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Austellungstermine: Berlin - DisORIENTation

DisORIENTation

Zeitgenössische arabische Künstler aus dem Nahen Osten Ägypten, Palästina, Libanon, Jordanien, Syrien, Irak

>>> 20. März bis 11. Mai 2003
>>> Haus der Kulturen der Welt


Berlin 030 – 397 87 180/183


DisORIENTation

Mit der Ausstellung DisORIENTation präsentiert das Haus der Kulturen der Welt vom 20. März bis 11. Mai 2003 in Berlin aktuelle Kunst aus Ägypten, Palästina, Libanon, Jordanien, Syrien und Irak. 13 arabische Künstlerinnen und Künstler suchen in der Ausstellung nach individuellen Antworten auf die Versuche kollektiver Vereinnahmung. Sie sehen sich weder als Repräsentanten einer - in ihren Ländern weiterhin gepflegten - ‚Nationalkunst’, noch lassen sie sich von ihrem westlichen Publikum ins ethnische Ghetto der Exotik und Andersartigkeit abschieben. Den Begehrlichkeiten und Vorurteilen eines politischen Voyeurismus begegnen sie mit einer Radikalität, die gängige Zuordnungen obsolet werden lässt. Was ihre Arbeiten in ihrer Singularität vereint, ist die Haltung „to resist and fight stereotyping and consequent death of genuinely living things“, wie Jack Persekian, der in Ost-Jerusalem lebende Kurator der Ausstellung schreibt. Kritisch hinterfragen die Künstler auch ihre eigene Rolle: Gibt es eine zeitgenössische arabische Kunst? Was bedeutet ‚das Arabische’ eigentlich?



Mapping Sitting – Cologne; Mapping-43a and Mapping-45: Mapping Sitting, a project by Walid Raad and Akram Zaatari; View of the “ID” section at the Palais des Beaux-Arts, Brussels, May 4 –26 2002; © Fondation Arabe pour l’Image

Die meisten Künstler werden im Haus der Kulturen der Welt mit zwei Positionen vertreten sein, mit einer Neuproduktion und einer Arbeit, die bereits in der Region gezeigt wurde. Die in Berlin entstehenden In-Situ-Arbeiten werden auf die hiesige Situation Bezug nehmen und die Rezeptionsbedingungen von Bildern aus der arabischen Welt mit berücksichtigen. Einige Künstler entwickeln ihre Arbeiten in Laboratorien mit Berliner Künstlern, Kunststudenten und anderen Beteiligten weiter. Durch solche „Labs“ – Diskussionsveranstaltungen, Workshops und künstlerische Koproduktionen - werden die künstlerischen Positionen zur Diskussion gestellt und der prozessuale Charakter des Projektes festgehalten.

„It seems to me that any attempt to set forth rigid categories or ‘typical’ themes that might define contemporary Arab art would run counter to what this body of work is all about. Diversity, subjectivity and subtle links are what I observe when I study this art, connections that offer a multiplicity of readings and enriching correlations.“
(Jack Persekian, Kurator)



Jananne Al-Ani: Untitled, 1998, C-type, One of a pair, (Arts Council Collection) © Jananne Al-Ani (London)
Mit Arbeiten von Ahlam Shibli (Haifa), Susan Hefuna (Deutschland/Ägypten), Ali Jabri (Amman), Khalil Rabah (Ramallah), Jumana Emil Abboud (Jerusalem), Lara Baladi (Kairo), Moataz Nasr (Kairo), Walid Raad (Beirut/New York), Akram Zaatari (Beirut), Lamia Joreige (Beirut/Paris), Roza El-Hassan (Budapest), Jananne Al-Ani (London), Salah Saouli (Beirut/Berlin) Ausstellung

„Satelite dish“ - © Lara Baladi, Egypt, 2001.

DisORIENTation

Inhalte / Materialien, zusammengestellt vom Haus der Kulturen der Welt, Berlin 2003:

„Arabic Pins and Swiss Caps “ 1-5 ;© Jumana Emil Abboud

Zeitgenössische arabische Künstler aus dem Nahen Osten

Einführung von Hans-Georg Knopp und Johannes Odenthal

Was wir im Deutschen den Nahen Osten nennen, heißt im Englischen Middle East, in der Arabischen Welt Mashriq (Osten im Gegensatz zu Westen, Maghreb). Historisch gesehen sprechen wir von Levante, einer kosmopolitisch organisierten städtischen Kulturlandschaft zwischen Antakya und Alexandria. Wie auch immer wir die Region benennen, wir transportieren mit der Bezeichnung entweder die europäische Perspektive, eine historische Kategorie oder reduzieren die multiethnische und multireligiöse Situation der Region. Deswegen ist eine entscheidende Voraussetzung für dieses Projekt im Haus der Kulturen der Welt, dass es nicht eine Region repräsentiert, auch keine Nationen, Religionen und auch nicht «die Araber». Alle partizipierenden Künstler und Intellektuelle verweigern sich diesen Zuschreibungen und Repräsentationen. Nur in diesem Sinne individueller Positionen ist das Projekt zu verstehen und nur auf dieser Ebene wird ein differenzierter Dialog mit der Region möglich.

Verständlich wird diese Position vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Zuspitzung in der Region. Die Konfliktlinien zwischen lokalen Traditionen und Globalisierung, zwischen Liberalismus und gesellschaftlichem Konservatismus, zwischen religiösen und ethnischen Gruppen verlaufen nicht so eindeutig wie in der Berichterstattung dargestellt. So wie der libanesische Bürgerkrieg nicht auf einen islamisch-christlichen Konflikt zu reduzieren ist – die Fronten wechselten zwischen allen Parteien, Christen und Christen, Moslems und Moslems – so können wir heute die Region nicht auf eine islamische, arabische, auf nationale oder ethnische Zuschreibungen festlegen. Für die eingeladenen Künstler und Intellektuellen gelten eben nicht jene vereinfachenden Zuschreibungen, wie sie in der westlichen Wahrnehmung vorherrschen. Die Künstler und Kuratoren kommen aus moslemischen oder christlichen Familien, beziehen sich auf den kosmopolitischen Lebensraum der Metropolen und bewegen sich zwischen internationalen Kunstszenen und eindeutig lokalen Positionen. In ihren Arbeiten emanzipieren sie sich ebenso von lokalen gesellschaftlichen oder politischen Restriktionen wie sie Position beziehen gegen ihre Orientalisierung durch den Westen. In diesem sensiblen Territorium von Begegnungen und Abgrenzungen ist DisORIENTation entstanden. Mit dem Palästina-Konflikt und der Irak-Krise ist die Region zudem Kampfzone weltpolitischer Machtverhältnisse geworden. Die Herausforderung an den Westen liegt vor allem darin, die Verhaltensmuster im Umgang mit anderen Kulturen zu überdenken und neu zu erfinden. Nur in der differenzierten Wahrnehmung und in der Auflösung vereinfachender Klischees wird eine dauerhafte und produktive Kommunikation, ein respektvoller Umgang miteinander möglich. DisORIENTation versteht sich hier als experimentelles Forum, der differenzierenden Begegnung Raum zu geben.

DisORIENTation ist ein Projekt mit Künstlern aus dem Libanon, Palästina, Ägypten, Syrien, Jordanien und Irak. Alle genannten Länder des Schwerpunktprogramms sind direkt von dem Palästina-Konflikt betroffen. Palästina selbst durch die israelische Besatzung, der Libanon durch die Lager der Palästinenser und den Bürgerkrieg als Folge des Konflikts. Jordanien, Syrien und Ägypten durch die Folgen der Kriege mit Israel. Und der Irak insbesondere durch die Verknüpfung von wirtschaftlichen und politischen Interessen in der Konfrontation mit dem Westen.

Die Konzeptionierung und Planung von DisORIENTation zusammen mit den Kuratoren aus dem Libanon, Syrien, Palästina und Ägypten folgte drei Hauptzielen:
1. In Beirut und Kairo hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren eine junge Kunstszene formiert, die zunehmend internationale Aufmerksamkeit gewinnt. Diese Szene ist entstanden ohne staatliche Förderungen, ohne Museen oder Theater für zeitgenössische Kunst. Es sind einige herausragende Persönlichkeiten, die den jungen Künstlern eine Sichtbarkeit gaben durch die Organisation von öffentlichen Foren wie dem Festival Ayloul in der Regie von Elias Khoury und Pascal Fegali, der Initiative Ashkal Alwan unter der Leitung von Christine Tohme, der Townhouse Galery in Kairo mit William Wells und Mai Abou Dabai, Al Almal in Ost- Jerusalem mit Jack Persekian als künstlerischem Leiter oder der Organisation Young Arab Theatre Fund mit Tarek Abou El Fathou. Dieser Kreis von Kuratoren, Intellektuellen und Künstlern steht nicht für die nationale Kultur der Länder, wie sie an Opernhäusern, in Museen oder an den Akademien nach europäischem Vorbild seit den 50er und 60er Jahren gebildet wurde. Sie haben sich vielmehr einen unabhängigen Raum erkämpft, gegen die Zensur, gegen nationale, traditionelle oder religiöse Etikettierungen, den sie auch gegen jede Vereinnahmung aus dem Westen behaupten. Viele dieser Künstler nutzen neue Medien wie Video, Fotographie oder Performancekunst. Sie arbeiten interdisziplinär und greifen aktuelle gesellschaftliche und politische Themen auf, die ihren künstlerischen Prozessen immer auch als Subtext unterliegen. Künstlerische Position bedeutet heute im Nahen Osten eben auch politische Position, nicht im Sinne politischer Agitation, sondern im Sinne der Aufdeckung und Abgrenzung verborgener Strukturen, in der eigenen Gesellschaft ebenso wie in der internationalen Begegnung. DisORIENTation stellt diese junge Kunstszene erstmals umfassend in Deutschland vor.

2. DisORIENTation ist ein Projekt gegen alle Hindernisse. Viele der Künstler sind sich bei den Besuchen in Berlin erstmals begegnet. Reisemöglichkeiten zwischen Palästina, Syrien, dem Libanon und Ägypten werden durch teilweise unüberwindliche Hindernisse auf ein Minimum reduziert. Das heißt, dass DisORIENTation eine Plattform von Begegnungen ist, ein Prozeß des Austauschs nicht nur zwischen Künstlern und Besuchern, sondern auch zwischen Künstlern und Künstlern. Berlin wird eine Art Third Space, in dem potenziell ein neuer Dialog beginnen kann. Deswegen konzentriert sich DisORIENTation auf die Neuproduktion von Werken, insbesondere in der Bildenden Kunst und in den Performing Arts. Im Zentrum stehen ebenso Begegnungen, Panels und Workshops, in denen arabische und deutsche Künstler auch für ein breiteres Publikum Einblicke geben in ihre Lebenssituation und Arbeitsweise.

3. Wir müssen die tiefe Verflechtung zwischen der kolonialen Neuordnung der Region nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches durch die Westmächte mit der Gründung eines jüdischen Staates in direktem Zusammenhang sehen mit der aktuellen Konfliktlage. Die europäische Perspektive ist nicht nur durch den Orientalismus, also durch die Erfindung der orientalischen Kultur im Westen, sondern auch durch die kolonial geprägte Zerteilung der Region in Nationalstaaten integraler Bestandteil der aktuellen Krise. Jede Vorstellung von Künstlern und Intellektuellen aus der Region in Europa muss diese Geschichte heute mitdenken. Denn die Konstrukte des Westens, insbesondere die Polarisierung von christlicher und islamischer Kultur, sind gängige Muster für die Rezeption der arabischislamischen Welt. Mit seiner Publikation Imperialismus und Kultur hat Edward Said sehr deutlich gemacht, dass die Kultur keine Schonzone ist, dass in Kunst und Kultur die Muster unserer Wahrnehmung und unserer Dialogbereitschaft vorgeprägt werden. Deswegen ist es ein wichtiges Anliegen dieses Projekts, den Schleier unserer Wahrnehmung aufzulösen, um die Situation in der Region objektiver verstehen zu können.

