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Buchkritik

Avi Primor | Süß und ehrenvoll

Roman
Quadriga, 2013
ISBN 978-3-86995-058-7




Süß und ehrenvoll... ist der Tod fürs Vaterland. Aber für welches? Im Ersten Weltkrieg (1914 - 1918) stehen sich deutsche und französische Juden im Kampf gegenüber. Dies ist nur eines der Dilemmata des europäischen Judentums dieser Zeit. Auch wenn der Roman 1918 endet und weder der Holocaust oder die Gründung des Staates Israel 1948, noch der derzeitige Nahostkonflikt erwähnt werden, schildert Avi Primor eine Gemengelage, die zu den späteren Ereignissen geführt hat und zu deren Verständnis beiträgt. Das Buch erschien im September 2013, sozusagen am Vorabend des 100-sten Jahrestages der deutschen Kriegserklärung 2014.

Primor wurde 1935 in Tel Aviv geboren, studierte Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen. 1961 trat er in den diplomatischen Dienst ein, der ihn in den 1990er Jahren als Botschafter nach Bonn und Berlin führte. Primor ist der Sohn eines niederländischen Emigranten. Seine deutsche Mutter verließ ihre Heimatstadt Frankfurt am Main schon 1932 vor der Machtübernahme Hitlers, aber ihre gesamte Familie kam während des Holocausts ums Leben. Als Avi Primor nach Deutschland versetzt wurde, hielt sich seine Begeisterung in Grenzen, vor allem als es darum ging, die deutsche Sprache zu erlernen. Heute beherrscht er sie vorzüglich und setzt sich für die Aussöhnung der Deutschen und Juden ein sowie für eine friedliche Lösung des Nahostkonflikts.

Primor hat schon mehrere Sachbücher geschrieben, in denen er das Judentum erläutert, Süß und ehrenvoll ist sein erster Roman und ein gelungener Kunstgriff. Anhand von fiktiven Personen, an denen die Leserschaft Anteil nehmen kann, macht er uns das historische Zeitgeschehen vor und während des Ersten Weltkrieges deutlich. Er lässt uns am Schicksal der vorwiegend jüdischen Protagonisten teil haben und „verkauft“ uns praktisch eine emotional nachvollziehbare und detailliert recherchierte Geschichtsstunde der besonderen Art. Ludwig Kronheim ist der Sohn eines jüdischen Arztes aus Frankfurt am Main, der sich deutscher gibt als die Deutschen und alles tut, um in der Frankfurter Gesellschaft gleichberechtigt und angesehen zu sein. Seinen Sohn Ludwig schickt er auf ein renommiertes Gymnasium und lässt ihn in Heidelberg studieren. Als sich der Erste Weltkrieg abzeichnet, sieht er die Stunde zur jüdischen Emanzipation gekommen. Wenn Ludwig sich freiwillig meldet und so seine Vaterlandsliebe demonstriert, steht der ersehnten Anerkennung nichts mehr im Wege - glaubt er. Auch Ludwig lässt sich vom Hurra-Patriotismus der Zeit anstecken und zieht freudig in den Krieg.

Im französischen Bordeaux lebt der Bäckersohn Louis Naquet, ebenfalls ein Kind jüdischer Eltern. Nach drei wesentlich älteren Schwestern wurde er als Nachzügler geboren und genießt einen Kronprinzenstatus in der Familie. Er wird 1913 direkt nach dem Abitur Rekrut und zieht 1914 willig in den Krieg, auch aus Dankbarkeit der toleranten Einstellung der Stadt Bordeaux den Juden gegenüber.

Die Erlebnisse der beiden „Feinde“ werden parallel geschildert, offenbaren Gegensätze und Gemeinsamkeiten. Ihre grausamen Kriegserlebnisse, ihre Strapazen und Ängste werden in schnörkellosem, fast sachlichem Ton beschrieben, über ihr seelisches Befinden geben die zahlreichen Briefe an ihre Familien und Freundinnen Auskunft. Die Liebe ist das Grundelement, das sie all die Torturen durchstehen lässt. Reflexionen, was Judentum historisch und persönlich für sie bedeutet, durchziehen den gesamten Roman. Weder Ludwig noch Louis (die französische Variante des Namen Ludwig) sind orthodox. Sie kennen sich im Grunde genommen mit ihrem Glauben gar nicht aus. Als weltliche Juden sind sie assimiliert und ihren Heimatländern sehr verbunden. Insbesondere Ludwig und sein Vater tragen eine sehr große Sehnsucht nach Heimat und nationaler Verbundenheit in sich.

