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Leseprobe

Leseprobe aus:

BÖHRES, Franz / BÖHRES, Susanne:

Aus dem Schatten der Geschichte von Bacharach bis Worms. Erlebniswandern in Rheinhessen, Hunsrück, Mittelrhein

Verlag Ernst Probst, ISBN 3-935718-80-2

Die Stadt unter der Stadt -
das unterirdische Oppenheim


Wie kaum eine andere Stadt Rheinhessens birgt Oppenheim diese Fülle von Kulturdenkmälern: Katharinenkirche, die Burgruine Landskron, das historische Rathaus und Altstadt sind unter ihnen die Herausragendsten. Doch die Wein- und Festspielstadt an den sonnenverwöhnten Rebhängen der Rheinterrasse hat dem Kunstsinnigen noch eine zweite - fast ist man geneigt zu sagen - sinistre Seite zu bieten: Ein unterirdisches, viele Kilometer langes Gang- und Gewölbesystem, das in Deutschland wohl seinesgleichen sucht. "Innerhalb der ehemaligen Stadtmauern des 13. Jahrhunderts und der ebenfalls mauerumwehrten Stadterweiterungen stehen heute etwa 500 Häuser auf 320000 qm. Von fast jedem Haus sind Keller- und Ganganlagen zu erreichen". So sind mittlerweile rund 480 Kellersysteme bekannt. Der exakte Verlauf des unterirdischen Gangsystems ist weitestgehend unbekannt. Seine Erforschung gerade im Hinblick auf die archäologische und stadtgeschichtliche Bedeutung ist zur Zeit in vollem Gange. "Das Bestreben der Stadt Oppenheim um Aufnahme in das Städtebauförderungsprogramm war Ausgangspunkt zu einer intensiven und wissenschaftlich fundierten Untersuchung der Keller- und Ganganlagen".

Oppenheim, Krämerstraße 29. Hier ist in einem unterirdischen Kellergewölbe ein, für Rheinhessen einzigartiges Museum eingerichtet worden. "Mit rund 140000 DM aus dem Städtebauförderungsprogramm wurde der Keller nach den Plänen der Gesellschaft für Stadtentwicklung und Städtebau Worms (GSW) saniert". Von der Stadt Oppenheim angemietet, bietet das Dokumentationszentrum in der Krämerstraße auf Bild- und Texttafeln, sowie durch eine Reihe ausgewählter Fundmaterialien Einblicke in die Geschichte und Entwicklung des unterirdischen Gangsystems. September 1996. Zum "Tag des offenen Denkmals" öffnen sich die Pforten des neuen Dokumentationszentrums zu einer Exkursion in Oppenheims Tiefen. Vor einer unscheinbaren Kellertür in der Krämerstraße versammelt sich eine größere Gruppe von Besuchern. Ein kühler Luftstrom steigt aus der Tiefe. Ausgetretene Treppenstufen führen hinab ins Dunkel, der Abstieg stieg beginnt. Vereinzelte Glühbirnen werfen mattgelbe Lichtinseln. Generationen von Menschen haben die Sandsteinstufen ausgehöhlt, gingen hier unten Verrichtungen nach, deren Sinn sich uns nur schwer wenn überhaupt erschließen wird. Vieles wird, trotz intensiver Forschung, im Dunkel der Vergangenheit verborgen bleiben. Ein etwa halbstündiges Video zeigt den Besuchern zunächst die Geschichte der Erforschung, Dokumentation und Sicherung dieses in Deutschland einzigartigen Kulturdenkmals, bevor wir uns in spärlich beleuchtete Seitengänge wagen.

