"Ich beschreibe nur, wie ich es erlebt habe"
Zum 90. Geburtstag des Triester Schriftstellers Boris Pahor

Manchmal, wenn man die letzte Seite eines Romans erreicht hat,
verspürt man den Wunsch, den Autor oder die Autorin kennenzulernen:
um zu erfahren, ob er oder sie selbst hinter dem Ich-Erzähler oder der
Ich-Erzählerin steckt und ob er oder sie das Verhalten des Helden oder
der Heldin tatsächlich gutheißt; ob die beschriebenen Orte tatsächlich
auch existieren - man würde diese Orte gern selbst aufsuchen, um
manches von dem Beschriebenen noch einmal nachzuempfinden.
Hat man die letzten Zeilen der zwei bislang aus dem Slowenischen
übersetzten Romane von Boris Pahor gelesen, verspürt man kaum den
Wunsch, die Handlungsorte zu besuchen. Und nachempfinden will man auch
nicht. Man weiß, man kann es nicht. Denn diese Orte sind die KZs
Natzweiler, Dachau und Bergen-Belsen (in Nekropolis) und ein
Sanatorium bei Paris (in Kampf mit dem Frühling). Dennoch würde
man diesen Autor gerne persönlich kennenlernen, vor allem seinen Augen
begegnen - jenem Körperteil, in dem sich üblicherweise die menschliche
Seele spiegelt, der in den seelenlosen Zeiten eben nur zu einem Organ
reduziert wird, und zwar dem einzig lebendigen, in dem man noch den
dünnen Hauch des Lebens erkennen kann in einem Körper, der ansonsten
gleich einem Holzstück verkümmert ist. Dem stumpfen Anblick dieser
Augen ist Pahor tagtäglich in den KZs begegnet, die er ab April 1944
durchwandern mußte.
Und sitzt man nun Pahor gegenüber, wird man dem neugierigen, mal
schüchternen, mal festen Blick der sanften Augen eines sehr vitalen
Neunzigjährigen - geboren am 26. August 1913 - begegnen. Daß das Gespräch so spontan seinen Anfang
nimmt, verrät viel von der Offenheit des Schriftstellers - dem Gesprächspartner
flößt das Vertrauen ein. Und es wird schnell deutlich, daß hier die
Erfahrung des 20. Jahrhunderts spricht, genauer: das mitteleuropäische
Leben.
In Triest geboren, hat Pahor von klein auf die Kluft überbrücken müssen,
die sich permanent bedrohlich zwischen dem intimen Umfeld slowenischer
Landsleute und dem von der italianità durchsetzten öffentlichen
Leben Triests auftat. Der tradierte Gegensatz zwischen italianisierter
Stadt und slowenischem Umland wurde seit der italienischen Irredenta
im 19. Jahrhundert zu dem zwischen Kultur und Unkultur stilisiert;
unter der faschistischen Regierung der Zwischenkriegszeit wurde dieser
Gegensatz dann noch zu einem zwischen höherer und niederer Rasse
verschärft. Auf diese Weise offenbart die Erfahrung einer Grenze, die
ansonsten ausschließlich politisch konnotiert ist, ihre eigentliche
Bedeutung: Eine Grenze ist nur dort, wo es Ausgrenzungen im Alltag gibt,
wo sich das Persönliche am unzugänglich Öffentlichen bricht.
Kurz nachdem Pahor 1944 von seinem Dienst beim inzwischen aufgelösten
italienischen Militär nach Hause zurückgekehrt ist, wird er wegen seiner
linksgerichteten politischen Überzeugungen von der deutschen Besatzungsmacht
verhaftet, die ihn zunächst in das einzige italienische KZ San Saba
am Stadtrand von Triest steckt. Von da wird er dann eine Reise antreten
durch völlig neue mitteleuropäische Städtelandschaften - eben durch
Nekropolen.
