa
Der neunte Tag: Riga
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