Literatur-Spezial
Nun ist sie da - die Erweiterung der Europäischen Union um zehn Länder. Die meisten von ihnen gehören zum ostmitteleuropäischen Raum und bildeten bis 1989 einen Teil des ehemaligen Ostblocks. Dazu zählen auch die drei baltischen Länder Estland, Lettland und Litauen, die, scheinbar so fernliegend, einen schwierigen und ehrgeizigen Weg ins vereinte Europa beschritten haben.
Anläßlich der EU-Erweiterung präsentieren wir in loser Folge Auszüge aus dem Tagebuch, das unser Autor Patrick Wilden vergangenes Jahr auf seiner elftägigen Reise durch Estland und Lettland führte.

Baltikumtours

Haus am Leuchtturm von Sääre, Saaremaa © Patrick Wilden 2003

Der sechste Tag: Saaremaa

'Der Leuchtturm am Ende der Welt' - so stellte sich uns heute Sääre vor, der südlichste Punkt der Insel Saaremaa: ein halb verfallenes Gehöft, das aber, wie die Satellitenschüssel zeigte, genauso wie die zweite Hütte am Platze bewohnt war, und ein Leuchtturm, dessen Äußeres heute nicht mehr an das 18. Jahrhundert denken läßt, als sein Vorgänger errichtet wurde und womöglich zu ähnlichen Kämpfen mit Schmuggler- und Seeräuberbanden Anlaß gab wie in Jules Vernes Roman aus dem Jahre 1905.
Die irreführende Beschriftung "1960" unterschlägt die zeitgeschichtliche Bedeutung der Halbinsel Sõrve, wo sich 1944 die deutschen Besatzer und ihre estnischen Verbündeten mit der anlandenden Roten Armee erbitterte Gefechte lieferten. Es war eben diese Halbinsel, die wir heute mit unserem Mietwagen umrundeten und erkundeten.

Aber was heißt hier schon 'erkunden'? Ein Kilometer hinter Salme, wo wir, bereits auf der Rückfahrt, im einzigen Café weit und breit eine Rast einlegten, begann bereits die Schotterstraße. Der dichte Taxuswald, im Reiseführer als Naturereignis hervorgehoben, versperrte uns die Sicht aufs Meer und nahm uns dadurch die selbstvergewissernde Weite des Blicks.
Wenn gestern in unserem Cicerone vom Sublimen die Rede war, so war unsere Tour entlang der vermeintlichen Küstenstraße der Halbinsel Sõrve das Gegenteil davon: eine Autofahrt, die zuvörderst durch finsteren Tann führte, wo die dazwischen aufblitzenden Flecken Heide so braun sind, wie es das Volkslied will (das ich heute erstmalig überhaupt verstanden habe). Eine Landschaft jedenfalls, die ihr Geld angesichts der hohen Mietwagenpreise hierzulande nicht so recht wert sein wollte.

"Ach, das war's jetzt schon?" entfuhr es Nikolai, als wir vom 'Leuchtturm am Ende der Welt' kommend wieder auf die Küsten(schotter)straße einbogen. Seine Enttäuschung darüber, nicht an Ort und Stelle mit jäät und kakao, apelsinimahl und õlut bewirtet worden zu sein, war unüberhörbar.
Wenn man bedenkt, daß die Briten an der äußersten Südwestspitze ihrer Insel, in Land's End nämlich, die Tatsache, daß Großbritannien dort mit jähem Felsabfall zuende ist, eigens in einem Freizeitpark inszenieren, ist die Enttäuschung des alten England-Reisenden Nikolai, an einem solchen Punkt nicht Eis, Kakao, Orangensaft oder Bier kaufen zu können, nicht aus der Luft gegriffen. (Pullover hätte es gegeben - aber wer möchte bei 30 Grad Lufttemperatur die heimische Strickerzunft unterstützen?)
Immerhin hatten wir ganz in der Ferne über den Sund hinweg, der die Rigaer Bucht mit der Ostsee verbindet, die lettische Küste erahnen können. Mehr gab Sääre tatsächlich nicht her.