Primor bindet viele für Juden relevante Ereignisse und Personen in seinen Roman mit ein. Das Schicksal von Alfred Dreyfus wird diskutiert, einem französischen Offizier, der der Spionage für Deutschland bezichtigt wurde und erst sehr spät rehabilitiert wurde. Es kommt zu einer Begegnung mit dem deutschen Jagdflieger Wilhelm Frankl, der jüdischer Abstammung und hochdekoriert war. Er hat sich christlich taufen lassen, um seine christliche Freundin heiraten zu können, hat aber die Erfahrung gemacht, dass er von seinem Umfeld immer noch als Jude wahrgenommen wird. Jüdisch-Sein ist neben der Religions- gleichzeitig eine Rassenzugehörigkeit, die mit der Konvertierung nicht erlischt.

Leopold Rosenak wird gewürdigt, der als Feldrabbiner arbeitete und das Eiserne Kreuz verliehen bekam. Auch die Gegenbewegung zum Patriotismus bekommt Raum. Der Selbstmord der deutsch-jüdischen Chemikerin Clara Immerwahr wird beschrieben, die an der Entwicklung von Chemikalien beteiligt war, die später als Kampfgas eingesetzt wurden. Der Zionismus und die Nachwirkungen von Theodor Herzl kommen zur Sprache. Dann die „Judenzählung“ in Deutschland 1916, eine offensichtlich antisemitische Reaktion auf die Tatsache, dass sich die jüdischen Soldaten genau so wacker schlugen, wie die nicht-jüdischen. „Es ist einfach unglaublich, was hier gerade passiert. Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Auf einmal bin ich kein Deutscher mehr“, sagt Ludwig nach zwei Jahren Kriegseinsatz angesichts der Judenzählung. „'Sie sind Jude', widersprach ihm der Arzt, 'deutscher Jude, aber zuerst einmal Jude'“ und versucht ihn für die Idee eines Judenstaates in Palästina zu erwärmen, was Ludwig empört ablehnt.

Vor allem aber fiebern wir mit Ludwig und seiner geliebten Karoline mit, die aus einer christlichen Familie stammt und deren Eltern gegen die Heirat mit einem Juden sind. Der Kampf um diese Liebe dauert den ganzen Krieg an, übersteht Auseinandersetzungen, lange Trennungen, die Entbehrungen und Traumatisierungen durch den Krieg. Während der Leser zumindest über rudimentäre Kenntnisse des geschichtlichen Verlaufs des Ersten Weltkriegs verfügt, stecken die Protagonisten mitten drin. Als Ludwig nach Verdun versetzt wird, ist das für ihn ein Ort an der Maas und noch nicht das Symbol für das sinnlose Abschlachten von Menschen. Wir freuen uns mit dem schüchternen Louis, der erst sehr spät eine Freundin findet. Louis bleibt trotz aller Entmutigungen Patriot, aber ein nachdenklicher. Er schreibt: „Wenn ich trotz meiner miserablen Lage imstande war, Mitleid zu empfinden und zu fühlen, dass andere Menschen noch mehr leiden als ich, so spricht das dafür, dass ich vor dem Absturz in die Entmenschlichung bewahrt geblieben bin.“ Uns schockiert das distanzierte Verhältnis von Ludwigs „preußischem“ Vater ebenso wie und die tiefe Liebe zwischen Louis und seinem Vater uns berührt. Dass Louis und Ludwig sich eines Tages auf dem Schlachtfeld begegnen und einander zum Schicksal werden, ahnt man schon.

Nach Kriegsende wird in beiden Ländern der Einsatz der Juden für ihr jeweiliges Vaterland gewürdigt. Einige halten das für den Durchbruch in Sachen Emanzipation, die weitere Geschichte zeigte uns etwas anderes. Ludwig und Louis sind trotz ihrer Erlebnisse keine Pazifisten geworden. Die Sinnlosigkeit von Krieg wird dem Leser trotzdem deutlich. Avi Primor hat mit Süß und ehrenvoll Aspekte zur Sprache gebracht, wie sie eindrücklicher wohl noch nicht geschrieben worden sind.

Avi Primor hat im November 2013 zusammen mit dem palästinensischen Diplomaten Abdallah Frangi den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis verliehen bekommen.



Bewertung:    



Helga Fitzner - 25. November 2013
ID 7398
Avi Primor | Süß und ehrenvoll
Hardcover, 384 Seiten
Quadriga, 2013
D € 19,99 | A € 20,60
ISBN 978-3-86995-058-7



Siehe auch:
http://www.luebbe.de/Buecher/Historisches/Details/Id/978-3-86995-058-7


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