Shakespeares Rachetragödie als bitter-böser Schwank mit Texten von Friedrich Dürrenmatt und Heiner Müller
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Bewertung:
Was braucht es für ein erfolgreiches Sommertheater mehr als eine deftige Shakespeare-Komödie? Die Frage stellt sich zum Beginn jeder Open-Air-Theatersaison. Wie macht man aber aus Shakespeares Frühwerk Titus Andronicus, einer blutigen Rachetragödie, in der gefühlt im Minutentakt gemordet, geschändet und verstümmelt wird, eine Sommerkomödie, ist eine noch viel interessantere Frage. Dem Gefängnistheater aufBruch ist das in der Regie von Peter Atanassow mit einer Komödien-Bearbeitung von Friedrich Dürrenmatt, die 1970 bei ihrer Uraufführung in Düsseldorf krachend durchgefallen sein soll, hervorragend geglückt. Angereichert mit Chorpassagen aus Heiner Müllers düsterem Shakespeare-Kommentar Anatomie Titus Fall of Rome kam das Stück nun als Freiluftgefangenentheater in der JVA Tegel ganz ohne eine Tropfen Theaterblut zur Aufführung.
Das Gefangenenensemble aus 18 Insassen der JVA Tegel schlüpft auf der von Holger Syrbe gestalteten Podestbühne mit großer Showtreppe, die zu zwei Thronsesseln führt, in viele Kostüme (Haemin Jung) und Rollen und verhandelt die Frage, wann der Drang nach Gerechtigkeit in reine Rachsucht kippt. Angesiedelt im vor dem Verfall stehenden Spätrom, das gegen die angreifenden Goten ins Feld zieht, wird gleich noch die Vergänglichkeit von Ruhm und Macht mitverhandelt. Aktualität muss da nicht groß beschworen werden. Machtstreben, Hass, Rache sind zeitlose Themen der Weltgeschichte. Wie im Hamlet sind beim Titus am Ende fast alle tot und es beginnt mit einem neuen Herrscher vermutlich alles wieder von vorn. Der Drang zur Selbstauslöschung zeigt sich hier aber viel klarer und ohne große Gewissensfragerei. Das in einen bitter-bösen Schwank zu gießen, ist der Verdienst des Abends, der szenisch trotz Drastik einiges an Komik zu bieten hat, aber in einer Passage die Darsteller auch mal über die Handlungsweise ihrer Figuren reflektieren lässt.
Zu Beginn zieht das Ensemble zum pathetischen Trauermarsch Zwei von Tausenden ein. Der Feldherr Titus Andronicus (Atak) hat die Goten geschlagen und bringt die Gotenkönigin Tamora (Norman) und ihre Söhne als Gefangene mit. Für seine gefallen Söhne lässt er ihren Sohn Arlabus (Muhammet) opfern und setzt damit den Kreislauf der Rache in Gang. Die vollzieht sich wenig später an seiner Tochter Lavinia (Robin). Die anderen beiden Söhne (Marco, Kristian) der Tamora, die durch die Heirat mit dem eitlen römischen Kaiser Saturnin (herrlich H. Peter Maier C.d.F) zur Kaiserin geworden ist, töten Bassian (Jörg), den jüngeren Bruder des Kaisers und Verlobten Lavinias, vergewaltigen Lavinia und schneiden ihr Zunge und Hände ab, damit sie die Täter nicht verraten kann. Intrigentreiber ist der schwarze Liebhaber Tamoras, ihr Diener Aaron (André S.), der den Verdacht des Mords auf Titus‘ Söhne (Moussa, Khaled H.) lenkt. Dem Vater macht er vor, seine Söhne retten zu können, wenn er sich eine Hand abschlägt. Zurück bekommt er nur ihre Köpfe. Dafür landen Tamoras Söhne in der Pastete, die Koch Titus zum Finale dem Kaiser und der Kaiserin auftafelt.
Dazwischen muss noch der eine oder die andere dran glauben, bis Titus-Sohn Lucius (Paul E.) verbündet mit den Goten Rom erobert und selbst Herrscher wird. Dürrenmatt liefert am Ende die Folgen gleich mit, wenn er seinen Gotenfürsten Alarich vom Untergang des Römischen Reiches sprechen lässt. „Erst herrschte es, nun herrschen wir, nach uns sind andere an der Reihe, uns drohn Hunnen, den Hunnen Türken, diesen die Mongolen. Sie alle gierig nach der Weltherrschaft, die eine kurze Weltsekunde unser.“
Da hört man fast schon Heiner Müller, bei dem die Goten von einst heute als Touristen durch die Museen gehen. Die kraftvollen Chorpassagen stehen im Kontrast zu den sehr spielfreudigen Szenen, in denen der Irrsinn der Taten und ihrer Täter komödiantisch überhöht wird. Aber auch das einfache Volk von Dienern, Bauern und invaliden Soldaten kommt hier beim Ruf nach Gerechtigkeit zu Wort. Im Programmheft steht viel über das Spektakel des Grauens und was uns eigentlich noch schrecken kann. Das Theater hat da noch einiges zu bieten und befriedigt den Appetit des Publikums, denke man nur an die Spektakel der Florentina Holzinger. Politisch korrekt ist Shakespeares Stück nie gewesen. Aber Lachen kann hier in vielerlei Hinsicht auch befreiend sein.
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Stefan Bock - 6. Juni 2025 ID 15292
TITUS ANDRONICUS (JVA Tegel, 03.06.2025)
von Shakespeare/Dürrenmatt/Müller
Regie: Peter Atanassow
Bühne: Holger Syrbe
Kostüme: Haemin Jung
Dramaturgie: Franziska Kuhn, Hans-Dieter Schütt
Musikalische Leitung: Vsevolod Silkin
Choreographie: Suzann Bolick
Produktionsleitung: Sibylle Arndt
Mit dem Gefangenenensemble der JVA Tegel: André S., Atak, H. Peter Maier C.d.F., Horst Grimm, Idah.J, Jan M., Jörg, Khaled H., Kristian, Marco, Medjit, Moussa, Muhammet, Norman, Oliver, Paul E., Robin und Sven
Premiere war am 3. Juni 2025.
Weitere Termine: 06., 11., 12., 13., 17., 19., 20., 25.-27.06.2025
Eine Produktion von DAS GEFÄNGNISTHEATER aufBruch
Weitere Infos siehe auch: https://www.gefaengnistheater.de
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