Nun ist sie da - die Erweiterung der
Europäischen Union um zehn Länder. Die meisten von ihnen gehören
zum ostmitteleuropäischen Raum und bildeten bis 1989 einen Teil
des ehemaligen Ostblocks. Dazu zählen auch die drei baltischen Länder
Estland, Lettland und Litauen, die, scheinbar so fernliegend, einen
schwierigen und ehrgeizigen Weg ins vereinte Europa beschritten
haben.
Anläßlich der EU-Erweiterung präsentieren wir in loser Folge Auszüge
aus dem Tagebuch, das unser Autor Patrick Wilden vergangenes Jahr
auf seiner elftägigen Reise durch Estland und Lettland führte.
Baltikumtours
Eisenbahnbrücke über die Daugava, Riga © Patrick Wilden 2003
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Der neunte Tag: Riga
Als wir heute morgen aus dem Hotel Valdemars traten und erste Schritte in der
knalligen Sonne machten, die einen heißen, mehr oder minder schwülen Tag wie den
vorangegangenen ankündigte, da hatte ich den uneingestandenen, sehnlichen Wunsch,
es möge bereits Abend sein.
Mittlerweile ist der Abend heraufgezogen, er kam mit einem leichten Wind daher,
der auf der Terrasse unten an der Daugava (Düna), wo wir vorhin noch eine Weile
saßen und in den Abend hineindämmerten, aus der ersehnten Kühle so etwas wie ein
leichtes Frösteln werden ließ. Liege ich wie jetzt auf meinem Bett, zwei
Stockwerke hoch über der vor Verkehr schreienden Valdemara Iela um eine
Viertelstunde nach Mitternacht, so merke ich allerdings auch, wie sehr mich der
Rigaer, der baltische Sommer gargekocht hat.
Mit dem unterdrückten Wunsch nach Schatten und nach Kühle erwanderten wir heute
'unsere' Stadt. Dabei machte ich, wenn man bedenkt, daß wir Alain de Bottons
Kunst, anders, weil bewußt zu reisen, im Gepäck haben, schon von Beginn an alles
falsch.
Ich zauberte eine veraltete, aber im wesentlichen noch gültige Broschüre des
Rigaer Büros für Tourismus hervor und schwor meinen Begleiter darauf ein, anhand
dieser einen geführten Gang durch die Stadt zu machen - vorbei an halb verfallenen
Jugendstilhäusern, durch weitläufige Parkanlagen, durch unebene, geschwungene
Altstadtstraßen, in denen Uniformierte vor den lettischen Staatseinrichtungen
(Parlament, Präsidentensitz) patrouillierten, durch Gassen, nichtssagende Pforten
und schlichte Kirchenportale.
Nikolai war wie immer zu höflich. Er ließ mich gewähren und sich folgsam durch
sonnendurchflutete Straßenzüge voller Art déco geleiten, die von Cafés, Bars und
Restaurants gesäumt sind, ohne mich daran zu erinnern, daß wir in unserem
alternativen Cicerone eigentlich was anderes gelesen hatten.

Jugendstilkatze an der Meistaru Iela, Riga © Nicolai Brömse 2003
Gegen Mittag, wir hatten uns gerade vor dem Katzenhaus in der Meistaru Iela
herumgetrieben, ein beliebter Rigaer Treffpunkt, wo auch drei erstaunlich lange
Mafialimousinen parkten, stießen wir auf das finnische Pärchen, das wir in
Kuressaare kennengelernt hatten.
Mit Lotta und Seppo unterhielten wir uns anschließend ein wohltuendes Mineralwasser
lang, locker, ohne angestrengte Fröhlichkeit aufkommen zu lassen, im wesentlichen
auf Reisedetails beschränkt. Sie berichteten von ihrem mud treatment in
einem Pärnuer Badehaus, wir fragten, ob sie sich anschließend auch im dortigen
kuursaal Maßbier und Spanferkel gegönnt hätten. Sie äußerten ihre
Konsumwünsche in punkto Markenklamotten, die die Rigaer Boutiquen aber nur zu
globalisierten Höchstpreisen befriedigten, und wir schilderten in aller Drastik
die olfaktorische Herausforderung der Latrinen von Ainaži, die man besser unter
den Titel "Waten in der Scheiße" fassen könnte.
Freundschaftlich, doch unverbindlich verabschiedeten wir uns ein weiteres Mal,
und ob wir jemals noch ein Gläschen gemeinsam leeren werden, wie es Seppo erneut
vorschlug, ist mehr als fraglich, zumal die beiden morgen wieder nach Hapsalu
aufbrechen. (Immerhin, zwei kleine Digitalfotos könnten uns bleiben, die wir
gegenseitig machten; aber die sind ja bekanntlich leicht zu löschen.)