Der Kurator

Der Kurator

Jack Persekian, Palästina, ist Kurator für Bildende Kunst. Er ist Gründer und Leiter der Anadiel Galerie in Jerusalem und Direktor der Al-Ma’mal Foundation for Contemporary Art in Jerusalem. Seit 1997 arbeitet Al Ma’mal daran, das kulturelle Leben in Ost-Jerusalem wieder zu beleben und Publikum und Künstlern einen Raum für Kunst bieten. Die Stiftung initiiert und unterstützt zeitgenössische Kunstprojekte und Programme und fördert den Austausch zwischen lokalen und internationalen Künstlern.


Der geteilte Garten – Zur Ausstellung DisORIENTation

Von Michael Thoss

„Orientalism is a school of interpretation whose material happens to be the Orient“ (Edward W. Said)

Weil sie aus dem Irak stamme, sagt die in London lebende Jananne Al-Ani in einem Interview, würden ihre Foto- und Videoarbeiten ständig auf die Situation im Nahen Osten bezogen (1). Dieses Dilemma teilen mehr oder weniger alle 13 Künstlerinnen und Künstler, die an dem Ausstellungsprojekt DisORIENTation im Haus der Kulturen der Welt teilnehmen; unabhängig davon, ob sie in Ägypten, dem Libanon, Jordanien, Palästina oder in Europa heimisch sind. Obwohl die Prozesse der Globalisierung eine weltweit zu beobachtende Verwestlichung zur Folge haben, werden Künstler aus nicht-westlichen Ländern weiterhin ethnisiert und quasi in Sippenhaftung als Vertreter ihres Kulturkreises betrachtet. Dazu gehören auch die neuerdings zahlreich zu beobachtenden Versuche, arabische Künstler und Intellektuelle für einen vermeintlichen ‚Dialog mit dem Islam’ einzuspannen, den Politiker anscheinend nicht zuwege bringen. Man muss sich nur einmal den umgekehrten Fall vorstellen: Das Goethe-Institut würde junge deutsche Künstler in der islamischen Welt als Vertreter des Christentums vorstellen! Die an DisORIENTation teilnehmenden KünstlerInnen sehen ihre arabische Herkunft eher als kleinsten gemeinsamen Nenner. Weit mehr als eine vermeintlich gemeinsame regionale, arabische oder islamische Identität spiegelt sich in ihren Arbeiten die Erfahrung wider, durch den westlichen Blick ‚orientalisiert’(2) zu werden. Obwohl ihre Produktionen - ähnlich wie beim Film - längst nicht mehr an die Orte gebunden sind, an denen sie ‚spielen’, verortet sie die hiesige Kunstkritik meistens außerhalb des Hier und Jetzt. Dazu trägt nicht zuletzt auch die gegenwärtige politische Situation bei. Wer in der Ausstellung spektakuläre Positionen zum 11. September, dem israelisch-palästinensichen Konflikt oder einem drohenden Irakkrieg erwartet, wird mit gutem Recht enttäuscht. Denn in der Auseinandersetzung mit ihrer eigenen Herkunft und Geschichte ist es den KünstlerInnen von DisORIENTation geradezu ein Anliegen, die Dichotomie zwischen Eigenem und Fremden zu überwinden und mit den Clichés der Andersartigkeit zu brechen. In ihrem Video Edel Weiss Music Box führt uns Jumana Abboud auf einer Lichtung des Schwarzwaldes einen orientalischen Tanz vor Augen. Angetrieben von peitschenden Rhythmen schwenkt die Künstlerin ihren weißen Umhang als Symbol ungebundenen Freiheitsdrangs und weiblicher Selbstaufgabe. Susan Hefuna setzt sich mit den stereotypen Bildern vom Anderen auseinander, denen arabische Frauen in Europa begegnen. In ihrer Besucherumfrage im Ägyptischen Museum Berlin zur emblematischen Figur der Nefertiti (Nofretete) verweist die Künstlerin auf die Kontinuitäten stereotyper Wahrnehmungen des Orients im Westen. Kennzeichnend für die in Europa lebenden KünstlerInnen ist oftmals das Gefühl, hier wie dort, „Fremde in einem fremden Land“ (Susan Hefuna) zu bleiben (3). Ihre Identitäts- und Standortbestimmung sind - wie Roza El-Hassan es anhand der Essensgewohnheiten ihres syrisch-ungarischen Elternhauses beschreibt - Resultat eines permanenten Verhandlungs- und Vermittlungsprozesses zwischen unterschiedlichen kulturellen Codes, die sich innerhalb der Einwandererfamilien abbilden. Die Foto- und Videoarbeiten von Jananne Al-Ani setzen die familiären Beziehungen mit spielerischem Gestus in Szene. Die Künstlerin, ihre Mutter und Schwestern werden zu Darstellerinnen ihrer eigenen Geschichte, rekonstruieren und erzählen sie mit ihren Körpern nach. Am Schnittpunkt persönlicher Erinnerung und literarischer Fiktion inszeniert Lara Baladi die sieben Lebensstadien ihrer Großmutter im Dekor eines verfallenen Kairoer Hotels, das einst ihrer Familie gehörte. Ihre großangelegte Fotocollage beherbergt Feen- und Fabelwesen, Dollies und Dominas, weibliche Inkarnationen west-östlicher Archetypen. Mit der multimedialen Installation Mapping Sitting arrangieren Akram Zaatari und Walid Raad Tausende von Passfotos, Einzel- und Gruppenaufnahmen zu einem facettenreichen, mehrere Jahrzehnte umfassenden Panorama der sich urbanisierenden arabischen Gesellschaft. In Momentaufnahmen scheinen individuelle Schicksale auf, werden zum Ausgangspunkt künstlerischer Recherchen und Fiktionen. Solche psychosozialen Erinnerungsräume lassen die Mehrstimmigkeit des kollektiven Gedächtnisses sichtbar werden und knüpfen an mündlich überlieferte Geschichten an, die offiziellen Geschichtsbildern in der Region widersprechen. Lamia Joreiges Erzählung ‚Hier oder vielleicht woanders’ verfolgt anhand von Zeugenaussagen die Spur eines Verschwundenen im libanesischen Bürgerkrieg. Genauso wie in ihrer Videoinstallation ‚10 Gegenstände des Krieges’ schildert sie die jüngste Geschichte ihres Landes aus wechselnden und sich widersprechenden Erzählperspektiven. Ahlam Shiblis Fotoserie Arab El Nain erinnert an die Vertreibung ihres Volkes, indem sie das dürftige Leben in einem zerstörten Beduinendorf festhält, das auf keiner Landkarte Israels vermerkt ist. Einige von Khalil Rabahs Performances bestanden darin, Olivenbäume aus seiner Heimat Palästina in europäische Stadtzentren zu verpflanzen (wo sie angesichts des rauen Klimas und fehlender Zuwendung bald eingingen). Dieses Sinnbild für die kulturelle Einheit des Mittelmeerraumes mutiert bei Rabah zum Symbol der Migration und einer geraubten nationalen Identität. Die vielfach fragmentierte und zerstörte Kulturlandschaft des Nahen Ostens ist auch Gegenstand der Fotografien von Ali Jabri, die Starkstrommaste entlang einer neu eröffneten Autobahn abbilden, die Amman und mit Industrieanlagen am Roten Meer verbindet. Die karge Steinwüste, in der sich 1918 der arabische Widerstand gegen die Kolonialmacht formierte, wird heute von den Verwerfungen der neuen ökonomischen Weltordnung überlagert.

Die Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung pendeln regelmäßig zwischen Europa und dem Nahen Osten. Ihre Foto- und Videoarbeiten brechen bewusst mit den akademischen Traditionen ihrer Heimatländer, die weiterhin der Malerei und Skulptur den Vorzug geben. (…) Doch auch aktuellen Trends an den internationalen Kunstbörsen stehen die Künstlernomaden skeptisch gegenüber: Anstelle marktgerechter Formate oder Realität einfrierender Bilder entwickeln sie einen kontinuierlichen Erzählfluss, der neues und bereits vorhandenes Material (Gebrauchsfotografie, alte Filmausschnitte, Dokumentationen etc) miteinander verbindet und dadurch weiteren Bedeutungen erschließt. Hier wird aus sehr unterschiedlichen persönlichen Perspektiven eine Erinnerungsarbeit betrieben, die dem Privaten öffentliche Räume eröffnet und unterschwellige kollektive Befindlichkeiten zum Ausdruck bringt. So lässt Moataz Nasr eine ägyptische Schauspielerin Texte aus Youssef Chahins Film ‚Die Erde’ nachsprechen, in denen die Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderungen betont werden. In einer Doppelprojektion stellt der Künstler seinen Clip dem originalen Filmausschnitt aus den 50er Jahren gegenüber, so dass die Zuschauer das unangenehme Gefühl beschleicht: „Nichts hat sich geändert, wir reden und reden nur immer fort“(Nasr)

Das Verbundprojekt DisORIENTation versucht der Innen- und Außenperspektive der KünstlerInnen auf das Eigene gerecht zu werden und die essentialistische Perspektive alter und aktueller Orientalismen aufzudecken, die seit dem 11. September 2001 wieder Konjunktur haben. Denn so wenig der Begriff ‚Orient’ jemals als präzise geografische Bezeichnung taugte, so sehr bildet(e) er die fantasmatische Seite europäischer Eroberungsgelüste und Kolonialfeldzüge ab, die sich seit mehr als 200 Jahren in Bezeichnungen wie Levante, Proche Orient, Middle East oder Naher Osten widerspiegeln. Erschreckend dabei ist die Kontinuität der Selbststilisierung im spannungsreichen Verhältnis Europas und der arabischen Welt. Salah Saoulis Fahnen vor dem Haus der Kulturen der Welt führen nur eine kleine Auswahl der Heldenund Märtyrerikonographie vor, mit der sich Orient und Okzident jahrhundertelang gegenüberstanden.

Wie der türkische Kritiker Zeynep Sayin bemerkt, schuf sich der Westen mit dem ‚Orient’ sein verlorenes Paradies und transformierte derart seine eigene Vorgeschichte zum unbewussten Anderen. ‚Orientalisierung’ nennt er in Anlehnung an Edward Said jene Methode, durch die sich der Westen als absolutes Subjekt konstituieren und jenen Teil seiner selbst aussondern konnte, den er als ‚Orient’ zum Objekt seiner politischen und wissenschaftlichen Diskurse, aber auch seines künstlerisch-literarischen Schaffens erklärte (4). Diese Konstruktion des Orients als das per se Andere - egal ob in abstoßender oder verführerischer Gestalt - lässt die gesamte nichtwestliche Welt in unserer eigenen (verdrängten) Vorgeschichte erstarren und spricht ihr bis heute die Teilhabe an einer gemeinsamen Moderne ab.

Während die Wahrnehmung des Westens in der arabischen Welt über Generationen hinweg unverändert blieb, konstatieren heute immer mehr arabische Künstler und Intellektuelle - wie zuletzt Mahmoud Darwisch in Die Zeit - dass sich in der westlichen Welt „die Ansicht verfestigt hat, dass jeder Araber ein Muslim und jeder Muslim ein Terrorist ist“(5).

Als Hintergrund für die aktuelle Aufrüstungshysterie und die karikierenden und herabwürdigenden Bilder vom ‚Araber’, die gegenwärtig kursieren, sieht der tunesische Schriftsteller Abdelwahab Meddeb eine unbewusste Islamophobie des Westens, deren Ursprünge seiner Meinung nach im Mittelalter liegen (6). Doch der Orient liegt heute überall und in alle Himmelsrichtungen verteilt vor unserer Haustüre und insofern bezeichnet Orientalisierung auch längst kein Phänomen mehr, das sich auf die arabische Welt beschränkt. Es beschreibt eine Strategie der Verklärung, die eine neue Phase der Globalisierung und wirtschaftlichen Aufteilung der Welt rechtfertigen soll.

