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Rezension

Wolfgang Büscher

Berlin - Moskau. Eine Reise zu Fuß


240 Seiten
Preis: EUR 17,90 [D]/EUR 18,90 [A]/SFr 30,70
ISBN 3-498-00631-2
Erschienen im Rowohlt Verlag, Reinbek
9. Auflage, Juli 2003

Wolfgang Büscher ist nach Moskau gegangen. Zu Fuß, vom Juli bis zum Oktober 2001. Warum genau er diese Wanderung unternommen hat, ist schwer zu sagen. "Sie jagen ihrer Phantasie nach", sagt ihm ein Kriegsveteran kurz vor der polnischen Grenze. "Warum laufen Sie dem Tod nach?"
Vielleicht ist Berlin - Moskau. Eine Reise zu Fuß, das Buch, das Büscher über seinen gut achtzig Tage dauernden Spaziergang nach Moskau geschrieben hat, die Beantwortung genau dieser Frage. Es ist bereits vor einigen Monaten in einer schönen Ausgabe, Hardcover mit Lesebändchen, im Rowohlt Verlag erschienen, hat aber mit dem Russland-Schwerpunkt der Frankfurter Buchmesse neue Aktualität gewonnen. Und es ist der Beweis, dass man nach Moskau gehen kann, ohne sich totschlagen zu lassen, wie der ehemalige Soldat mutmaßte, und ohne andere totschießen zu müssen, wie die Heeresgruppe Mitte im Herbst 1941, deren Weg Büscher eingeschlagen hat.
Die Route ist nicht weiter spektakulär: von Berlin über Küstrin nach Torun, von dort an Warschau vorbei möglichst zügig über die Grenze nach Weißrussland. Es ist nicht Polen, das Büscher interessiert, obwohl er mit der Suche nach dem Osten bereits dort beginnt. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Autor kaum ein Wort Polnisch spricht und seine Wanderung durch Polen hauptsächlich mit Hilfe eines Netzwerks von Deutschlehrerinnen bestreitet - ein Land "auf dem Weg nach Westen" liegt ihm ohnehin nicht.

