Literatur - spezial

Back in the U.S.S.R.
Ins neue Jahr mit alten Feinden

:: Nichts ist anstrengender als ein ständig wechselndes Feindbild.

An wen mussten wir uns nicht alles gewöhnen in den letzten Jahren: An einen Mann namens Cat Stevens, der unter dem Namen Ronan Keating Gefängniskonzerte in Guantanamo gab! An einen Ägypter, der dank seiner technischen Ausbildung in Hamburg-Harburg der westlichen Dekadenz ein Lichtlein aufsteckte! An einen Bremer Taliban! An hässliche Amerikaner, noch hässlichere Deutsche, an Ausländerfeinde, dann wieder an feindliche Ausländer!

Wer behielt da noch den Überblick? Wer wusste noch, in welche Richtung er hassen sollte, wenn aus jeder Richtung Unheil drohte? Wer war denn nun gefährlicher: der brüllende Mob auf der Geburtstagsdemo für Rudolf „Quax“ Hess oder der zu Hause bleibende Schläfer? Hielt uns der Nazi-Terror den islamistischen Bomber vom Hals? Warum stand der Schläfer nicht mal auf, um eine Granate zwischen die Glatzen werfen? Hallo!! Wer hier Gastrecht genießt, darf schon mal was für die Völkerverständigung tun!

Kaum jedoch ist der neue Bond im Kino, kehrt die Zeit des kalten Krieges zurück, und mit ihr der gute altböse Feind in Pelzmütze und Soldatenstiefeln. In täppischer Bärenweise zieht er seine blutige Spur durch Europa und wischt seine Feinde von der Landkarte –

der Russ’ ist wieder da!

Freigebig wirft er seine Tschernobyl-Karamellen unters Volk, tanzt den Kasatschok auf der Erdgas-Pipeline, und wen er umarmt, dem geht die Luft aus. So war es seit Zarenzeiten, seit Peter seinen Bojaren die Bärte abschnitt und die Köpfe gleich mit, wenn sie nicht wollten wie er. So war es unter Uljanow dem Schrecklichen, der sich Lenin nannte und keine Götter neben sich duldete, bis er im Glassarg lag, von Zwergen ehrfürchtig bestaunt. So ist es nun unter dem Mann mit dem scheuen Blick, der vielleicht die beste Versicherung seiner Feinde ist, denn wen dieser Blick trifft, hat keine lange Halbwertszeit.

Und doch: es mischt sich ein wohliges Gefühl in unser Unbehagen, so wie ein platzender Kanonenofen ja auch noch Wärme gibt und die ersten Löffel eines vergifteten Borschtschs durchaus munden können. Es ist die Wiedererkennbarkeit, in der wir uns zu Hause fühlen. Es ist Gogols Lachen über die Korruption, Dostojewskis Zorn auf die Brutalität, Tschechows Leiden an der Trägheit der Verhältnisse, die uns die Verhältnisse selbst fast schon sympathisch machen – in Zeiten der Erderwärmung scheint sogar in der sibirischen Kälte ein Trost zu liegen. Scotland Yard ermittelt in Moskau – klingt das nicht, als ob Conan Doyle und Ian Fleming gemeinsam einen schaurig-schönen orthodoxen Kirchengesang anstimmten?

Der Russe ist wieder da, nicht wirklich ein Freund, aber immerhin ein Bekannter. Und wenn das erste Atom-U-Boot vor Rügen auftaucht, sollten wir gewappnet sein. Auf irgendeinem Berliner Flohmarkt wird sich doch eine Uniformmütze, ein Fähnchen mit Hammer und Sichel, eine Katjuscha-Rakete auftreiben lassen – und wer weiß, nach ausgiebiger Fraternisierung und dem sechsundzwanzigsten Glas Wodka ist der Große Bruder vielleicht sogar zu Gegenleistungen bereit im neuen Europa:

„Wie wär’s, Vladimir? Löst Ihr uns in Afghanistan ab?“

Sebastian Andrae © 11. Dezember 2006
Biografie Sebastian Andrae
Online-Anthologie: wisssen was weh tut

siehe auch:
http://www.sebastian-andrae.de/
SebAn1410@aol.com

 

-->