Die dort erfahrene menschliche Erniedrigung läßt zwar den Glauben an
die Menschlichkeit fragwürdig erscheinen, war aber für all jene mit
Grenzerfahrungen weniger überraschend, als es den Nachgeborenen vorkommen
mag. Denn, wie Pahor in Nekropolis schreibt, "man hatte schon
in der Jugend alle Illusionen aus unserem Bewußtsein verbannt und uns
darauf getrimmt, nur noch radikales, apokalyptisches Unheil zu erwarten."
So hat man sich auch eine Ordnung, ein Leben und eine Beschäftigung im
KZ vorzustellen - in ihrer pervertierten Reduktion: als einen Ort wo
das Individuum in eine "lange deutsche Nummer" verwandelt wurde; wo
die Hoffnung, der Horizont des menschlichen Daseins, nur als matter
Abglanz ihrer selbst in den seltenen Augenbicken der Befriedigung
elementarer Bedürfnisse erscheint (ähnlich wie in J. Semprúns Was
für ein schöner Sonntag!); wo durch Arbeit der Mikrokosmos des
menschlichen Lebens nicht weitergebildet, sondern jederzeit ausgelöscht
werden konnte. Und so wird bei Pahor besonders deutlich, daß Auschwitz
kein Betriebsunfall der Geschichte war, sondern die auf die Spitze
getriebene Ausgrenzung im Zeitalter des radikalen Nationalismus.
Diese Erfahrungen bilden zwar den Stoff einiger seiner Romane, sie
sind aber kein "Erlebniskapital" (I. Kertész), ohne das Pahor als
Schriftsteller unvorstellbar wäre. Sein Selbstverständnis als Literat
sieht er nicht in der existentiellen Aporie "schreiben oder leben"
(J. Semprún), sondern in dem symbiotischen Prozeß "schreiben und leben"
erfüllt. Dennoch ist auch er mit dem Dilemma eines jeden Schriftstellers,
der den Holocaust überlebt hat, konfrontiert: Wie ist das Unaussprechliche
auszusprechen? Es scheint so, daß die am eigenen Leibe erfahrene
Apokalypse der Welt keine Belletristik, keine Dichtung hervorbringen
kann, eher den Drang zur Erklärung. So tritt Pahor mit dem Anspruch
auf "zu beschreiben, wie ich es erlebt habe". Der autobiographische
Charakter seiner Romane zeichnet sich durch dokumentarische Methode
aus und wird durch den Verzicht auf Metaphern verstärkt. "Mein Eindruck
damals war, daß die ganze Rettung des Menschen von dem wenigen Lebenssaft
in seinen Augen abhängig war", sagt er heute. "Dafür brauchen Sie keine
Metapher." Da seine literarischen Anfänge dem italienischen Neorealismo
(E. Vittorini) und den Autoren der amerikanischen Moderne (E. Hemingway,
W. Faulkner oder J. Steinbeck) geschuldet waren, hat die Lagererfahrung
Pahor in seiner Präferenz für den realistischen Stil zusätzlich
gefestigt.
Zwar hatte der Mensch unter den KZ-Bedingungen "weder Vergangenheit,
noch Zukunft", dennoch hieße es, Pahors Werk mißzuverstehen, würde man
die Realität des Lebens mit dessen radikaler Entzauberung gleichsetzen.
Der Mensch war auf die Vitalität seines Körpers reduziert, in dessen
letzten Regungen dennoch der Hauch der Hoffnung stets bewahrt geblieben
ist. Es ist keine ihm äußere geistige Kraft. Denn in den Lagern sind
bekanntlich nicht nur Millionen gestorben, sondern auch Gott. Der
Geist lebte nun in einem selbst, in Augenblicken der Liebe - zur
Natur und zur Heimat und vor allem zur Frau. Man mag nach der
Lagererfahrung desillusioniert gewesen sein, entmutigt und resigniert
war man aber nicht. Bei Pahor ist der Mensch nicht allein das Opfer
und nicht allein ein Schicksalsloser. Sein Roman Kampf mit dem Frühling
ist die Geschichte einer Rückkehr als unendliche Annäherung an die
Außenwelt, gerade über die Brücke, die für einen Mann nur die Liebe
zu einer Frau schlagen kann. Und überhaupt ist für Pahors Werk die
Apotheose der Frau charakteristisch, so daß sie in seinem Roman
Zibelka sveta ("Wiege der Welt") für diese Wiege steht, und
zwar die einer humanistischen Welt - "ohne Diktatur, ohne Töten, ohne
Maschinengewehre". Liebe ist für Pahor die "Transzendenz in der Immanenz".