Bloody Wostok
Östlich von Polen kann er sich dagegen sehr gut verständigen. Der Osten, das wird schnell deutlich, beginnt immer ein Stück weiter östlich. Von Torun aus ist es das heutige Ostpolen, von Bialystok das nahe Belarus. Und vom einst polnischen Westteil des Landes verweist man ihn wiederum Richtung Osten: "Wot Wostok". Die Wanderung führt ihn nach Minsk, von wo aus er die alte, schnurgerade Autobahn M1 entlang durch unendlich eintönige Landschaften, tiefe Wälder und weite Flusstäler bis in die Grenzstadt Orscha wandert. Über das russische Smolensk geht es weiter über Wjasma und Gagarin, bis er nach fast 2000 Kilometern Moskau erreicht.
Büscher ist 1951 geboren, sein Großvater starb im April 1945 auf den Seelower Höhen bei Berlin. Er hat noch ein persönliches Hühnchen zu rupfen mit dem Krieg, der ihm auf seinem Weg überall begegnet: in der schönen neuen Sowjetwelt der GUS-Staaten als Negativbild, in den Erzählungen der Menschen als gelebte Schicksale. Wahre Epen kommen da an die Oberfläche: die polnische Gräfin Mankowska, die es aus Standesethos, Zähigkeit und polnischem Nationalstolz schafft, den Zweiten Weltkrieg zu überleben und ihre Familie zu retten; der russische Partisan, der aus einem deutschen Gefangenenlager flieht und als Mutprobe seine Geliebte in einem weißrussischen Dorf töten lassen muss; der deutsche Hauptmann schließlich, der mit seiner jungen jüdischen Geliebten hinter die russischen Linien flieht, um in Moskau von Stalins Geheimdienst abgeholt zu werden. "Der Osten ist ein Geschichtengrab", schreibt Büscher, "ein Tagebau des Tragischen, der Stoff liegt dicht unterm Gras." So dicht, dass er in Katyn, wo 1941 neben zahllosen Sowjetbürgern über 4000 polnische Offiziere und Intellektuelle vom russischen Geheimdienst NKWD ermordet wurden, direkt unterhalb der Grasnarbe bereits auf Knochen stößt.
Ein müdes Land hinter einer ernsthaften Grenze
Erst in Weißrussland beginnt für Büscher die Reise ernst zu werden. "Das müde Land", wie er einen Münchner Filmschaffenden zitiert. An der Grenze beobachtet er, wie die Zöllner mehrere Stunden mit Schmugglerinnen um ihre Billigware feilschen, doch fehlt ihm der ironische Grundton eines Radek Knapp, um darüber zu berichten. In Grodno ist es dann vorbei mit Dusche und Handtuch im Hotel, und das unweigerliche Kiewskij Kotlet wird ihn von nun an bis kurz vor Moskau begleiten. Hinter der "ernsthaften Grenze" liegt Lukaschenkos postsowjetisches Reich, dessen Verfall in großen Städten wie Minsk von Aufräumbrigaden mit einem eingedrillten Elan konserviert wird.
Für Büscher ist es das Land der Gegensätze: die agrarische Einöde der endlosen Ebenen, die verwildernde Zone von Tschernobyl im Süden, die er mit Arkadij, einem seiner zahllosen Reisebekannten bereist, der 11. September schließlich, den er fassungslos im Fernseher des Witebsker Kulturpalastes erlebt. Und es ist das stets von den geschichtlichen Gegebenheiten versehrte Land, das ihn umtreibt. Nicht erst Napoleon zog hier durch, im Zweiten Weltkrieg konnten die Weißrussen nur zwischen radikaler Polonisierung im Westen, Stalinschem Terror im Osten und Mord und Zerstörung während der deutschen Besatzung wählen. "Was sind wir nur für eine Nation?" stellt ihm in Minsk ein Demonstrant der Opposition die rhetorische Frage, kurz nach der verlorenen Präsidentenwahl. "Gar keine", lautet seine lakonische Antwort.
Wie einst Mathias Rust
"Tief im Osten verschwinden", beschreibt Büscher den innigsten Wunsch seiner Reise, "noch tiefer." Vom Radar verschwinden - wie einst Mathias Rust auf seinem Flug zum Roten Platz, den Büscher allerdings nicht erwähnt. Er möchte so sein wie alle anderen, dazugehören. "Ich sah jetzt ganz und gar russisch aus", ein Mann mit Rucksack in Stiefeln, Hose und Hemd, der an einer großen Straße entlang von einem Ort zum andern zieht. "Ein Landstreicher in Russland, was denn sonst."
Und er fällt tatsächlich nicht auf, begegnet auf diesem Weg schreienden Greisen und freundlichen Trinkern, mürrischen Wäscherinnen und kultivierten Museumswärtern, er trifft einen Ex-Partisanen, einen Guru und eine orthodoxe Äbtissin, die ihr Kloster einer Karriere im neuen Russland vorzieht, und heult im Wunderwald von Boris-Gleb mit echten oder eingebildeten Wölfen. Orscha, Mojaisk, Wjasma, Gagarin lauten die Chiffren für den russischen Osten, und wenn es nur das Hotel ist: "Es hieß Wostok. Osten. Ich drückte die Holztür auf, trat ein und war im Osten."