Die meisten der nach Berlin eingeladenen KünstlerInnen sind einander hier zum ersten Mal begegnet oder stellen zum ersten Mal miteinander aus. Die intensiven Diskussionen mit ihnen veranlassten uns, den Ansatz der Ausstellung ständig zu überdenken und neu zu formulieren. Regelmäßig kam die Befürchtung auf, die Bezeichnung ‚arabischer Künstler’ nähme sie hierzulande in Sippenhaft und ließe sie ungewollt als Repräsentanten einer - in ihren Heimatländern weiterhin gepflegten - Nationalkunst erscheinen. Kritisch stellten sie auch ihre Beteiligung am Programm DisORIENTation in Frage: “Gibt es überhaupt eine zeitgenössische arabische Kunst? Was bedeutet ‚arabisch, in diesem Kontext, einerseits für Araber selbst und andererseits für Europäer? Und schließlich, wie muss man das öffentliche Interesse und das Desinteresse des Marktes und Museumsbetriebes an Künstlern aus arabischen Ländern bewerten?“.

13 Künstlerinnen und Künstler, die heute zwischen Europa und dem Nahen Osten leben, versuchen in der Ausstellung DisORIENTation individuelle Antworten auf die Versuche kollektiver Vereinnahmungen zu geben. Was ihre Arbeiten in ihrer Singularität vielleicht am stärksten vereint, ist jene Haltung, die der in Ost-Jerusalem lebende Gastkurator Jack Persekian mit den Worten beschreibt: „To resist and fight stereotyping and consequent death of genuinely living things“.

1) Jananne Al-Ani im Interview mit Gill Addison s. Katalog S.X
2) Edward W. Said: Orientalism, New York1979
3) Susan Hefuna im Interview mit Rose Issa, s. Katalog S.
4) Zeynep Sayin: ‚Oryantalizmin Ötesi’, in Vigül 1, Okt. 1997, S. 2-6
5) in: Die Zeit vom 31.10.2002
6) A. Meddeb: Die Krankheit des Islam; Verlag Das Wunderhorn, 2002, S.232

DisORIENTation – ein Tagebuch

von Jack Persekian
Der nachfolgende Bericht von meinen Reisen und Nachforschungen versucht, die Umstände zu beleuchten, die dieses Ausstellungsprojekt auf so vielfältige Weise geprägt haben.

Donnerstag, 15. August ‘02
Die jordanische Hauptstadt Amman liegt nur 100 km östlich von Jerusalem, doch um den Grenzkontrollpunkt am Jordan zu passieren, braucht man eine Sondergenehmigung vom israelischen Innenministerium. Dessen Angestellte streiken aber schon seit fast vier Monaten. Zum Glück habe ich mein israelisches Reisedokument vor ein paar Monaten verlängern lassen, sodass ich das Land wenigstens über den Tel Aviver Flughafen Ben Gurion verlassen kann. Dieses unverzichtbare Dokument gibt es nur für die Einwohner von Jerusalem mit der Bezeichnung “resident”, (ansässig). Es ist ein Jahr gültig und umfasst ein Wiedereinreise-Visum, das es uns, - die wir nicht die israelische Staatsangehörigkeit besitzen, - erlaubt, in unseren Geburtsort zurückzukehren. Seit der israelischen Besetzung Jerusalems im Jahr 1967 haben dort geborene und wohnhafte Palästinenser den Status von “permanent residents”, also ‘dauerhaft Ortsansässigen’.
Mit Schwierigkeiten bei der Einreise nach Jordanien brauchte ich nicht zu rechnen. Da ich im Besitz eines amerikanischen Reisepasses bin, entgehe ich meist den üblichen Befragungen und ärgerlichen Verzögerungen, mit denen andere Palästinenser leben müssen. Ich gelte als Ausländer. Da ist natürlich mein nichtarabischer Name hilfreich.( Ich gehöre zur armenischen Gemeinde Palästinas, die seit dem 4. Jh. in Jerusalem ansässig ist. Siehe dazu: John H. Melcon Rose (1993): The Armenians of Jerusalem. London: Radcliff Press.)
Ali Jabri war der profilierteste Künstler, den ich in Amman getroffen habe. Bei unserer ersten Begegnung schien er verzweifelt darüber, dass es in Jordanien keine ernst zu nehmende Kunstszene gibt. Später wurde mir klar, wie völlig entfremdet und fehl am Platze er sich fühlte. Er konnte sich noch nicht einmal vorstellen, seine eigenen künstlerischen Vorhaben dort zu verwirklichen. Die jordanische Öffentlichkeit steht jeder echten künstlerischen Auseinandersetzung total desinteressiert gegenüber. Ali erklärte diese Gleichgültigkeit mit dem brutalen Bruch zwischen der aktuellen Situation und dem kulturellen Erbe der Vergangenheit. Als ich Ali von dem Plan einer Ausstellung im Haus der Kulturen der Welt erzählte, schlug er die Rekonstruktion eines verfallenen Wohnhauses vor, das ihm am Wüstenhighway zwischen Amman und Aqaba aufgefallen war. Er zeigte mir etliche Fotos dieses Ortes, darunter auch Nahaufnahmen. Eine solche Rekonstruktion verfallener Schönheit im Rahmen der Ausstellung würde, so erläuterte Ali, sinnbildlich nicht nur für Jordanien stehen, sondern für unsere gesamte Region, die er in einem Zustand der Orientierungslosigkeit und allmählichen Auflösung sah, letztendlich dem Untergang geweiht.
Während ich Ali zuhörte, wie er sich angesichts der Düsternis um ihn herum seine Frustration und Verzweiflung von der Seele redete, wäre mir nicht in den Sinn gekommen, dass die deprimierenden Zustände diesen leidenschaftlichen Mann selbst vernichten könnten: Am 2. Dezember 2002 starb Ali Jabri in seiner Wohnung in Amman; man hatte ihm kaltblütig die Kehle durchgeschnitten. Bis heute weiß niemand, warum es zu dieser Gewalttat kam, der Mörder ist nie gefasst worden. Ali Jabris grausamer Tod hat mich bis ins Innerste erschüttert; ein Verlust, den ich bislang nicht habe verwinden können. Er war zwar der älteste Künstler unserer Ausstellung, aber in seinem Herzen war er jünger als die meisten.
Dank einer E-Mail, die Ali mir knapp einen Monat vor seinem Tod geschrieben hat, konnte sein Projekt trotz allem Teil der Ausstellung werden. Er schrieb:

„An meinem letzten Tag im Haus der Kulturen der Welt, in seiner verträumten Parklandschaft so entrückt von unseren eigenen urbanen Verkommenheiten, gingen mir die Themen wie ‚Kulturverlust’, ‚Verstörung’ ‚Unterbrechung’, ’Auflösung’, ‚Verschwinden’ durch den Kopf. Dabei fiel mir meine Fotoserie vom Juni 2002 ein, die ich an der neu eröffneten Behelfsstrecke für LKWs nach Aqaba gemacht hatte. Damals hatte ich eine offizielle Erlaubnis einholen müssen. Kein Regime des Nahen Ostens duldet die Dokumentation staatlicher Infrastruktur. Man läuft immer Gefahr, festgenommen zu werden. Es ist die dauernde, paranoide Angst vor einer ausländischen Verschwörung ... Mein harmloses Motiv war die eindrucksvolle Abfolge von Hochspannungsmasten, die die Topographie der zerklüfteten Gebirgslandschaft und ihre inzwischen ausgelöschten Erinnerungen an die arabischen Aufstände von 1918 nachzeichnen, und zwar bis zur städtischen Enklave am Ufer des Roten Meeres ... Dauernd hatte ich Angst vor Fehlern, vor einem falschen Schwarz-Weiß-Film und der falschen Tageszeit (es war zu früh, wie mir bei der Rückfahrt zwei Tage darauf klar wurde, als diese stählernen Gerüste im Nachmittagslicht zu glühen schienen). Mein Vorschlag wäre, die eher missglückten Kodak T400 CN-Abzüge bis zur Höhe der fünf Säulenstellungen zu vergrößern, die als eine Art Wald im Eingangsbereich des HKW aufragen und sich im Laufe des Tages mit dem Licht verändern ... Eine zitathafte Abfolge von früher einmal kulturell aufgeladenen Landschaften, seit 25 Jahren naturalistisch abgebildet und jetzt in schwarz-weißer, linearer grafischer Darstellung als Embleme eines unwiderruflichen Wandels interpretiert.“

Sonntag, 18. August ‘02
Von Jordanien aus wollte ich weiter nach Syrien und in den Libanon. Normalerweise wäre es am günstigsten gewesen, von Amman aus eine bequeme dreistündige Fahrt nach Damaskus zu machen und von dort nach Beirut weiterzureisen. Die verkorksten politischen Verhältnisse in der Region erforderten aber eine andere Streckenführung: zuerst in den Libanon, dann nach Syrien. Wenn ich nämlich von Jordanien aus direkt nach Syrien reise und dabei meinen amerikanischen Pass vorzeige, in dem als Geburtsort Jerusalem angegeben ist, merkt der Grenzbeamte sofort, dass ich direkt von dort komme. Um also jegliche Komplikation an der Grenze zu vermeiden, entschloss ich mich, meine israelischen Reisedokumente und alle anderen Unterlagen, aus denen man meine bisherige Reiseroute nach ersehen könnte, bei einem Freund in Amman zu lassen. So würden mir die Grenzbeamten die Einreise nicht verweigern, weil ich von “feindlichem Territorium” käme. Ich entfernte sogar das hebräische Etikett meiner Shampoo-Flasche für den Fall, dass man mein Gepäck durchsuchte. Fänden sie diese hebräische Aufschrift, könnte ich von Glück sagen, wenn sie mich nur ins nächste Flugzeug zurück nach Amman setzen. Weil ich meine Mission nicht gefährden wollte, beschloss ich schließlich, zuerst in den Libanon zu reisen. Ich bestieg in Amman ein Flugzeug nach Beirut, wo man mir zu meiner Überraschung als Amerikaner die Einreise ohne Visum genehmigte.(...)
In Beirut traf ich Akram Zaatari in der Arab Image Foundation, einer gemeinsam mit Walid Raad, Lara Baladi und einigen anderen Künstlern gegründeten Organisation. Raad und Zaatari hatten für die Foundation ein Projekt initiiert, das sich mit einer Sichtung hiesiger Fotoarchive aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befasst. Ihre Arbeit ist in vielerlei Hinsicht eine Pioniertat, denn sie durchforscht nicht nur diese fotografischen Archive und stellt Fragen über Fotografie und Abbild, Performance und Identität. Sie untersucht auch, welche Funktion das fotografische Portrait in der arabischen Welt als Ware, als Luxusobjekt, als Schmuck erfüllt; als Beschreibung von Individuen und Gruppen und als Einschreibung sozialer Identitäten. Raad und Zaatari präsentieren diese fotografische Praxis als Dokumente einer sich abzeichnenden Identitätsbildung nach dem Zusammenbruch des Ottomanischen Reiches und der Entstehung arabischer Nationalstaaten, andererseits auch als Beitrag zur Herausbildung “neuer Auffassungen von Arbeit, Freizeit, Spiel, Bürgersinn, Gemeinschaft und Individualität”. (Aus dem Vorwort von Walid Raad und Akram Zaatari zu dem Katalog “Mapping Sitting”, Mind the Gap und Fondation Arabe pour l’Image, Beirut (Libanon) 2002 (eigene Übersetzung).
Die Arbeit “Mapping Sitting” besteht aus seriell ausgestellten Fotografien und zwei Videofilmen in Wiederholungsschleifen. Sie umfasst Gruppenfotos, die wie Landschaften aussehen, und sogenannte “Überraschungsfotografien”. Dieses Projekt, das zurzeit durch Belgien und Deutschland tourt, zeigt eine ungewöhnliche Dimension und Art und Weise, sich mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Es auch war mir sehr wichtig, Lamia Joreige aus dem Libanon in der Ausstellung zu haben. Nach mehreren Diskussionen war ich überzeugt, ein Beitrag von ihr würde belegen, was ich als signifikanten Trend in der Arbeit mehrerer libanesischer KünstlerInnen ihrer Generation ansehe: ein Verwischen der Trennlinie zwischen Realität und Einbildung, Fakt und Fiktion. Bei einem Treffen in Berlin schlug sie die Arbeit “Objects of War” vor. Das Projekt besteht aus einer Videodokumentation mit Interviews, die sie mit Menschen aus dem Libanon geführt hat. Lamia bat jeden ihrer Gesprächspartner, einen Gegenstand vorzustellen, der für ihre persönlichen Erlebnisse im Libanonkrieg steht. Einige dieser Gegenstände werden ausgestellt. Weiterhin schlug Lamia “Somewhere, Someone” vor, als inszenierte Version einer Geschichte, die sie auf der Grundlage von Interviews verfasst hat. Darin wollen fünf fiktive Charaktere den Mord an einem Mann während des Libanonkrieges aufklären. Zahlreiche Objekte, die in dieser Geschichte vorkommen, werden neben der Publikation gezeigt. In beiden Projekten wird es dem Betrachter unmöglich, zwischen den authentischen, “wahren” Anteilen und der künstlerischen, “freien” Erfindung zu unterscheiden.