Es war noch immer nicht Abend, sondern kaum ein Uhr. Was für ein unentschuldbarer
Überdruß ist das nur, der uns im besten Wissen um die verfließende Lebenszeit
dem Ende des Tages entgegen treibt?
Im lettischen Okkupationsmuseum, einem häßlichen, noch aus sowjetischen Zeiten
stammenden Stahlriegel auf zwei Pfeilern am Rathausplatz (Ratslaukums), fand ich
zwar mehr Exponate und Informationen über die jüngere lettische Geschichte vor
als in meinem kleinen Reiseführer. Dafür schwieg sich die Exposition weitgehend
über die unrühmliche Rolle aus, die lettische (zusammen mit litauischen, weißrussischen,
ukrainischen) Milizen bei der Ermordung der Juden im Zweiten Weltkrieg gespielt
hatten.
Ein kleines Volk wie das lettische, das eigentlich nur aus drei kleinen Regionen
und ein paar Städten, aber einer langen, blutigen Geschichte besteht, betont -
zumal seit der Wende - vernünftigerweise die Opferrolle: gegenüber dem
Nationalsozialismus, viel stärker aber natürlich - und das meint hier
okupacija - gegenüber der Sowjetunion. Geradezu schizophren ist die
Vorstellung, daß die sowjetischen Behörden der Lettischen SSR nach dem Krieg in
bester Stalinscher Manier dort weitermachten, bei der Deportation der Intelligenzija
und potentieller Oppositioneller, der kulturellen Infiltrierung und der
Kollektivierung nämlich, wo sie während des einen Jahres zwischen der Angliederung
Lettlands an die Sowjetunion (5. August 1940) und Hitlers Angriff am 22. Juni
1941 bzw. der der Einnahme Rigas einige Tage später begonnen hatten.
Schizophren ist es auch, sich vorzustellen, daß die 150.000 lettischen Soldaten,
die im Zweiten Weltkrieg unter dem Stahlhelm kämpften - und nicht wenige von ihnen
aus patriotischer Hoffnung und Überzeugung -, nun unter dem Sowjetstern in eine
glückliche Zukunft blicken sollten.
Solch einfaches, im Sinne der Fachhistorie simplifizierendes Psychologisieren
schafft es immerhin, ganz gut die Kurve zu kriegen zur friedlichen Revolution der
Jahre 1989-1991. Auch der Sturm der Omon auf das lettische Innenministerium im
Januar 1991 "konnte den Wunsch der Letten nach Unabhängigkeit nicht mehr
aufhalten", wie es so unverwechselbar in meinem Reiseführer heißt. Die Geschichte,
so muß ich aus diesem Besuch und dieser Lektüre schließen, läuft eben - vor
allem für die auf Ruhe und Ordnung fußende Tourismusindustrie - immer in die
'richtige' Richtung. Ich habe die Statue von "Johans Gotfrids Herders", dem
ideellen 'Völkerbefreier', auf einem schattigen kleinen Platz unweit des Doms
heute eigenhändig fotografiert.

Statue von Johann Gottfried Herder am Rigaer Dom © Patrick Wilden 2003
Irgendwann, nach unzähligen Kilometern dieser buntscheckigen, belebten, so
verflucht normal wirkenden Altstadt, als die Sonne ihren Zenit schon weit
überschritten hatte, so gegen vier Uhr nachmittags etwa, halfen auch die Kioske
und die Saldejums-(Eis-)Wägelchen und handlichen Getränkeflaschen nicht mehr
weiter.
Auf mein Bett in der Valdemara Iela zurückgekehrt, schrieb ich einen Packen
sowjetische Postkarten, den ich mittags einer alten Deutschen aus Riga vor dem
wiederaufgebauten Schwarzhäupterhaus abgekauft hatte, in dem die Rigaer
tourist information untergebracht ist. Und dann war, nach ausgedehntem
Dämmerstündchen, endlich der Abend da, den ich mir gewünscht hatte: kühl und
leicht, windig, tief angenehm. Erst im Verlauf des Abends kam die Schwere der
Müdigkeit hinzu, die mich nun von jeglichem Weiterschreiben abhält.
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Patrick Wilden
Riga, 2. August 2003
Siehe auch:
Der erste Tag: Tallinn
Der sechste Tag: Saaremaa
Der zwölfte Tag: Rückkehr
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