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Roman

Ferne Nähe





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Oft wird gesagt, man könne Katastrophen vorausahnen. Es liege da ein Vorgeschmack in der Luft. Sebastian Haffner besaß diese Fähigkeit, das Unheil vorauszuahnen.

Nur mal für einen Freund gefragt: Wer ahnt in diesen Tagen etwas?

Sebastian Haffner, mit bürgerlichem Namen Raimund Pretzel, zählt zu denjenigen, die im Namen Kassandras unterwegs waren. Der Berliner Historiker, der unter anderem mit Werken wie Anmerkungen zu Hitler und Geschichte eines Deutschen in Erinnerung blieb, erzählt in diesem Roman, der aus dem Nachlass seiner Erben freigegeben wurde, von den letzten Tagen jener zivilen Freiheit, die auch heute bedroht scheint. Jener Zeit, bevor die Katastrophe über den Kontinent hereinbrach. Nur nebenbei erzählt er von der Unbeschwertheit eines jungen Mannes. Von seiner Liebe. Von seiner Erregtheit. Von seiner Verzweiflung. Und eben von seinen Vorahnungen.

Das handschriftliche Manuskript zu diesem ungelenken Roman eines jungen Journalisten liegt im Bundesarchiv. Seine Entstehungszeit wird zwischen Ende Oktober und Ende November 1932 datiert.

Der bisher unveröffentlichte Roman eines Historikers. Ein Liebesroman, voller Leichtigkeit und Überschwang. Wir befinden uns im Paris des Frühjahrs 1931. Um zehn Uhr an diesem Abend wird der Protagonist Raimund seine Geliebte Teddy verlassen, weil er den Nachtzug nehmen muss. Von Anfang an ist klar, dass das ein Abschied für lange Zeit sein wird. Alles, was geschieht, steht im Zeichen eines doppelten Abschieds: Einerseits von der Geliebten und andererseits von der gewohnten Lebensweise.

Say Goodbay. Es geht also um alles. Um das, was diesen jungen Mann ausmacht. Was er ersehnt. Um seine Träume und Albträume. Es ist ein Abschied von der Liebe, von dem Leben als Bohemien und von seiner Freiheit.

Fragen wir uns: Was könnte es bedeuten, wenn man die Idee ernst nähme, dass Literatur ein Weckruf ist? Nur für einen Augenblick, man will nicht zu lange stören, könnte man diesen Gedanken kurz ernst nehmen: Der Roman als ein Brüllen.

Auch die Figuren dieses Romans hätten den Zivilisationsbruch nicht für möglich gehalten. All diese Figuren, die es, in irgendeiner Form, tatsächlich gab! Im Grunde könnten sie mit ihrer Unsicherheit alle heute leben. Vordergründig nerven sie den ständig eifersüchtigen Raimund, denn seine Freundin Teddy ist eine sehr begehrte Frau. Die Männer stehen Schlange bei ihr. Überall lauert Gefahr. Sei es durch Horrwitz, Andrew oder Franz. Und so bleibt den beiden Verliebten kaum Zeit füreinander. Diese kurzen Episoden indessen sind voller Poesie und Wehmut. Sie werfen ein Licht auf eine Zeit, die uns fern scheint und es nicht ist: Auf eine ferne Nähe.

Da ist das Paris zwischen den Weltkriegen. Eine Metropole voller Eleganz und Schönheit und Freigeisterei. Sie zieht Raimund und seine Freunde gleichermaßen in ihren Bann. Raimund aber verlässt den Ort seiner Freiheit voller Wehmut und ahnt, dass er damit zugleich die Metropole der Moderne verlässt.

Und heute?

Nochmal: Es ist die Vorahnung einer Katastrophe, die wie ein Basso Continuo auch jene Szenen unterbestimmt, die das Liebesglück und die Banalität des Alltäglichen beschreiben. Am Horizont indessen flimmern bereits die Teufelsfinger des Zivilisationsbruchs.

Eine gewagte These: Für eine solche Zäsur finden sich immer auch Anzeichen. Zu jeder Zeit. So auch heute. Man muss nur die Augen öffnen und sehen.

Man kann sich fragen, woher die Intuition stammt, die den Autor Haffner auszeichnete. Denn Haffner zeichnete das Glasperlenspiel der Zivilisation in harmlosen Szenen des privaten Glücks und wusste dabei so vieles mehr als seine Zeitgenossen.

Gewiss ist dieser Roman ein autobiografisch gefärbtes Zeitdokument, das Haffner selbst nicht der Öffentlichkeit zugänglich machen wollte. An manchen Stellen wirkt es wie ein Tagebuch, das in Anbetracht des historischen Hintergrundes zu fesseln vermag. Übrigens: Haffners Ehefrau, eine Jüdin, floh 1938 ins Londoner Exil. Sie wusste, weshalb. Sie spürte die Gefahr. Der Autor wollte ihr auch bald folgen. Die Liebe zu Teddy im Roman indessen könnte eine Reminiszenz der frühen Liebe Haffners zu Gertrude Joseph sein, die er auch in seinem Buch Geschichte eines Deutschen erwähnte.

Vielleicht ist es die Liebe in den Zeiten der Gefahr, die ihn hellsichtig werden ließ.

Abschied erinnert an vielen Stellen, dem Ton nach, an Vertreter der Neuen Sachlichkeit, etwa an Erich Kästner in dem Roman Fabian. Man taucht in diesen fatalistischen Schwung ein, um darin unvermittelt auf eine Unbehaustheit zu stoßen, die der Leichtigkeit keinen Abbruch tut, weil sie warnend obsiegt über die Plattitüden, die unseren Verstand verhexen. Haffner war ein blitzgescheiter Zeitdiagnostiker und man wünschte sich dieses Kaliber auch heute. Er ist unangepasst, gebildet, sensibel und vor allem: anständig. Eine Kombination, die nicht nur damals gefährlich war. Und die wir auch heute dringend brauchen.

Man sollte also Parallelen sehen. Sie drängen sich auf. Können wir daraus bitte lernen? Können wir so leben, dass wir uns nicht ständig gegenseitig belügen? Was also wäre zu lernen von diesem Roman am Rande der Verrohung?

Man könnte einwenden, dass in unzähligen Beschwörungsformeln und Ritualen längst alle Lehren gezogen wurden. Das Problem: Rituale bringen es nicht. Sie entstellen das Problem. Man muss stattdessen lernen, es im eigenen Leben selber zu sehen! Denn in unserem Alltag verbergen sich Herausforderungen, die ganz anders daherkommen als erwartet. Wir sollten uns von den alten Mustern lösen, um klar zu sehen, wo die Gefahr lauert. Eben wie Haffner in seiner Zeit.

Vielleicht also suchen wir auch nach falschen Mustern. Vielleicht verbirgt sich die Gefahr nicht dort, wo wir sie zu finden gewohnt sind. Es könnte sein, dass es darum geht, den Mut zu haben, die Dinge neu zu sehen. Dieser Roman gibt sachdienliche Hinweise dazu.


Jo Balle - 8. Juni 2025
ID 15295
Hanser-Link zum Roman Abschied von Sebastian Haffner


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