Donnerstag, 22. August ‘02
In Beirut musste ich mich bereits zusammenreißen, denn ich war innerlich schon mit den Schwierigkeiten meiner Syrienreise befasst. Brauchte ich ein Visum? Würden die syrischen Grenzbeamten herausfinden, dass ich aus Jerusalem stamme? Und wenn ja, wie würden sie reagieren? Wie sollte ich also unbehelligt über die Grenze kommen?
Ich fragte Freunde in Beirut, ob ich einfach mit dem Taxi nach Damaskus fahren könnte. Die meisten rieten mir dringend ab, da es viel zu riskant sei. Schließlich fiel mir ein, dass ich amerikanischer Staatsbürger bin. Warum sollte ich also nicht in der amerikanischen Botschaft in Beirut anrufen und um Auskunft bitten, welche offiziellen und inoffiziellen Gepflogenheiten bei der Einreise nach Syrien bestehen? Man sagte mir, dass ich in der Tat ein Visum bräuchte, ich in Beirut aber keines erhalten würde, weil es im Libanon gar keine syrische Botschaft gibt. Statt dessen müsste ich in ein nahe gelegenes neutrales Land wie etwa Zypern fliegen und dort ein syrisches Visum beschaffen. Aber nach Limassol zu fliegen und dort auf die Ausstellung eines Visums zu warten, war ein Risiko, das ich nicht eingehen konnte, schon weil es keinerlei Garantie gab, dass ich es überhaupt erhalten würde.
Als letzter Ausweg blieb ein Anruf bei Omar Amiralay in Damaskus. Er ist ein bekannter syrischer Filmemacher und Kurator des Filmprogramms von “DisORIENTation”. Seine Antwort erfolgte prompt. Er schickte ein Taxi, das er selbst öfter benutzt. Nach all der angstvollen Unruhe wurde ich nun mit ausgesuchter Höflichkeit in meinem Beiruter Hotel abgeholt und vor dem Eingang meines Hotels in Damaskus wieder abgesetzt. Ich musste beim Grenzübergang noch nicht einmal aus meinem klimatisierten Wagen aussteigen. Der Fahrer kümmerte sich um alle Formalitäten.
Es war mein erster Besuch in Syrien überhaupt. Ich war einigermaßen überwältigt, verwirrt auch (oder sollte ich sagen: desorientiert, um den Ausdruck “enttäuscht” zu vermeiden?). Hier war ich nun in Damaskus, aber von dem legendären Charme und der Schönheit, die meine Eltern immer wieder gepriesen hatten, keine Spur. Sollten die vertrauten Bilder meiner Eltern bloße Einbildung gewesen sein? Gab es irgendeinen einheimischen Künstler, der diese Disparität zwischen dem Damaskus meiner Phantasie und dem wirklichen vielleicht eingefangen hätte? Ich traf ein paar Künstler und Galeristen, doch was ich sah, wirkte selbstreferentiell und anachronistisch. Würde ich eine Ausstellung kuratieren, die einen Überblick aller künstlerischen Aktivitäten der Region geben wollte, hätte ich Künstler aus Damaskus eingeladen. Aber mein erklärtes Ziel ist es, neue Trends in der zeitgenössischen arabischen Kunst herauszuarbeiten und zu einer kohärenten Präsentation zu finden, welche die Arbeitsweise und die zugrunde liegenden konzeptuellen Rahmenbedingungen mit reflektiert. Die Entscheidung, ob Künstler und Arbeiten aufgenommen werden sollen oder nicht, erfolgt nach dem Kriterium der Kompatibilität ihrer ästhetischen Sprache mit der anderer Künstler, nicht aber nach der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Land, das in der Ausstellung vertreten sein sollte. Ich wollte vor allem individuellen Handschriften versammeln, die ihre Positionen ausarbeiten und ihre Ideen und Gedanken artikulieren können. So bin ich letztlich über geopolitische und regionale Vorgaben hinausgegangen, die im Haus der Kulturen der Welt definiert worden waren, und habe Künstler eingeladen, die zwar familiäre oder verwandtschaftliche Verbindungen in der Region haben, ansonsten aber auch anderswo leben. Ich verließ Damaskus traurig, aufgewühlt und mit leeren Händen.

Montag, 26. August ‘02
Während der Rückreise nach Amman begann ich mich mit einem anderen Problem herum zu schlagen: Sollte ich mich in den Irak wagen, immerhin ein bedeutender arabischer Nachbarstaat mit maßgeblichem Anteil an der Geburt der modernen arabischen Kunst? Doch ich musste die Risiken sorgfältig abwägen. Alle, die ich dabei nach ihrer Meinung fragte, antworteten einhellig mit “Nein”. Zuspruch kam nur von Mitarbeitern der palästinensischen Botschaft in Bagdad; auf eigene Faust zu reisen, kam auf keinen Fall in Frage. Ein Einzelreisender mit amerikanischen Reisepass im Irak wäre zu dieser Zeit, als Ressentiments gegen Amerikaner einen Höhepunkt erreichten, tollkühn erschienen. Würde ich andererseits auf offiziellem Wege über die palästinensische Botschaft einreisen, hätte ich mich in Bagdad völlig der Kontrolle irakischer Kulturbehörden unterwerfen müssen. Ich vermutete, dass diese Behörden ihre eigenen Auffassungen, vermutlich sogar ihre eigenen Vorlieben durchsetzen wollten. Überdies durfte ich, auf dem Höhepunkt der Spannungen und angesichts eines unmittelbar bevorstehenden Krieges, unter gar keinen Umständen Gefahr laufen, im Irak festzusitzen. Ich fuhr also nicht. Vor meiner Rückkehr nach Jerusalem stattete ich Ali Jabri noch einen Besuch ab. Diesmal war ich es, der sein Leid klagte. Es war meine letzte Begegnung mit ihm.

Sonntag, 8. September ‘02
In Palästina traf ich drei KünstlerInnen, die ich möglicherweise in die Ausstellung aufnehmen wollte. Die erste ist Ahlam Shibli. Sie lebt in Haifa, 150 km nördlich von Jerusalem. Haifa und Jerusalem liegen beide diesseits der so genannten ‚Green Line’ (Demarkationslinie). So würden mir die Straßensperren und Kontrollen der israelischen Armee erspart bleiben, wie sie in der gesamten Westbank und im Gaza-Streifen errichtet worden sind. Man kann auf diesen Strecken tagelang festsitzen. Stattdessen gelangte ich mit meiner Frau und unserem kleinen Sohn unbehelligt in nur drei Stunden nach Haifa.
Ahlam arbeitet mit Fotografie. Sie zeigte mir zwei Serien. Die erste dokumentiert ein trostloses und verlassenes Viertel, das allgemein als Wadi-as-Salib (Tal des Kreuzes) bekannt ist; ein Stadtteil, in dem einmal die reichsten palästinensischen Familien Haifas lebten. 1948 wurden die wehrlosen Anwohner von jüdischen Truppen mit Waffengewalt vertrieben. Heute stehen ihre geräumigen, gemauerten Häuser fast völlig leer. Im Gegensatz dazu zeigt die zweite Serie Aufnahmen des dicht bevölkerten Dorfes Arab El-Na’im. Dessen Bewohner sind zum Großteil Nachkommen der palästinensischen Flüchtlinge von 1948. Nachdem die Dörfer ihrer Vorfahren dem Erdboden gleichgemacht waren, fanden die Bewohner Unterschlupf im so genannten Arab El-Na’im. Die Siedlung wurde allerdings nach der israelischen Staatsgründung niemals anerkannt. Bis heute existiert sie offiziell nicht und ist auf keiner israelischen Landkarte verzeichnet.
Man könnte in Ahlams Arbeit einen dokumentarischen Fotografieansatz sehen, der das Leiden und die fortwährende Diskriminierung der Palästinenser in ihrer Heimat festhält. Doch überschreiten Ahlams Bilder die bloß journalistische Reportage über die bedrückende Alltagsrealität. Durch die klare und treffsichere Motivwahl hält die Künstlerin ihre gesamte Arbeit in der Schwebe zwischen den Schrecken der politischen Wirklichkeit und der Absurdität aller Diskriminierung und verleiht ihrem Werk eine ungeheuer lebendige Dimension. Mit einer solchen Perspektive bietet Ahlam dem Betrachter, der täglich von Medienbildern und ihren Polarisierungen bestürmt wird, einen ungewohnten, nüchternen Blick.
Die zweite Künstlerin, mit der ich mich beschäftigte, war Jumana Abboud. Sie lebt in Shafa- Amer, im Norden des Landes. Diesen Sommer kam sie allerdings zweimal pro Woche nach Jerusalem, um dort einen Kunstworkshop für Kinder zu geben, der von der Al-Ma’mal Foundation for Contemporary Art (Ich bin Direktor dieser Stiftung) in Zusammenarbeit mit einem der Gemeindezentren aus der Altstadt organisiert wurde. So hatten Jumana und ich ausreichend Gelegenheit zu Diskussion darüber, was sie im Haus der Kulturen der Welt ausstellen würde. Sie war soeben von einer sechsmonatigen Residenz aus dem schweizerischen Aarau zurückgekehrt, wo sie drei Videoperformances erarbeitet hatte. Die erste, „Edel Weiss Music Box”, zeigt Jumana, wie sie zu einer hybriden Mixtur arabischer Rhythmen tanzt. Unter Bezug auf Eugène Delacroix’ 1831 entstandenes Gemälde „Die Freiheit führt das Volk auf die Barrikaden“ formt die Performance aus dem Thema „französischer Nationalismus“ eine persönliche Aussage. Statt der Trikolore schwenkt Jumana eine weiße Fahne. Der Rhythmus steigert sich bis zu beseelter Trance und legt sich dann wieder wie ein Meer nach dem Sturm. Auf der wörtlichen Ebene ist ihre zweite Videoperformance „Al-Awda” (Die Rückkehr) wie das Märchen von Hänsel und Gretel angelegt. Auf der übertragenen aber problematisiert Jumana ein heikles Thema: die Palästinenser betrachten es als natürliches Anrecht und die Israelis verwerfen es als vollkommen inakzeptabel – das Recht der Palästinenser auf Rückkehr in ihre angestammte Heimat. In „Arabic Pins and Swiss Caps“, Jumanas dritter Videoarbeit, widmet sie sich einer Art Kinderspiel: Sie klemmt sich Stecknadeln zwischen den Fingernagel und das Fleisch ihres Daumens. Das erfordert anfangs volle Aufmerksamkeit und fast klinische Konzentration; jede übereilte Bewegung würde zu Verletzung und Schmerzen führen. Doch nach und nach nimmt diese Beschäftigung den versunkenen Charakter eines kindlichen Zeitvertreibs an.
Im Gegensatz zur Mühelosigkeit, mit der ich Ahlam Shibli in ihrer Wohnung besuchen und mich mit Jumana Abboud in meinem Büro treffen konnte, war die Begegnung mit Khalil Rabah, meinem langjährigen Freund und Kollegen in Ramallah, ein echtes Problem. Obwohl seine Wohnung nur acht Kilometer von meiner Jerusalemer Adresse entfernt liegt, kann er nicht in die Stadt. Alle Palästinenser in der Westbank und im Gazastreifen leben seit Monaten gleichsam im Belagerungszustand. Es ist ihnen strikt verboten, andere Landesteile aufzusuchen. Ich meinerseits konnte mir eine Reise zu ihm nicht leisten, weil die israelischen Straßensperren und Militärkontrollposten meine Acht-Kilometer-Reise auf einen gesamten mühevollen Tag ausdehnen würden. Nach einigen kurzen Treffen in Ramallah beschränkten wir uns auf telefonische Unterhaltungen.
Auf der Grundlage von Ideen, die wir während dieser Telefonate entwickelten und die sämtlich Fragen der individuellen und nationalen Identität berührten, wurde mit klar, dass Khalil sich auf das Thema Olivenbaum konzentrieren wollte. Er war inmitten alter Olivenhaine aufgewachsen, und dieses natürliche Merkmal der Landschaft ist von Palästinensern überall auf der Welt zu ihrem nationalen Symbol erkoren worden. Ich stellte mir Khalils “Olive Tree” als eine Art Laboratorium vor, in dem die Bedeutung des Olivenbaums untersucht, analysiert, dekonstruiert und wieder neu zusammengesetzt werden kann. Dieser Prozess würde sich zunächst auf den physischen Aspekt des Baumes beschränken, dabei aber auch die ihm anhaftenden kulturellen, geographischen, politischen und symbolischen Bedeutungsschichten offen legen. Der Betrachter würde in dem Baum somit nicht mehr nur eine dingliche Einheit sehen, bestehend aus knorrigem Stamm mit Zweigen und Blättern daran, sondern ihn auch als Quelle von Öl und Früchten wahrnehmen, auf dessen narbiger Rinde sich Staub, Insekten und Moos ansammeln. Diese Sichtweise würde dem Betrachter die Verwandlungen des Baumes selbst nahe bringen, seine territoriale Bedeutung und seine kulturelle Überhöhung. In einem solchen Rahmen erschiene der Baum als eigener Kosmos, als lebendiger Gegenstand mit politischen Konnotationen; er würde letzten Endes zum Material einer Kunst, mit deren Vokabular sich Präsentation und Repräsentation einer „nationalen Identität“ artikulieren ließen.