Kilometer weit ziehen Gänge durch den anstehenden Lößboden, verbinden Kellergewölbe und Brunnen. Manchmal führen die Gänge in drei Ebenen übereinan-der, "die unabhängig voneinander verlaufen oder auch über steile Treppen miteinander verbunden sind ... Von einzelnen Kellern gehen oft bis zu vier Gänge ab, über die wiederum andere Keller erreichbar sind. Jedoch nicht alle Gänge verbinden Kellerräume miteinander, häufig enden sie auch im anstehenden Löß oder mit einer Mauer. Nicht selten findet sich hier ein Brunnen oder eine Zisterne". Die Bautechniken sind durchaus vielfältig: von direkt in den weichen Löß gestochenen, unverkleideten Gängen reicht die Palette über in Ziegel oder Naturstein ausgemauerte, bis zu verschalt gemauerten Gangabschnitten. Für Belüftung und Beleuchtung sorgt ein ausgeklügeltes System von Luftschächten und Lichtnischen. Letztere sind meist spitzgieblig oder in Form rechteckiger Nischen ausgeführt. Ihnen kommt nach Oberhaus eine weitergehende Bedeutung zu: "Die Nischen werden aber in Oppenheim auch "Mautlöcher", "Mazellöcher" oder "Gerechtigkeitshäuschen" genannt, was auf eine weitere Bedeutung hinweist: Die Nischen dokumentieren in dem Bauwerk, in dem sie eingebaut sind, wem es gehört: Sie weisen auf den Besitzer, d.h. das Grundstück, zu dem sie gehören. Sie finden sich deshalb nicht nur unterirdisch, sondern auch an Hauswänden und Gartenmauern". Eine überaus sinnvolle Einrichtung angesichts der verwirrenden Gangverläufe, welche sich eigentlich selten bis nie an die aktuellen Grundstücksgrenzen halten und eine klare Besitzzuweisung erschweren würden. Letzteres erschwert auch die Erforschung, Sanierung und spätere Nutzung. Nur die wenigsten Anlagen gehören der Stadt; über 90 % der Kellergewölbe sind im Privatbesitz.
Viele Keller- und Gangabschnitte wurden im Laufe der Jahre verfüllt oder sind durch drohende Einsturzgefahr nicht mehr begehbar. Große Probleme bereitet daher der bauliche Zustand vieler Gangabschnitte. Durch Kanalisationsarbeiten und die Verkehrsbelastung, gerade in den engen Altstadtgassen, wurden bereits umfangreiche Gangabschnitte vernichtet. Es ist nicht auszuschließen, dass sich unter dem Marktplatz bis zum Bau einer Zisterne in den 30-er Jahren unseres Jahrhunderts verschiedene Gänge kreuzten. Bei seinen intensiven Bemühungen um die Erforschung des Oppenheimer Gangsystems befragte Lorenz Frank ehemalige Arbeiter, die bei dem Bau der Zisterne seinerzeit mitwirkten. Obwohl genauere Hinweise nicht zu erhalten waren, konnte doch zumindest die Existenz einiger Gänge bestätigt werden. Für die Wissenschaftler blieb die Unterwelt des Marktplatzes bis heute ein weißer Fleck. Pia Heberer beschreibt recht drastisch die Folgen der Sorglosigkeit: "Diese jahrzehntelange Vernachlässigung hat sich durch Straßeneinbrüche und Schäden an Gebäuden bemerkbar gemacht. Vor einigen Jahren kam es sogar zum Einsturz einer ganzen Häuserzeile in der Schlossgasse". Da versinkt auch schon mal ein Polizeiwagen im Oppenheims unergründlichen Tiefen. So geschehen vor einigen