Alain de Botton nennt sein Provence-Kapitel - das, hätte ich beinahe bemerkt, als klassischer Kunstreisetopos moderner Prägung auch nicht hätte fehlen dürfen (Grüße an den Lektor!) - "Über Kunst, die die Augen öffnet". Soweit wir uns in Nachbereitung unserer heutigen, eher ernüchternden Erkundungstour bereits damit auseinandergesetzt haben, läßt sich sagen: die Provence ist schon allein dadurch privilegiert, daß Künstler zu verschiedenen Zeiten gekommen sind (und weiterhin kommen, siehe Peter Handke), um immer Neues an diesem alten Kulturland mit seinem besonderen Licht und seiner speziellen Vegetation hervorzuheben. Van Gogh, den de Botton sich in diesem Essay vornimmt, war einer von denen, die mit Selbstbewußtsein sagten: 'Dies hat vor mir noch keiner an der Provence entdeckt.'
Welcher Landschaftsmaler käme wohl auf die Idee, die Halbinsel Sõrve und überhaupt die weiten Landstriche auf Saaremaa, die, wie uns der Reiseführer informierte, zur Hälfte aus Wald und zu einem Viertel aus Sumpf bestehen, im Bild einzufangen?
Selbst Postkartenhersteller, die zeitgenössischen Landschaftsdarsteller, wählen für ihre Karten von Saaremaa nur eindeutige Punkte, Bockwindmühlen, eine der wenigen Kirchen, die Straßen des Hauptortes Kuressaare oder auch den 'Leuchtturm am Ende der Welt' als Motive aus. Die unendlichen Schotterstraßen durch die unendlichen Waldflächen werden nicht zu einem reproduziertswerten Gegenstand erhoben. Unsere heutige Erfahrung lehrte uns, warum.


Ausrangierte Verkehrsschilder in Kuressaare, Saaremaa © Patrick Wilden 2003

Mit Saaremaa, der größten Insel Estlands - die für mich mittlerweile zu einem grünen, wenn auch spärlich bewohnten Fleck auf der riesigen Baedeker-Landkarte "Baltikum" geworden ist -, verhält es sich ganz anders als bei de Botton und van Gogh: es geht nicht um die richtige (realistische, impressionistische, touristische) Landschaftserfahrung; die Landschaft selbst sperrt sich dagegen.
Allenfalls könnte man hoffen, daß Sõrve, oder ganz Saaremaa, von einem talentierten Märchenprinzen wachgeküßt werde. Wie so etwas im 21. Jahrhundert aussehen könnte, wage ich mir bei der vorherrschenden kommerzialisierten Diesseitigkeit des Denkens aber lieber nicht vorzustellen.
Das Schöne an unserer mehrstündigen, in gleißendes Sommerlicht gehüllten Spitztour über die Schotterstraßen West-Saaremaas war aber die reduzierte action, die eben auch damit verbunden war. In Kihelkonna, einem der vielen minimalistischen Dörfer der Insel, das im Gegensatz zu den meisten anderen Häuser- und Hüttenkollektiven neben dem zentralen Kauplus auch noch eine hübsche, modrig riechende Kirche stehen hat, gabelten wir ein finnisches Studentenpärchen auf. Die beiden hatten die Nacht über auf einer vorgelagerten Insel biwakiert; wir kannten ihre Gesichter aus dem Ekspressbuss, mit dem wir von Tallinn gekommen waren. Und vor der angelsächsischen Redseligkeit der Dorftrinker von Kihelkonna retteten wir sie, indem wir ihnen den Wagenschlag öffneten, sie mit zurück nach Kuressaare nahmen und in unserer Pension unterbrachten.

Ein bißchen Landschaft, ein bißchen Empfindung und Romantik hielten dann noch das Abendessen am Kai des nahen Hafens Roomassaare und die Veranda des John Bull Pub am alten Deutschordenskloster parat, wo wir einfach nur sitzen, trinken und, nachdem es zu dunkel zum Vorlesen geworden war, die Wolken im Mitternachtssonnenabglanz ziehen sehen konnten.


Blick vom Hafen Roomassaare, Saaremaa © Patrick Wilden 2003

Patrick Wilden
Kuressaare, 30. Juli 2003


Siehe auch:
Der erste Tag: Tallinn
Der neunte Tag: Riga
Der zwölfte Tag: Rückkehr