Freitag, 13. September ‘02
Mein nächstes Ziel war Ägypten. Wieder flog ich von Tel Aviv ab, was immer eine nervenaufreibende Prozedur ist. Das israelische Flughafenpersonal ist für seine unerbittlich strengen Sicherheitsmaßnahmen berüchtigt, und so wird jeder Palästinenser, ob Mann, Frau oder Kind, der sich auf dem Ben Gurion Airport einfindet, zum Verdächtigen. Ein Abflug aus Tel Aviv bedeutet jedes Mal stundenlange Verhöre, Leibesvisitationen, Verspätungen und endlose Warterei. Es beginnt schon an der Zufahrt zum Flughafengelände, wo arabische Autos – an ihren Nummernschildern leicht erkennbar – aus dem Strom der anderen Fahrzeuge ausgesondert werden. Sie müssen sich in eine Schlange einreihen und warten. Dann beginnt die peinliche Befragung mit einer Identitätskontrolle aller Insassen. Darauf folgt die Kontrolle jedes einzelnen Gepäckstückes. Zuletzt wird das Auto von allen Seiten, von innen und außen gründlich inspiziert. Betritt man das Flughafengebäude, muss sich jeder palästinensische Araber erneut anstellen, um durch die Röntgendetektoren zu gehen. Während sich alle anderen Passagiere den strikten, aber heute überall üblichen Sicherheitskontrollen unterziehen, müssen sich im Flughafen Ben Gurion die Araber stets zur Personenkontrolle in besonderen Warteschlangen einreihen. Bei den “nicht-jüdischen” Bürgern des Landes trauen die israelischen Sicherheitsbeamten noch nicht einmal ihren eigenen Durchleuchtungsgeräten. Stattdessen wird wieder jedes Gepäckstück genauestens untersucht. Es folgt eine Leibesvisitation hinter verschlossener Türe. Schließlich darf der Fluggast sich zum Check-in-Schalter seiner Fluglinie und zur Passkontrolle begeben, wobei ihn aber ein aufmerksamer Sicherheitsbeamter auf Schritt und Tritt begleitet. Bei früheren Reisen nach Kairo habe ich erlebt, wie Araber stundenlang festgehalten wurden. Selbst bei solchen mit ausländischem Reisepass wie mir schöpft man Verdacht, sobald der Name arabisch klingt. In meinem Fall, der ich mit amerikanischem Pass und armenischem Namen nach Ägypten unterwegs war, konnte ich aufatmen.
Meine Ankunft erfolgte pünktlich zur Eröffnung von “Photo Cairo”, einer Ausstellung in der Townhouse Gallery. Beteiligt waren vier KünstlerInnen. Eine Arbeit von Lara Baladi faszinierte mich besonders. (...) Nach langen Diskussionen mit der Künstlerin und dem Team das HKW sowie nach einigen Berlin-Besuchen im Oktober und November entschied sich Lara schließlich für ein vollkommen neues Projekt. „Sandouk El-Dounia” (Die Welt in der Kiste) besteht aus einer riesigen Stellwand mit mehr als 900 Bildern, die so angeordnet sind, dass sie einem traditionellen Brettspiel ähneln. Gleichzeitig stellen diese Bilder eine Miniaturstadt dar, deren Frauen als verzerrte Karikaturen in einem chaotischen urbanen Kontext erscheinen. Diese moderne Stadt verwandelt sich in ein Labyrinth, wo alle Schöpfung destruktiv wird und “wo inmitten des Chaos, das die bevorstehende Apokalypse markiert, die zentral Figur steht. Sie geht zurück auf Maha Kali (…), deren Zunge die kennzeichnende Geste der zerstörerischen Hindugöttin widerspiegelt. Dabei geht es um die Feststellung, dass aus der Finsternis das Licht entsteht, und dass es Weisheit, Klarsicht und Ordnung im Wahnsinn gibt; denn wie Kali besteht die Figur als Zeichen für die Notwendigkeit von Zerstörung um des Wiederaufbaus und letztlich um der Wiedergeburt willen.” (E-mail von Lara Baladi, 20. Dezember 2002)
In Kairo stellte mich William Wells, Direktor der Townhouse Gallery, Moataz Nasr vor, der vor kurzem ein interessantes Video auf einer geschäftigen Kairoer Straße aufgenommen hatte. Es zeigt das Spiegelbild mehrerer Gesichter in einer Wasserpfütze. Weil aber die Oberfläche immer wieder erzittert, kann man die Gesichter nie wirklich erkennen. Sobald der Spiegel sich beruhigt und die Gesichter sich abzuzeichnen beginnen, tritt jemand in die Pfütze und löscht die Konturen wieder aus. Moataz schlug vor, dieses Video in einem Kammer zu zeigen, auf deren Fußboden tatsächlich eine echte Pfütze wäre. Der Zuschauer könnte so die Videobilder in der Realität nachstellen. Vom eigenen Spiegelbild in der schimmernden Oberfläche einer „strategisch platzierten“ Pfütze wäre der Betrachter dazu verlockt, das eigene oder womöglich auch das Abbild von jemand anderem zu zertreten.
Moataz schlug dann noch eine zweite Installation vor, die er eigens für die Ausstellung entworfen hat. Dabei stehen zwei Videomonitore einander gegenüber. Auf dem einen sieht man den Ausschnitt aus einem populären ägyptischen Spielfilm von Youssef Chahine. Ein alter Mann spricht zu einer Gruppe junger Bauern und erzählt, wie „zu seiner Zeit“ die Männer noch „ganze Männer“ waren, während es heute nur noch charakterlose Schwächlinge gebe. Auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes läuft gleichzeitig eine Nachstellung derselben Szene. Eine junge Ägypterin spricht mit denselben Worten zu einer Gruppe ganz normaler Besucher eines Kaffee- Hauses im Jahre 2003. Beide Ausschnitte haben dasselbe Timing und laufen mit derselben Geschwindigkeit ab, so dass der eine das Echo das anderen ist. Nichts hat sich geändert.