Jahren, nachdem besorgte Anwohner, von merkwürdigen Geräuschen alarmiert, die Polizei verständigt hatten. Die herbeigeeilten Beamten mussten das Abrutschen ihres Streifenwagens in einen mehrere Meter tiefen und breiten Einsturztrichter hilflos zusehen. Auch hier hielten unterirdische Gewölbe der Last nicht mehr stand und brachen ein. Vor einer umfassenden wissenschaftlichen Aufnahme müssen daher zunächst umfangreiche Sanierungsmaßnahmen stehen. Noch bis in jüngster Zeit wurden Gangabschnitte und Gewölbe mit Schutt verfüllt. Immerhin erlaubt älteres Verfüllmaterial wenigstens in Ausnahmefällen die Möglichkeit einer ungefähren Datierung des unterirdischen Gangsystems: "Aus dem Verfüllungsschutt vieler Gänge wurden Fragmente von Hafnerware aus dem 17. Jahrhundert geborgen". Teile der unterirdischen Anlagen aber dürften weit älter sein und bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Wer einen gastronomischen Zwischenstop im GILLOT-HAUS am Marktplatz (Merianstr. 1-3) einlegt, wird im Schankraum einige Exponate aus den Tiefen Oppenheims bewundern können. So zeigt eine Vitrine mittelalterliche Bodenfliesen des 13. Jahrhunderts; Viertelrond-Fliesen sowie Fliesen mit Fischblasenmuster und stilisiertem Eichblattmotiv. Eine weitere Vitrine zeigt Trinkbecher, Henkelkannen, Frühsteinzeug und Doppelhenkelkannen mit Ausgusstüllen des 13. Jahrhunderts.
Solche Fundstücke erlauben eine exaktere Zeitstellung. So dürfte der Baubeginn, wie Michael Oberhaus vermutet, "... mit dem Ausbau der Stadt im frühen 13. Jahrhundert.." usammenfallen. Ein sorgfältig mit Quadersteinen ausgemauertes Kellergewölbe konnte in die Zeit der Stadtrechtsverleihung um das Jahr 1225 datiert werden. Kurioserweise befindet sich unter diesem mittelalterlichen Gewölbe ein weit jüngerer Keller, der kurz nach der Zerstörung der alten Reichsstadt durch französische Truppen im Jahre 1689 errichtet worden sein dürfte.
Schriftliche Zeugnisse liegen indes kaum vor. Pia Heberer zitiert zwei Quellen, die wenigstens ansatzweise gewisse Rückschlüsse auf ein unterirdisches Gangsystem erlauben: "Man findet zu Oppenheim ... tiefe Keller ..." (Merian, 1645). Wir unterstellen, dass Merian genauere Kenntnis des Gangsystems hatte - immerhin lebte und arbeitete er von 1617-1620 als Kupferstecher in der Werkstatt Johann Theodor de Brys in Oppenheim und ehelichte dessen Tochter Maria Magdalena. Aus dieser Zeit stammt die allseits bekannte Stadtansicht, die Oppenheim vor seinen großen Verwüstungen durch den Stadtbrand im Jahre 1621, den Dreißigjährigen Krieg und die Zerstörungen in der Folge des Pfälzischen Erbfolgekrieges des Jahres 1689 zeigt. Auch L. Wernher konstatiert 1925: "Oppenheim klingt hohl ... die vielen unterirdischen Gänge, die fast von Haus zu Haus die Straßen queren ..."
Einen weiteren Anhaltspunkt bieten die unterschiedlichen Gewölbequerschnitte und Gangtypen. Sie sind sicherer Beleg für die über Jahrhunderte dauernden baulichen Aktivitäten. Nach Michael Oberhaus sind bisher fünf Gewölbe- und Gangtypen erfasst worden:

