Rezension

Sophia Paraschou - Auch die Bösen haben eine Seele

Märchen, Jugendbuch, 128 Seiten
ANT Musik & Verlag; Auflage: 1 (20. November 2006)
ISBN-10: 3981098315
ISBN-13: 978-3981098310


Was ist eigentlich aus der bösen Stiefmutter und den beiden Schwestern von Aschenputtel geworden, nachdem die Holde ihren Prinzen gefunden hatte? Oder wie geht es Rumpelstilzchen nach seinem unethischen Deal mit der braven Müllerstochter? Und was treibt Schneewittchens Stiefmutter nun den lieben langen Tag? Die armen Bösen der Märchen sind gescheiterte Existenzen, von der Welt unbeachtet und verachtet. Der Urböse des Märchens, der Wolf, macht sich daher auf, einen Kongress einzuberufen, um endlich einmal dem Schicksal der Bösen im Märchen gerecht zu werden. Thema des Kongresses ist „Rassismus und Klischees in den Kindermärchen“. Geladen sind neben den Bösen als Rednern auch Autoren wie die Brüder Grimm oder Oscar Wilde. Und so reisen dann auch alle an, um die Position der nicht Schönen, der nicht Liebsten und nicht Jüngsten zu vertreten und ins rechte Licht zu rücken. Aber nicht nur die Bösen erscheinen, auch die Guten finden sich ein und – kaum fassbar für den zunehmend gestressten Organisator der Veranstaltung – die ungeladenen Märchenschreiber Perrault und Andersen. Nachdem dann schließlich alle Rednerinnen und Redner über ihr Leid und ihre Verunglimpfungen geklagt haben, fordern sie Gerechtigkeit. Diese soll durch ein komplettes Umschreiben der Märchen wiederhergestellt werden. Es kommt unter den Zuschauern zu Protesten und im allgemeinen Tumult fordern schließlich ein paar Kinder, alles zu lassen wie es ist, denn sie lieben ihre Bösen, so wie sie sind, und sie lieben die Märchen vor allem auch wegen der Bösen. Das überraschende Ende: Friede, Freude, Eierkuchen, alle geben sich die Hände, Gute und Böse vertragen sich und planen gemeinsam ihre Zukunft. Nur der böse Wolf ahnt schnell den faulen Kompromiss: Er will nicht plötzlich als Märchenpartner Rotkäppchens dastehen, er will sie einfach nach wie vor fressen.

Das 128 Seiten dicke Buch ist ein mit viel Humor geschriebenes Märchen. Und es gilt die Anweisung auf dem rückseitigen Buchumschlag wirklich zu beachten: Man müsse zum Verständnis der Lektüre, „die Märchen ‚Rotkäppchen’, ‚Schneewittchen’, ‚Die Schöne und das Biest’, ‚Die drei Schweinchen’ und /oder ‚Der Böse Wolf und die sieben Geißlein’ gelesen haben“. Aber neben diesen Anspielungen auf die alten Märchen ist die Geschichte bestückt mit zahlreichen amüsanten Verweisen auf literaturgeschichtliche und -theoretische Debatten, allen voran die Frage nach der Bedeutung des Autors und der Aktualität bzw. des Anachronismus eines Märchens.
Das Buch – eine Neuerscheinung des jungen Verlages ANTS – setzt sich damit nicht nur mit den in Märchen vertretenen Vorurteilen auseinander, sondern darüber hinaus mit literaturwissenschaftlichen Zusammenhängen – ohne dabei wissenschaftlich zu klingen oder gar langweilig zu werden.
Sophia Paraschou hat mit Auch die Bösen haben eine Seele ein witziges und intelligentes Märchen über Märchen geschrieben. Geeignet für alle Leser, die sich über Märchen auch Gedanken machen können.
Wirklich empfehlenswert!

Leseprobe:
Die Kälte draußen war bitter, was verständlich war, weil der Januar schon vor Tagen ins Land gezogen war. Ungewöhnlich war, dass im Haus die gleiche Kälte wie draußen herrschte, als gäbe es keine Wände, die das Wetter abhielten. Was aber sollten Wände ausrichten können, wenn die Fensterscheiben kaputt waren und das Dach ein großes Loch hatte, dass man den Schneeflocken zusehen konnte, wie sie am Himmel tanzten, kurz bevor sie im Wohnzimmer landeten.
Die Mutter und ihre beiden Töchter saßen vor dem kalten Kamin. Jede von ihnen trug drei Pullover und noch mal so viele Mäntel. Über ihren Schultern trugen sie karierte Decken, die irgendwann einmal neu gewesen, jetzt aber voller Löcher waren. Die Mädchen trugen keine gewöhnlichen Schuhe, sondern sonderbare Eisenschuhe, klein und eng, und ihre Füße waren geschwollen wie Luftballons. Durch einen starken Luftzug, der durch den Raum wehte, schreckte die Mutter plötzlich hoch, die seit geraumer Zeit im Sessel vor sich hin gedöst hatte.
„Wir werden hier noch vor Kälte sterben. Was seid ihr nur für unnütze Geschöpfe. Warum geht ihr nicht hinaus, um Holz zu sammeln, das wir dann im Kamin verbrennen können? Mein Gott, was habe ich getan, dass Du mir solche faulen und unfähigen Töchter gegeben hast?“


Na – schon eine Idee, auf welche bösen Märchenheldinnen hier angespielt wird?





s.p. - red / 2. Dezember 2007
ID 3584


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