Literatur - spezial

Braniborska darf nicht sterben!
Ganz Brandenburg wird Nationalpark

:: Die Sonne geht auf unter dem hohen Zelt des wolkenlosen Himmels von Nuthe-Nieplitz. Ein Schuss kracht in der Stille. Ein Schwarm Pleitegeier flattert auf über dem Blankensee. Sofort sind die Wildhüter bei ihren Fahrzeugen, brausen los zum vermeintlichen Versteck des Wilddiebs.

„Für Touaregs reicht unser Geld leider nicht, aber die tiefer gelegten Opel Vectras tun’s auch“, bedauert unser Führer, ein wettergegerbter Landsertyp, und hält mit der einen Hand seinen Tarn-Wikingerhelm fest, während er mit der anderen gleichzeitig Steuer und Radio bedient, um einen Sender mit Marschmusik zu finden:

Uns packt das Gefühl, bei einem echten Abenteuer dabei zu sein!

Während wir uns aus dem Straßengraben herausarbeiten, stellt er sich vor: Man nennt ihn hier nur den „General“, das muss reichen. Vielleicht ist es Vorsicht. Vielleicht hat er seinen richtigen Namen auch einfach vergessen –

immerhin gibt es alle Hände voll zu tun, seit der Nationalpark Brandenburg von den ursprünglichen 106 km² des Unteren Odertals auf die 29.477,16 km² des gesamten Landes erweitert wurde, rechtzeitig vor der WM.

Braniborska nennen es die Eingeborenen: endlose Ebene. Mit 87 Einwohnern pro km² das am dümmsten besiedelte Bundesland, alljährlich Schauplatz des atemberaubenden Schauspiels der „Great Migration“, der Auswanderung der großen Herden. Sie suchen Nahrung, Sexualpartner ohne Akzent, einen Vollzeitjob als Kellner in Österreich, um nach der großen Regenzeit im April, Mai und Juni zurückzukehren – vielleicht.

Zurück bleiben die Raubglatzen, ihre Fressfeinde: orientierungslos, verwirrt, hungrig. Sie finden den Ausgang nicht, wären außerhalb der Grenzen des Nationalparks wohl auch zum Untergang verdammt, denn niemand spricht ihre Sprache: Eberswälder Kanaldeutsch. Haarlos und frierend in dünnen Lonsdale-Jacken, irren sie umher, werden zur Gefahr für Touristen.

Natürlich strahlen diese primitiven, ursprünglichen Wesen besonders für gebildete Ausländer eine gewisse Faszination aus – dennoch kann ihre Beobachtung tödlich sein. „Gäste aus Afrika dürfen das Gebiet nur noch auf geführten Safaris betreten“, erklärt der General.

Hinter ihm rülpst es. Er dreht sich um, feuert blitzschnell zweimal hintereinander ins Gebüsch, aus dem wenig später eine durchlöcherte Bierdose herauskullert. Puh! Das war knapp. Wir wandern weiter.

„Leider reguliert sich der Bestand nicht mehr von alleine“, sagt der Wildhüter, „obwohl sie regelmäßig Pogo-Partys veranstalten.“ Zwar richteten sich die Aggressionen der bulligen Kampfschweine inzwischen häufiger gegen sich selbst, nachdem der Ausländeranteil des Landes nur noch zwei Exemplare umfasst, dennoch müsse der Mensch weiterhin ordnend eingreifen, natürlich streng nach Abschussliste.

Wir erreichen das Versteck, doch von dem Wilderer fehlt jede Spur. Es gab gar keinen Wilderer. Stattdessen windet sich ein kahlköpfiger Farbiger auf dem Boden, der sich bei näherer Betrachtung als Weißer herausstellt – das Reichsadler-Tattoo verrät ihn. Doch er ist über und über mit brauner Soße bedeckt, hat versucht, mit einem Kanonenschlag sein Mittagessen aufzuwärmen. Von ihm geht keine Gefahr mehr aus: Seine Zähne finden wir ein paar Meter weiter im flachen Wasser.

„Normalerweise ist das hier eine absolute No-Go-Area, aber die Jungs können alle nicht lesen“, knurrt der „General“, während wir die braune Bestie zum Wagen tragen. Die Sonne steht hoch über dem Nationalpark. Friedlich wiegen sich fünfzig geschützte Baumarten im Wind.

Wird es uns gelingen, ein Leben zu retten?

Hoffentlich können wir den Skin saubermachen, bevor sein Rudel ihn aufspürt…

Sebastian Andrae © 22. Mai 2006
Biografie Sebastian Andrae
Online-Anthologie: wisssen was weh tut

siehe auch:
http://www.sebastian-andrae.de/
SebAn1410@aol.com

 

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