Dienstag, 1. Oktober ‘02
Ich bin unterwegs zum denkwürdigen ersten Zusammentreffen mit allen Beteiligten an der Ausstellung. Nach meinen Einzelbegegnungen mit den Künstlern in ihren Heimatländern freue ich mich besonders auf ein Wiedersehen mit Roza El-Hassan. Obwohl unsere Wege sich seit der Biennale von São Paulo 1998 nicht mehr gekreuzt hatten, sind wir in regelmäßigem Kontakt geblieben. Einmal habe ich sie sogar aus ihrem derzeitigen Wohnort Budapest zu einem Besuch und zu einer möglichen Ausstellung nach Jerusalem eingeladen. Das hatte sie jedoch abgelehnt, weil sie hin und wieder Verwandte und Freunde in Syrien besucht – das wäre durch eine Jerusalem-Reise in Zukunft wohl erschwert worden. Leider musste ich dann erfahren, dass es während ihrer Abwesenheit in ihrer Wohnung gebrannt hatte und sie nun mit ihrer kleinen Tochter irgendwo Unterschlupf finden musste. An eine Reise nach Berlin war nicht mehr zu denken.
Roza hat sich dafür entschieden, ein Bild ihrer Züricher Blutspende-Performance auszustellen, bei der sie und mehrere andere beim Roten Kreuz Blut gespendet hatten. Dabei hielt Roza ein zusammengerolltes Plakat in Händen, das Arafat bei der Blutspende für die Opfer der Anschläge vom 9. September zeigte. Über die Fragilität der Trennlinie zwischen politischem Aktivismus und Performance war sie sich im Klaren. Bei einer früheren Aufführung in Budapest lag das Plakat mit dem Blut spendenden Arafat nämlich offen ausgebreitet da. Das Motiv war dann von Rechtsextremisten umgedeutet und als Beleg dafür missbraucht worden, es müsse mehr Blut fließen, um die unerwünschten Elemente in der Gesellschaft auszumerzen. Mit ihrem syrisch-ungarischen Hintergrund ist Roza mit den Fallstricken bestens vertraut, die das Verhältnis zwischen Europa und dem Nahen Osten prägen. Es sind Unterschiede in Kultur, Mentalität und Religion. Dagegen bieten ihr die Heimat und ihre Familie einen festen Boden, auf dem Differenzen ausgeglichen und Unterschiede angenähert werden. Aus diesen Erfahrungen schöpft sie reichhaltiges Material für ihre Arbeit.
Jananne Al-Ani hatte ich bei „Homeworks” kennen gelernt, einem Kunstforum, das Christine Tohmé im März 2002 in Beirut organisierte. Al-Ani war eine echte Entdeckung. Im Rahmen unseres Berliner Zusammentreffens hatten wir die seltene Gelegenheit zu einer Form der Zusammenarbeit, von der wir sonst noch nicht einmal träumen können, seit ein Teil meiner Heimat vom Rest der arabischen Welt abgeschnitten ist. Schon während unserer hastigen Begegnung in Beirut war ich beeindruckt von Jananne und ihren Ideen, die sie in unserer Diskussion entwickelte. Die wenigen gemeinsamen Tage in Berlin ermöglichten einen konzentrierten Austausch über diese Themen und Anliegen und über unsere Erwartungen und Vorbehalte bezüglich ihres Projektes für Berlin. Jananne nahm die Örtlichkeit in Augenschein, bat sich Bedenkzeit aus und kam mit einem höchst interessanten Vorschlag zurück, der das Setting, das Gebäude und die Idee der Orientierungslosigkeit zusammen spannt.
“Mein Vorschlag sieht das sporadische Abspielen von stillem Gelächter in verschiedenen Teilen des HKW vor. Dieses Gelächter steigert sich immer weiter, wird ‘hysterisch’ und kippt schließlich um in Weinen und Schluchzen. Das Geräusch tritt nur gelegentlich und so leise auf, dass die Menschen glauben können, es ereigne sich irgendwo im Gebäude tatsächlich etwas, das man bloß gerade nicht sehen kann.” (E-mail von Jananne Al-Ani, 10. Dezember 2002)
Jananne schlug noch eine zweite Arbeit vor, die sehr eng mit ihrer früheren Auseinandersetzung mit Schleiern und Verhüllungen zu tun hat. Das Projekt sieht eine Videoprojektion in großem Maßstab vor, bei der eine Frau ihr langes dunkles Haar über ihr Gesicht hinabkämmt. Das Band läuft in Endlosschleife und man sieht immer nur die Kämmbewegung, aber niemals das Gesicht. Susan Hefuna lebt in Ägypten und Deutschland. Ich hatte ihre Arbeiten im Rahmen einiger Veranstaltungen der Townhouse Gallery in Kairo gesehen. Ich wollte sie schon zuvor für eine Residenz in der Jerusalemer Al-Ma’mal Foundation gewinnen. Gleich nachdem ich den Auftrag erhalten hatte, DisORIENTation zu kuratieren, meldete ich mich bei ihr. Ende Juli lag Susans Proposal vor. Sie wollte über eine Porträtbüste der Nofretete arbeiten, die im Westen als Inbegriff des Alten Ägypten populär geworden ist. Diese Ikone der Anmut ist in Werbung und Populärkultur allgegenwärtig. Durch die Beschäftigung mit dem altägyptischen Symbol wollte Susan die Bedeutung der Nofretete für Berlin, ihre Wahrnehmung durch die Bewohner der Stadt sowie den Einfluss untersuchen, den diese Büste auf das Bild von Arabern im Allgemeinen, Ägyptern im Besonderen ausübt.
In einem anderen Vorschlag, nämlich für das Video „Life in the Delta“, wirft Susan einen subjektiven Blick auf jenen Ort, der Teil ihres persönlichen Erbes ist; ein Ort, zu dem sie gehört und der ihre Persönlichkeit und Identität mitgeformt hat. Rose Issa schreibt über diese Arbeit:
“Susan Hefunas Arbeit handelt von Entwurzelung (displacement). Sie erzählt von der Komplexität eines interkulturellen Dialogs. Im Mittelpunkt stehen Fragen über Identität und Repräsentation des ägyptischen Volkes und der ägyptischen Frauen in der deutschen Diaspora. Hefuna spielt in ihrer Arbeit mit den unterschiedlichen kulturellen Codes und mit dem Umstand, dass es keinen ‘unschuldigen’ Blick geben kann – er ist immer schon kulturell konditioniert. Bei all diesen komplexen und vielschichtigen Erfahrungen – und insbesondere in der Spannung, die Hefuna, ausgebildet an deutschen Kunsthochschulen und mit deutschem/westlichem Denken vertraut, hinsichtlich der Stereotypen über moslemische Frauen im Westen empfindet – hinterfragt sie die Präsentation von und Sichtweise auf ägyptische Kultur und wie sie selbst sich in ihrer deutschen wie ägyptischen Diaspora einordnet.” (aus einem Gespräch zwischen Susan Hefuna und Rose Issa)

Mittwoch, 18. Dezember ‘02
Ich glaube, ich werde an dieser Stelle aufhören. Bis zur Eröffnung sind es noch drei Monate, und zweifellos wird die Unbeständigkeit des Lebens und der Kunst Form und Inhalt der Ausstellung weiterhin verändern. Meine Suche nach neuer arabischer Kunst hat mich reale Grenzen überschreiten lassen, aber auch zu einem Nachdenken über die Künstler geführt, die sich den Grenzen ihrer eigenen Länder stellen, die die Parameter ihrer Traditionen neu formulieren und ihre Identitätsgrenzen als Männer oder Frauen, als Araber, als KünstlerInnen hinterfragen. Und sie problematisieren auch die Trennlinien zwischen Fiktion und Wirklichkeit … Wirklichem und Imaginärem – das lässt mich wünschen … wünschen, ich hätte den Mut der Künstler, mit denen ich arbeite. Manchmal stelle ich mir vor, wie es wäre, wenn manche der hier beschriebenen Ereignisse nur ausgedacht wären, um die Erzählung interessanter zu machen. Wäre es nicht wunderbar, wenn Ali Jabri gar nicht tot wäre (...) und wenn all die Barrieren, Grenzen und Besatzungen gar nicht existieren würden?

Jack Persekian
Ich danke Kamal Boullata für zahlreiche Hilfestellungen beim Verfassen dieses Essays.


Künstlerische Positionen (Auswahl):

Akram Zaatari und Walid Raad (Documenta XI) zeigen in Berlin die Fotoinstallation Mapping Sitting aus den Beständen der Fondation Arabe pour l’Image in Beirut, des einzigen öffentlich arbeitenden Fotoarchivs im Nahen Osten. Die Aufnahmen aus drei Jahrzehnten stammen aus privaten Sammlungen und Fotostudios. Sie sind Selbstbildnisse unterschiedlicher Bevölkerungen und Schichten und dokumentieren damit den Alltag im multiethnisch und -religiös geprägten südöstlichen Mittelmeerraum bis Ende der 70er Jahre. Einen Höhepunkt stellt eine Fotowand aus mehr als 7000 Passfotos dar.
„Wir präsentieren geografisch und kulturell spezifische Arbeiten, die nicht nur Fragen über Porträtfotografie in der arabischen Welt aufwerfen, sondern auch über Porträts, Fotografie und Kultur im Allgemeinen. Anhand der Betrachtung kommerzieller Arbeiten aus der fotografischvisuellen Kultur, denen kaum kritische Aufmerksamkeit von Kunst- und Fotografiehistorikern geschenkt wurde, möchten wir folgende Fragen stellen: Welche formalen und kritischen Methoden der Abbildung von Raum und Aktion sind in diesen Arbeiten zu erkennen? Wie lernen wir aus diesen Bildern etwas über Fotografie, Identität und Performance? Welche historischen, ästhetischen, philosophischen und kulturellen Vorstellungen von Identität und Fotografie werden in diesen Fotografien wiederholt und/oder in Frage gestellt?“ (Walid Raad/ Akram Zaatari) Ahlam Shibli ist mit zwei Fotoserien über zwei palästinensische Dörfer in Nordisrael vertreten. Das eine, Wadi Saleib, ist unbewohnt, seit die Einwohner im Krieg von 1948 vertrieben wurden. Arab El Naim, das andere, gleicht einem übervölkerten Slum, ist aber auf keiner offiziellen Landkarte Israels aufgezeichnet.
„Die Ruinen standen vor mir als Zeugen menschlicher, vertraulicher Begebenheiten. Ich habe die Vergangenheit gesehen, zurückverfolgt und in der Gegenwart bewahrt. Ich habe Licht in die dunklen Räume gebracht, sie in den Brennpunkt gerückt, sodass sie sich in Bühnen verwandelten. Ich habe Licht gestreut, und nun sind die Helden aus ihrem Schlaf erwacht: eine Schreibmaschine, ein geöffneter Koffer, eine Einkaufstasche, ein Schreibtisch, ein Schuh, Hellblau auf Grün an der Wand oder sich ablösendes Gelb, Dinge, die weggeworfen wurden – alles Hinweise auf eine Fluchtsituation, auf letzte Bewegungen von Körpern und Dingen, auf ihre Berührung, ihren Gebrauch.
Ich schaue mich nochmals um, während ich durch den Ort streife, mein Blick fängt Gegenstände und Dinge ein, die meine Erinnerung an bessere Zeiten in meinem Leben wachrufen. Meine Erinnerungen eröffnen die Möglichkeit, der anderen zu erinnern.“ (Ahlam Shibli über “Wadi Saleib”) Susan Hefuna setzt sich in ihren Arbeiten mit den stereotypen Bildern auseinander, denen arabische Frauen in Europa begegnen. In ihren Arbeiten spielt sie mit den unterschiedlichen, sich vielfach überlagernden kulturellen Codes und untersucht radikal die Möglichkeiten des interkulturellen Dialogs. In einem ihrer in Berlin ausgestellten Projekte steht eine der wichtigsten emblematischen Figuren des ägyptischen kulturellen Erbes im Zentrum: Nefertiti (Nofretete). Teil der Arbeit ist eine Besucherumfrage im Ägyptischen Museum Berlin zur Rezeption dieser Statue und ihrer Bedeutung für das westliche Ägyptenbild.
In ihrem Video “Life in the Delta” dagegen präsentiert sie eine sehr persönliche Sicht auf das Leben in ihrem Herkunftsland:
„Ich fahre jedes Jahr zwei oder drei Mal nach Ägypten. Dieses Mal fuhr ich mit der Absicht, eine bestimmte Stelle im Dorf meines Vaters zu filmen, die man vom Dach unseres Hauses aus sehen kann (...) Obgleich diese Bilder im modernen Zeitalter der Digitalkameras aufgenommen wurden, spiegeln sie eine „exotische“, veraltete Bildsymbolik wider, denn die Landschaft hat sich nicht viel verändert und das Treiben ebenso wenig. Der einzige „Fremdkörper“ darauf bin ich, wenn ich mich unter die Einheimischen mische, eine Fremde, die eigentlich zur Szenerie dazugehört, denn ich werde von der Dorfgemeinschaft als eine der Ihren anerkannt, auch wenn ich im Exil lebe. Dennoch bin ich eine Fremde in beiden meiner Kulturen, aber nichts bringt dies so schmerzlich ans Licht wie meine eigenen Fotos oder Filme. Dieses Gefühl, im Exil zu sein, unablässlich beobachtend.“ (Susan Hefuna)

In einer von drei Videoarbeiten Jumana Emil Abbouds, Edel Weiss Music Box führt die Künstlerin Bauchtanz inmitten einer Lichtung des Schwarzwaldes auf. Zu der immer schneller werdenden arabischen Musik schwenkt sie ein weißes Tuch, das die doppelte Bedeutung von Ungebundenheit und Unterordnung trägt.
„Mein Ziel war es, Frauen und Weiblichkeit sowohl in der arabischen Welt als auch in der allgemeinen modernen Welt zu zelebrieren. (...) Obwohl die Frau in ihrem Lebensstil zelebriert werden sollte, wollte ich kein visuelles Bild einer „Berühmtheit“ in Form eines „Filmstars“ schaffen. Denn obwohl die Frauen in meinen Porträts anonym sind, ähneln sie der “gewöhnlichen“ Frau, und im Mittelpunkt meines Interesses standen in erster Linie die Ausdauer, das Leiden und die Aufopferung einer solchen Frau. Sie wird sozusagen in ihrer Fähigkeit zelebriert, durch ihr Leiden und ihre Selbstaufopferung menschliche Herzen zu berühren.“ (Jumana Emil Abboud)