A "Rundbogentonne, vom Boden aufsteigend. Die Höhe entspricht der Hälfte des Durchmessers. Wölbung meist über Bretterverschalung, Verschalungsspuren oft noch erkennbar.
B Rundbogentonne auf Widerlagermauerwerk. Sockelhöhe von 0,4 bis 1,5 m. Der Sockel, manchmal hervorkragend, dient meist als Auflage der Verschalung. Diese Gewölbeform wird im ausgebauten Zustand in Verschalungs- und Vergusstechnik, als Steinsetzung mit Backsteinen und auch nur ausgestochen, d.h. ohne Mauerwerk, angetroffen.
C Korbbogengewölbe. Seltene Form, die nur verputzt angetroffen wird. Sockelhöhe um 1,20 m.
D Dreiecksform auf Widerlagermauerwerk. Überspannt in der Regel nur geringe Breiten; variiert in der Sockelhöhe und den Winkelgraden. Spitzwinkel über besonders schmalen Gängen.
E Spitzbogentonne auf Widerlagermauerwerk. Wölbung über geringen Breiten. Sockelhöhe ca. 1 m".

Häufig finden sich im unterirdischen Oppenheim Kreuzgewölbe. "Bisher wurden im Untersuchungsbereich Rundbogentonnen mit Stichkappen, Römische Kreuzgewölbe und die Durchdringung der Dreiecksform angetroffen".
Oppenheims unterirdisches Gangsystem scheint kein Einzelfall zu sein. In seinem Buch "Wehrkirchen - Kirchenburgen" widmet Karl Kolb den Erdställen ein umfangreiches Kapitel. Kolbs Beschreibung der Erdställe erlauben gewisse Parallelen zu den unterirdischen Gängen Oppenheims. Von lokalen Abweichungen in Größe und baulicher Ausführung, deren Ursachen wohl in geologischen Gegebenheiten, Bedeutung und Funktion der unterirdischen Kammern und Gangsysteme zu suchen sind, einmal abgesehen, scheinen Erdställe eine weite Verbreitung gefunden zu haben. So stellt er einen Verbreitungsraum vom Elsass ostwärts über ganz Süddeutschland bis nach Böhmen, Mähren, Österreich und Ungarn fest. Die Beschreibung drängt den Vergleich mit Oppenheim geradezu auf. "Kleine, künstlich angelegte, unterirdische Gangsysteme, die der leichten Ausschachtungsmöglichkeit wegen sich gerne zumal im Lößbereich oder sonst in weichen jüngeren Schichten finden.." schreibt Richard Busch-Zantner. Die weiteren Ausführungen lassen wiederum Parallelen mit dem Oppenheimer Gangsystem erkennen: "Die Gänge sind nicht ausgemauert, sondern in das gewachsene Erdreich gearbeitet, der Deckenschluss ist wechselnd halbrund oder spitzbogig verlaufend, ein Umstand, der wohl kaum eine Parallelisierung zu "romanisch" und "gotisch" zulässt, sondern sich aus den statischen Notwendigkeiten des einzelnen Falles ergibt. An den Wänden sind Sitznischen, Abstellnischen, Tastlöcher, Ausweichnischen, Abstellnischen usw. eingelassen, auch Lichtnischen - erkennbar an den rußgeschwärzten Stellen - sind allenthalben erweisbar. Die Ausmaße bewegen sich samt und sonders in sehr engen Grenzen: die Höhe der Gänge schwankt zwischen der eines aufrecht stehenden Mannes bis zu Schlupflöchern, die kaum kriechend zu passieren sind". Die Einfachheit von Ausstattung und baulicher Ausführung legt den zwingenden Schluss nahe, dass Erdställe nicht dauerhaft bewohnt waren. Ein Umstand, der ebenfalls einen Vergleich mit Oppenheim erlaubt. Kolb erwähnt ein Haus am Marktplatz des Städtchens Lauf mit Felsenkeller, Brunnen und Freipfeiler. "Eine Falltür im Fußboden führt über 42 Stufen in die Tiefe eines ganzen Kellersystems aus Tonnengewölben und Sälen". Nicht nur unter Häusern und Höfen sind Erdställe zu finden. Auch verschiedene Wehrkirchen sind untertunnelt. Nicht selten führen Kellergewölbe und Gänge bis unter die Friedhöfe. Mag das Phänomen unterirdischer Anlagen auch kein Einzelfall darstellen, so dürfte das Oppenheimer Keller- und Gangsystem in der Reichhaltigkeit seiner Bauformen, seines labyrinthischen Verlaufs und in dieser Größe einzig in Deutschland sein.
Es stellt sich die Frage nach der Funktion der unterirdischen Stadt. Sicher wurden und werden noch heute einige Kellergewölbe als Weinlager und zur Aufbewahrung von Vorräten genutzt; in den Bombennächten und -tagen des 2. Weltkriegs boten sie vielen Bürgern Oppenheims Schutz und Zuflucht. Überhaupt hatte Oppenheim in seiner wechselvollen Geschichte immer wieder unter Stadtbränden, kriegerischen Auseinandersetzungen, Belagerungen, Plünderungen und Brandstiftungen zu leiden. Vor diesem Hintergrund wäre die Anlage eines labyrinthischen Systems unterirdischer Fluchtgänge und Schutzräume zum Zwecke des Rückzugs im Kriegsfalle eine mögliche Erklärung. Gegen eine militärische Nutzung spricht, so Lorenz Frank, dass keine Verbindung des Gangsystems mit der mittelalterlichen Stadtmauer wie auch der Burg bisher nachgewiesen werden konnte. Fragen, welche nur eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der unterirdischen Anlagen klären kann.

Ernst Probst / Juli 2002


Ernst Probst, Im See 11, 55246 Mainz-Kostheim
Telefon 06134/21152, Fax 06134/26665, E-Mail verlagernstprobst@web.de


Verlag Ernst Probst: www.verlagernstprobst.de

 
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