Psychologisch betrachtet, läßt sich sein Werk im Horizont des Kampfes
zwischen Eros und Thanatos verorten, mit dem unüberhörbaren, heute so
selten zu vernehmenden optimistischen Grundton.
So überrascht es nicht, daß man nach der Lektüre der anderen, noch
nicht übersetzten Romane und Novellen eine noch breitere, lyrische
Dimension in Pahors Werk entdeckt. Es sind Stimmungsbilder seiner
Heimatlandschaft, des Meeres und des Karstes, die nicht um ihretwillen
dastehen oder etwa dem Erzählfortgang als Folie dienen. Es ist vielmehr
der Hinweis auf das elementare Empfinden der sengenden Karstsonne und
der peitschenden Bora, von Wohlgefühl und Schmerz, der die Gewißheit
eigener Wurzeln vermittelt. Denn kaum einer ist, wie der Mensch an der
Grenze, seiner eigenen Identität so unsicher. Sehnsüchtig sucht er nach
ihr, und sei sie auch nur im Stein und Wasser erfahrbar.
Umso schmerzhafter wurde die Erfahrung des KZ-Rückkehrers, von diesen
Wurzeln teilweise getrennt zu werden und von nun an in der ersten
geteilten Stadt Europas leben zu müssen. Die Triest-Krise als Vorbote
des Kalten Krieges, die Flüchtlingswellen aus dem nahen Istrien, die
verschwiegenen Verbrechen an Minderheiten in Italien stellen die
Nachkriegskoordinaten für die Identitätsbildung der slowenischen Ethnie
dar, zu der sich Pahor ausdrücklich bekennt. Er ist allzu sehr
homo politicus, um zum Sein nur über das literarische Schreiben
kommen zu wollen. Seine engagierten Essays druckte er in der von ihm
und seinem engen Kreis über Jahrzehnte herausgegebenen Zeitschrift
Zaliv ("Bucht"). Pahors Interventionen und Einmischungen in
die italienische Politik wurden von dem Wunsch nach der vollen kulturellen
und politischen Anerkennung der slowenischen Minderheit in Italien
getragen - und von dem nach Gerechtigkeit. Es ist eine auf der
historischen Aufarbeitung beruhende Gerechtigkeit den politischen und
den Opfern nicht-jüdischer Herkunft gegenüber: "Denn es war nicht
alles Shoa." So ist in Frankreich eine Initiative für die Einrichtung
eines Europäischen Zentrums für ehemalige deportierte Lagerinsassen
im Gange, wozu auch die Übersetzung von Nekropolis unmittelbar
beigetragen hat. Eine solche Gerechtigkeit soll nicht zuletzt als
Fundament des künftigen, von Pahor befürworteten vereinigten Europas
der Vaterländer dienen.
So ist das Leben von Boris Pahor ein Beispiel für eine Dimension der
europäischen Vergangenheit, der nun nach der Rückkehr Europas in seine
Mitte besondere Aufmerksamkeit gilt. Das Werk von Boris Pahor ist ein
Beispiel dafür, wie ein von der Gewalt des 20. Jahrhunderts
gezeichnetes Leben ohne Ressentiments dennoch eine universale,
humanistische Dimension bekommen kann.
Ein Beispiel zwar nur, das aber noch zu wenig bekannt ist.
Jovica Lukovic, Oktober 2003
Von Boris Pahor liegen auf Deutsch übersetzt vor:
Nekropolis, Berlin Verlag 2001, 256 Seiten, als Tb 2003.
Kampf mit dem Frühling, Klett-Cotta 1997, 378 Seiten.
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