Roza El-Hassan zeigt unter anderem Videos von ihrer Blutspendeaktion, die sie 2001 und 2002 in Belgrad, Budapest und Zürich gemacht hat: „Eine der wichtigsten Fragen der künstlerischen Praxis ist, wie man die vermeintliche Neutralität und die Etablierung autonomer Kunst-Sphären und ‚Schutzräume’ von Zeit zur Zeit missbrauchen und mit Worten und Bildern neu besetzen kann, die viel freier und autonomer sind als man es von den Künstlern auf institutioneller Ebene erwartet. So z.B. die Blutspendeaktion, die ich in Belgrad, Budapest und in Zürich verwirklicht habe, und bei der ich zwei neutrale, entpolitisierte Räume, die der Kunst und die des karitativen Roten Kreuzes, ineinander schiebe. Das Video, das die Aktionen dokumentiert, verbildlicht einerseits die grundlegend verschiedenen lokalen Rezeptionen, d.h. die lokale Rezeption und Toleranz einer Blutspendeaktion als Kunstperformance, aber auch die lokalen Bedeutungsebenen des Arafat-Pressefotos vom 12. September 2001, auf dem er den New Yorkern Opfern Blut spendet.
Andererseits soll das Video mit einer beträchtlichen Dosis von Selbstironie den inneren Dialog Roza El-Hassans zeigen, wobei ihr (Künstler)Subjekt - autobiografisch von der syrischen und von der ungarischen Herkunft bestimmt - versucht, den grundverschiedenen Imperativen zugleich gerecht zu werden.“ (Roza El-Hassan) Moataz Nasr wird zwei Multimedia-Installationen präsentieren. In einer der Arbeiten, The Water, (2002) projiziert er Gesichter auf eine Wasserpfütze – ein Schritt in diese Pfütze lässt die Köpfe verschwimmen, unkenntlich werden. „Ich will, dass das Publikum sich so in meine Arbeit einbringt, dass es ein Teil davon wird. Ich habe die im Wasser reflektierten Gesichter gefilmt. Dabei habe ich keinen Computer verwendet. Wenn die Leute anfangen, das Video anzuschauen, und das „Treten“ beginnt, sind sie sehr überrascht, und sie merken plötzlich, dass auch sie im Wasser stehen. Sie sind ein Teil des Geschehens. Man tritt sich gegenseitig mit Füssen. Keiner ist dafür verantwortlich, alle sind von der Situation gefangen genommen.“
(Moataz Nasr)

Die Fotografien des Malers Ali Jabri verfolgen Starkstromleitungen entlang der neu eröffneten Autobahn zwischen Amman und dem Roten Meer. Die karge Steinlandschaft, in der sich 1918 der arabische Widerstand gegen den Kolonialismus formierte, wird hier überlagert von den Ausformungen des Industriezeitalters.
„Bezeichnend für seine Arbeiten ist das geduldige Beobachten der Stätten und Wahrzeichen der arabischen und klassischen Welten. (...) Ali Jabris Arbeiten spiegeln aber auch den kulturellen Zerfall seines Landes wider, in dem Diskontinuität, Dissonanz und Verlust die derzeitige Stimmung prägen. Schönheit aus alter Zeit und Fragmenten aus der heutigen Zeit stehen sich gegenüber. Die Spaltung zeigt sich auch in der Auswahl äußerst verschiedenartiger Inspirationsquellen: das Altertum, China, Ägypten, das Ottomanische Reich, die Renaissance, Palladio, Picasso, Mies van der Rohe, zeitgenössisches Design, islamische Kunst und Architektur...“ (A.J.)

Khalil Rabah benutzt die Mehrdeutigkeit symbolischer Codes, wenn er einen Olivenbaum, Symbol der nationalen Identität der Palästinenser und zugleich der Lebenskultur im Mittelmeerraum, an repräsentative Ausstellungsorte Nordeuropas verpflanzt. In Berlin pflanzt er den Olivenbaum neben einen in seine Einzelteile zerlegten Mercedes - ein begehrtes Symbol der Mobilität und Globalisierung im arabischen Raum.

Jannane Al-Ani präsentiert unter anderen A loving man, eine Videoinstallation, bei der Videoaufnahmen von fünf Frauen im Zentrum stehen: „In A Loving Man geht es sehr viel um Erinnerung, um eine miteinander geteilte Geschichte und die Konstruktion von Geschichte, in großen und kleinen Zusammenhängen. Ich versuchte mir vorzustellen, wie sich Geschichten mit der Zeit verändern und wie sich große historische Schilderungen mit privaten, persönlichen Geschichten berühren. Es geht auch um die Art und Weise, in der Ereignisse in der Familiengeschichte fortwährend erinnert werden und eben durch diese Rückbesinnung erneut transformiert werden. Und darum, wie das gerade Erinnerte schon einen Moment später wieder entweicht, ungenau wird und schließlich immer wieder hinterfragt werden muss, obwohl unser Gedächtnis doch permanent an der Erinnerung arbeitet.
Ein ebenso wichtiges Element in allen meinen Videoarbeiten ist die Beziehung zwischen spontanem, natürlichem Sein und dem bewussten Spiel vor der Kamera. Obwohl nichts bei meinen Arbeiten live ist, bin ich froh über das „Material“ Körper, über die Tatsache, dass er Fehler macht; das hat etwas zu tun mit der Fehlbarkeit des menschlichen Körpers. In einem Film ist das nicht zusehen, Fehler oder vermasselte Szenen bleiben ausgespart.
Was das Drehbuch zu A Loving Man betrifft, war es sehr wichtig, hinsichtlich biografischer Angaben so vage wie möglich zu bleiben. Es gibt sehr wenig Anhaltspunkte darüber, über wen gerade gesprochen wird, woher diese Leute kommen, wie sie untereinander in Beziehung stehen. Für mich ist dieser Aspekt sehr wichtig.
Sonst liefe man zu schnell Gefahr, die Arbeit in einem rein biografischen Kontext zu sehen, also die bekannte Kiste: Wo wurde der Künstler geboren? Wo kommt er her? All diese Einzelheiten würden sonst zu schnell thematisiert und genau das möchte ich vermeiden. Indem ich unspezifisch bleibe, ist es für ein Publikum, das also nicht mit vertraut ist mit den Dingen, von denen die Arbeit handelt, eher möglich, einen Zugang zu finden.“ (Jannane Al-Ani)

16 Fahnen am Eingang des Hauses der Kulturen, eine Außeninstallation von Salah Saouli, stellen sowohl die europäisch-westliche als auch die orientalische Bedeutung von Sieg, Ruhm und Heldentum in Frage. Anhand der Siegessäule in Berlin und der Märtyrer-Statue in Beirut untersucht der Künstler Ähnlichkeiten im Umgang mit dem Begriff „Gloria“. Für die einen ist Heldentum durch Sieg zu erlangen, für die anderen durch Märtyrertum bzw. Selbstopferung.

Künstlerlabs: ‚Divided Memories’

Die Künstler der Ausstellung DisORIENTation präsentieren jeweils eine schon bestehende Arbeit sowie ein neues Werk. Die In-Situ-Installationen im Haus der Kulturen der Welt sind größtenteils Auftragsarbeiten, die speziell in Hinblick auf den Berliner Kontext entstehen werden und die persönlich gemachten Erfahrungen der nach Deutschland eingeladenen Künstler verarbeiten. Die Werke werden in einem intensiven Arbeitsaufenthalt von ca. 10 Tagen in Bezug zueinander und zum Raum des Hauses der Kulturen der Welt gesetzt. Vier Lab-Begegnungen finden öffentlich statt:

Lab 1: Der Künstler als transkultureller Nomade?
>>> Donnerstag, 16. Januar 2003, 19 Uhr
>>> Universität der Künste, Hörsaal 158, Hardenbergstraße 33
>>> Eintritt kostenlos

In Zusammenarbeit mit der Universität der Künste Berlin, gefördert mit den Mitteln des Hauptstadtkulturfonds

Wie verändert sich die künstlerische Praxis unter den Bedingungen extremer Mobilität? Welche Auswirkungen hat die nomadische Produktionsweise auf Formen der Präsentation und die Auswahl von Ausstellungsorten? Diesen Fragen gehen Susan Hefuna und Roza El Hassan nach und setzen ihre Arbeiten in Beziehung zu ihrer doppelten deutsch-ägyptischen bzw. ungarischsyrischen Herkunft. Das Künstlergespräch wird moderiert von Studenten des Studienganges Art in Context unter Leitung von Prof. Wolfgang Knapp

Lab 2: Mapping Sitting
>>> Sonntag 16. März 2003, 16 Uhr
>>> C/O Berlin, Linienstraße 144, Tel: 2809 1925
>>> Eintritt kostenlos

In Zusammenarbeit mit C/O Berlin, der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst und der Fondation Arabe pour l’Image (Beirut), gefördert mit den Mitteln des Hauptstadtkulturfonds

Die Foto- und Videokünstler Akram Zaatari und Walid Raad stellen ihre Fotoinstallation Mapping Sitting zur Diskussion. Mapping Sitting ist zu verstehen als ein psychosozialer Erinnerungsraum, in dem sich die jüngere Vergangenheit des Nahen Ostens in Einzel- und Gruppenporträts aus dem Libanon, Palästina, Syrien, Ägypten und dem Irak der 20er bis 70er Jahre spiegelt. Künstler, Kritiker und Kuratoren werden über Möglichkeiten künstlerischer Intervention diskutieren, über die Inszenierung und Neuordnung von fotografischen Archiven, Sammlungen und Nachlässen. Chance und Herausforderung zugleich, Zeugnisse der Alltagskultur einem breiten Publikum neu zugänglich zu machen? Teilnehmer: Akram Zaatari, Walid Raad (Beirut/New York), Joachim Schmid (Künstler, Berlin), Stéphane Bauer (Kurator, NGBK); Moderation: Prof. Rolf Sachsse (Universität Krefeld)

Lab 3: Videoforum DisORIENTation
>>> Mittwoch 19.März 2003 , 19 Uhr
>>> Neuer Berliner Kunstverein, Chausseestraße 128, Tel: 289 70 20
>>> Eintritt kostenlos

In Zusammenarbeit mit dem Neuen Berliner Kunstverein, gefördert mit den Mitteln des Hauptstadtkulturfonds

Das Videoforum des 1972 gegründeten Neuen Berliner Kunstvereins verfügt über ein umfangreiches, öffentlich zugängliches Videoarchiv und organisiert regelmäßig mittwochs Treffen mit internationalen Videokünstlern.

Zum 300. Jubiläum des Videoforums laden NBK und HKW am 19. März 2003 gemeinsam die Künstlerinnen Lamia Joreige (Libanon/Frankreich), Jumana Emil Abboud (Palästina/Österreich) und Jananne Al-Ani (Irak/Großbritannien) ein. Alle drei arbeiten ganz oder teilweise in Europa und setzen sich auf sehr unterschiedliche Weise mit den hiesigen Bildern ihrer Herkunftsländer und Kulturen auseinander, insbesondere mit den westlichen Klischees von Frauen in arabischen Gesellschaften.
Moderation: Kathrin Becker, Leiterin des Videoforums

Lab 4: Künstlerlectures
>>> Sonntag 23. März, 14 - 19 Uhr
>>> Haus der Kulturen der Welt
Gefördert mit den Mitteln des Hauptstadtkulturfonds


Am Eröffnungswochenende werden für ein breites Publikum in der Ausstellung DisORIENTation eine Reihe von Künstlerlectures organisiert, die sich direkt auf die für die Ausstellung neu entstandenen Produktionen beziehen. Die InSitu-Installationen im Haus der Kulturen der Welt sind größtenteils Auftragsarbeiten, die speziell in Hinblick auf den Berliner Kontext entstehen werden und die persönlich gemachten Erfahrungen der nach Deutschland eingeladenen Künstler verarbeiten. Die ungefähr 30-minütigen Lectures sollen ein direktes Feedback des hiesigen Publikums ermöglichen und eine Diskussion mit den Künstlern in Gang bringen, die später auszugsweise veröffentlicht wird. Teilnehmende KünstlerInnen: Ahlam Shibli (Palästina); Lara Baladi (Ägypten); Moataz Nasr (Ägypten); Khalil Rabah (Palästina)


Die Künstler:

Biografien und ausgewählte Ausstellungen

1. Jananne Al-Ani, Großbritannien
Jananne Al-Ani wurde 1966 im Irak geboren. Sie studierte bildende Kunst an der Byam Shaw School of Art und schloss ihr Studium am Royal College of Art 1997 mit einem MA in Fotografie ab. Sie lebt und arbeitet in London