Wolfgang Büscher hat vor allem ein ernstes Buch geschrieben, und es ist damit auch, nicht ohne Grund, ein sehr deutsches Buch. Oberflächlich betrachtet könnte man an Frühstück mit Bären des Amerikaners Bill Bryson denken, auch er Jahrgang 1951, und in der Tat lassen sich Parallelen finden: die Erfahrung des eigenen Körpers, die Urwüchsigkeit von Natur und Mensch, der Wunsch, etwas herauszufinden über ein bestimmtes Land. Doch hier enden auch schon die Gemeinsamkeiten. Der Weg nach Moskau ist nicht der Appalachian Trail, an dessen Rand Motels und Fast-Food-Restaurants warten, Büscher ist kein Wiedergänger von Bryson, und es ist auch nicht Wladimir Kaminer, der seine Heimat erwandert - der käme wohl gar nicht erst auf die Idee.
Büscher wählt einen sehr deutschen Weg, nach Russland zu gehen: nicht nur den der Wehrmacht, sondern vor allem einen inneren. Er will begreifen, ergründen, was an den einsamen, langweiligen und öden Landstrichen mit ihren einfachen und gebildeten, mal warmherzigen, mal kaltblütigen Menschen dran ist. Er will es vor allem artikulieren können und wählt dazu eine fast expressionistische, immer ein wenig atemlose Sprache.

In der Partisanenzone
Echte Männlichkeit ist auch im Spiel, nicht nur bei den groben Kolchosarbeitern von Jaludok, die ihn wissen lassen, er sei hier in der "Partisanenzone". Es gibt einen Kampf, Aug um Aug, lange antizipiert und garniert mit geheimen Bildern aus der Adoleszenz, der aber, nachdem er am Ende ausgetragen wurde, wie nichts verpufft. Ein Traum?
Und dann gibt es wieder Passagen, die nach Lebenshilferatgeber klingen: "Dreh dich nicht um. Geh weiter, auch wenn du es nicht verstehst. Du wirst es morgen verstehen." Sicher, die Erfahrung, den ganzen Weg gegangen zu sein, kann Büscher niemand nehmen. Und doch schimmert an solchen Stellen ein allzu deutsches Pflichtethos durch, das auch die bisweilen packende Sprache nicht bändigen kann.
Büscher ist nicht der Erste und nicht der Letzte, der seine Füße gebraucht und darüber schreibt. Seine Paten heißen Johann Gottfried Seume oder Theodor Fontane, Michael Holzach oder Werner Herzog. Heutzutage über das Laufen zu schreiben heißt eben auch, den Anachronismus der Moderne, der in ihren unterschiedlichen Geschwindigkeiten besteht, zur Sprache zu bringen. Was nehmen wir wirklich aus einem über die Autobahn, zumal über eine einsame russische Autobahn brausenden Auto heraus wahr, ein Gefühl, das Büscher mit einem "Transatlantikflug" gleichsetzt? Der Wanderer ist da tatsächlich nichts anderes als "ein unidentifizierbares, allenfalls bemitleidenswertes Ding", das sich in den Staub der Straße drückt. Aber er hat wenigstens etwas erlebt.
"Was machen wir jetzt?"
Kurz nach der ersten Kälte erreicht er in Mitten von Kaufhäusern und vorbeiziehenden Luxuslimousinen Moskau. "Kaukasische Männer standen herum, in ihren Fingern spielten Rosenkränze und Banknotenbündel, sie wunderten sich, als ein komischer Penner mit brennenden Augen und einem heiseren Jubelschrei auf das Ortsschild von Moskau zulief und es umarmte. Er war da."
Doch die Luft ist raus, und der Nachspann liest sich wie ein Stück aus einem billigen Krimi. Das Schriftstellerdorf Peredelkino und Boris Pasternaks Haus besucht Büscher mit Anzug und der Staatskarosse eines befreundeten "neuen Russen", und im Wagen wartet immer schon Natascha auf ihn und fragt: "Was machen wir jetzt?"
Beim Leser bleibt am Ende von Berlin - Moskau das Gefühl zurück, das sich nach dem Besteigen eines Berges einstellt: wer rauf geht, muss immer wieder auch runter und kommt meistens dort an, wo er aufgebrochen ist. Fast drei Monate Wanderung durch die tiefsten Tiefen des geheimnisvollen Ostens sind nach 230 Seiten quasi ausgelöscht. Denn Moskau ist anders. Moskau ist schon wieder Westen. Und der Hit "Ja ljublju tebja", der in sämtlichen Dorfkneipen dudelte, ist allenfalls noch etwas für die Berliner Russendisko.


p.w. - red. / 30. September 2003



 
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