Bevorstehende Ausstellung:
The New Sheherazades, kuratiert vom Rose Issa Centre de Cultura Contemporània de Barcelona und Veil. Veiling, Representation and Contemporary Art, kuratiert von Jananne Al-Ani, David A. Bailey, Zineb Sedira und Gilane Tawadros, und Tournee zu The New Art Gallery Walsall, Bluecoat Gallery & Open Eye Gallery, Liverpool und Modern Art Oxford. 2002 Image et Texte Dans L’Art Actuel Musée d’Art Moderne Lille Métropole, Lille. The Body as Territory Rencontres Internationales de la Photographie, Arles. Fair Play Danielle Arnaud Contemporary Art, London

2. Jumana Emil Abboud, Palästina/Israel
1971 in Shefa-Amer, Palästina, geboren, 1979 Umzug nach Kanada. Sie studierte Kunst am Ontario College of Art, Toronto. Nach ihrer Rückkehr nach Palästina studierte sie an der Bezalel Academy of Art and Design, Jerusalem, wo sie ihren BFA erlangte. Jumana Abboud hat mehrere Workshops und Seminare abgehalten, die sich zum Teil mit dem Dialog zwischen Palästina und Israel befassten

Ausgewählte Ausstellungen:
2002 Something to Confuse a Thief in the Dark Forum Schlossplatz, Aarau, CH. 2000 The Last Drawing of the Century Zerynthia, Centro Civico per l’Arte Contemporanea, Rom. Zim Zum Heidelberger Kunstverein, Heidelberg, Deutschland. La Havana International Biennial Havanna, Kuba.1999 Mediterranean Biennial for Young Artists Rom. Murals in the City Jericho Winter Festival, Jericho. 1996 Accumulated Color Layers Artist’s House, Haifa, Palästina

3. Lara Baladi, Ägypten
1969 in Beirut geboren, aufgewachsen in Europa und im Nahen Osten. Sie studierte internationale Wirtschaft an der Richmond University in London. Ihre Arbeit ist äußerst persönlich, sie geht direkt auf die unmittelbare Umgebung ein und ist durch diese geprägt.
Baladi ist Mitglied der in Beirut ansässigen Fondation Arabe pour l’Image. Sie lebt und arbeitet in Kairo

Ausgewählte Ausstellungen:
2002 Al Fanous al Sehry Townhouse Gallery, Kairo. 2001 Zakrayat Cairo Modern Art in Holland, Stage Holding, Den Haag. 2001/ 2000 Sandouk El Dounia El Nitaq Festival, Kairo/ Ashkal Alwan, Beirut. 2001/ 2000 Oum El Dounia The Desert Fundacion Caixia, Barcelona & Centro Andaluz de Arte Contemporaneo, Sevilla/ Fondation Cartier Pour l’Art Contemporain, Paris. 2000/ 1999 The Eye of Mary Magdalene Asbaek Gallery, Kopenhagen/ Ronald Feldman Gallery, New York & Townhouse Gallery of Contemporary Art, Kairo & Musée de la Photographie de Charleroi, Belgien

4. Roza El-Hassan, Ungarn/Syrien
1966 in Budapest als Kind eines syrischen Vaters und einer ungarischen Mutter geboren, studierte sie an der ungarischen Akademie der Bildenden Künste, Budapest (Fachbereich Malerei und Intermedia), sowie an der Städelschule, Frankfurt am Main. Ihre Arbeit umfasst Zeichnungen, Skulpturen, Videos und Performances. Sie befasst sich häufig mit Dialogen in öffentlichen Räumen und kann sehr politisch interpretiert werden.

Ausgewählte Ausstellungen:
2002 R. thinking about overpopulation in Zürich. Action performance, ETH University, Collegium Helveticum, Zürich. Roza El- Hassan: R. thinking about overpopulation – Toma Sik: This is not art but a show Liget Galeria, Budapest. 2000 R thinking/dreaming about overpopulation Kunstverein Würzburg. 1999 Objekte Secession, Wien. 1998 Image Engin Ludwig Múzeum, Budapest. 1998 Galerie Barbara Claassen-Schmal, Bremen. UNDO DeVleeshal, Mittelburg/ NL, Kunstverein Ulm. 1997 La Bienale di Venezia DisORIENTation - Haus der Kulturen der Welt - 20.März bis 11. Mai 2003 ungarischer Pavillon. 1995 Stretched Objects - Nyújtott Tárgyak Neue Galerie im Landesmuseum Graz. 1994 Biztosított Tér - Secured Space Knoll Galeria, Wien

5. Susan Hefuna, Ägypten/Deutschland
1962 als Kind einer deutschen Mutter und eines ägyptischen Vaters in Deutschland geboren
Sie studierte Kunst an deutschen Kunstakademien und absolvierte ein Postgraduiertenstudium der Neue Medien an der Frankfurter Kunstakademie. Susan Hefuna ist Professorin für Multimedia-Kunst an der Universität für Design in Pforzheim, Deutschland; angesichts ihres doppelten Erbes unterstreicht die Arbeit der Künstlerin die Übergänge kulturspezifischer Normen und Stereotypen sowie die Anerkennung von Frauen in europäischen und arabischen Gesellschaften.

Ausgewählte Ausstellungen:
2003 Scattered Belongings CU Art Galleries & The Colorado Collection University of Colorado, USA. Harem Fantasies. European and Islamic Views of Beauty and Love Centre de Cultura Contemporania de Barcelona, Barcelona. 2002 Ventanas, Vacio 9, Madrid. Mapping the Process Sharon Essor Gallery, London. What about Hegel (and you)? & Stories of 2002 Nights Brigitte March Galerie, Stuttgart. 4 Women - 4 Views/ made in Egypt, Townhouse Gallery, Kairo. À la carte Photoforum, Pasquart, CH. 2001 Al Nitaq Festival, Kairo. Triennale für Kleinplastik Fellbach. 2000 Navigation xcultural National Gallery, Kapstadt. 1998 Cairo Biennale, Kairo

6. Ali Jabri, Jordanien
1943 in Jerusalem geboren, studierte Architektur und bildende Kunst an der Stanford University in Kalifornien sowie englische Literatur an der Bristol University in England.
Begann 1977 als Künstler in Kairo zu arbeiten, bevor er nach Amman ging, um seine Tätigkeit als künstlerischer Leiter und Kurator des Museum of Popular Traditions aufzunehmen.
Archäologische Ausgrabungen für das Near Eastern French Archaeology Institute, die University of Sydney und das British Institute. Zwischen 1985 und 1993 koordinierte er verschiedene Ausgrabungsstätten im Auftrag des Ministeriums für Tourismus. Bis zu seinem Tod im Dezember 2002 arbeitete Ali Jabri als Künstler in Amman

7. Lamia Joreige, Libanon
1972 in Beirut geboren, immigrierte 1983 nach Frankreich. Sie studierte Grafik in Frankreich und Film und Malerei an der Rhode Island School of Design, USA. Lamia Joreige lebt und arbeitet als Malerin und Videokünstlerin in Beirut und Paris.
Ausgewählte Ausstellungen:
2002 Replay (bis), Internationales Filmfestival, Montpellier und beim Impakt festival, Utrecht. Videoinstallationen für das Bater dance project, Libanon. 2001 Replay in Missing links Townhouse Gallery, Kairo. Paintings, Janine Rubeiz Gallery, Beirut. 2000 Replay Hamra street project, Beirut. The displacement, Janine Rubeiz Gallery, Beirut. The displacement & Objects of war, Nikki Diana Marquardt Gallery, Paris. 1997 Surfaces French Cultural Center, Beirut.

8. Moataz Nasr, Ägypten
1961 in Alexandria geboren, seine Arbeit umfasst Installationen drinnen und draußen, Videos, Gemälde und Skulpturen. Er ist Mitglied verschiedener Juryausschüsse und organisiert Workshops und Ausstellungen. Im Jahre 2001 gewann Nasr den Grand Prize der Cairo International Biennale und im Jahre 2002 den Ministry of Culture's Prize der Dakar Biennale.
Moataz Nasr lebt und arbeitet in Kairo.
Ausgewählte Ausstellungen:
2002 The Water Dak’Art 2002, Camouflage in Brüssel. The Water, An Ear of Mud Another of Dough and Paintings Franco Riccardi Arti Visive, Italien.
Videomarathon Moldova. Ars Electronica Festival Österreich. Premio Suzzara Italien. Dakar Biennale Senegal. 2001 The Letters, the Water and the Planted Room Townhouse Gallery, Kairo. Cairo Internationale Biennale, Kairo. 2000 The Earth, the Sky and What's in Between Townhouse Gallery, Kairo

9. Walid Raad, Libanon/USA
1967 in Chbanieh, Libanon, geboren, Medienkünstler und Assistenzprofessor für Kunst an der Cooper Union, New York. Seine Arbeiten umfassen Textanalyse, Video, Performance und Fotografieprojekte. Walid Raad ist auch Mitglied der Fondation Arabe pour l’Image Beirut/New York.

Zu seinen Videoarbeiten zählen:
1993 Up to the South (Salloum/Raad, 60 Min.), 1996-1999 The Dead Weight of a Quarrel Hangs Videokurzfilmsammlung (18 Min.). 2000 The Hostage: The Bachar Tapes (Raad/ Bachar, 18 Min.). Zu seinen Fotografie- und Performance-Projekten zählen: 2001 The Atlas Group: Documents from The Atlas Group Archive & The Loudest Muttering Is Over: Documents form The Atlas Group Archive. Seine kritischen Essays wurden in “Public Culture”, “Rethinking Marxism” und “Third Text” veröffentlicht, und seine Medienarbeiten wurden bei der Documenta 11 Kassel, The Antoni Tapies Foundation Barcelona, The Kunsten Festival des Arts Brussels, The Vienna Festival Vienna, The Whitney Biennial New York, The Ayloul Festival Beirut sowie bei zahlreichen anderen Festivals in Europa, im Nahen Osten und in Nordamerika gezeigt.

10. Khalil Rabah, Palästina
1961 in Jerusalem geboren, studierte Architektur und bildende Kunst an der University of Texas. Er unterrichtete Architektur und Kunst an der Birzeit University und Bezalel Academy, Jerusalem. Khalil Rabah ist ein Gründungsmitglied der Al Mamal Foundation for Contemporary Art, Jerusalem. Er lebt und arbeitet in Ramallah.

Ausgewählte Ausstellungen:
2002 Copy Right Samaha House, Beirut. 2001 Feeling (a)part Townhouse Gallery, Kairo. 2002-2001 In weiter Ferne, so nah - Contemporary Palestinian Art, ifa-Galerie, Bonn/ Stuttgart/ Berlin. 2000 Le Repubbliche Dell’Arte Centro Arte Contemporanea, Siena. 1999 Skin Deep, Surface and Appearance in Contemporary Art Israeli Museum, Jerusalem. 1998 I Never Promised You a Rose Garden Beelden Buiten, Tielt, Belgien. Roterios, Roterios, Roterios … XXIV Biennale Sao Paulo, Brazil. Every Day 11th Sydney Bienale, Sydney. 1997 On What Grounds Gallery Anadiel, Jerusalem.
1992 Kunstforum Grundkreditbank, Berlin 1991 Leonardi Museum, Dresden

11. Ahlam Shibli, Palästina/Israel
1970 im galiläischen Dorf Shibli geboren, studierte klassische Kunst, islamische Archäologie und Pädagogik in Jerusalem sowie Sozialarbeit und Fotografie in Haifa. Ihre Fotografien vermitteln eine dokumentarische und moderne expressionistische Sichtweise des Alltagslebens und zeigen oft ländliche Umgebungen. Ahlam Shibli lebt und arbeitet in Haifa.

Ausgewählte Ausstellungen:
2002 Five senses The Acre Festival of Alternative Israeli Theatre, Acre. Positioning Hagar Gallery, Jaffa/ Tel Aviv. 2001 Unrecognized & Wadi Saleib in Nine Volumes Salle Polyvalente, Europäisches Parlament, Brüssel. Empathy, Art, Gender & Politics Fujikawa Gallery, Osaka/ Plaza Gallery, Tokio. Palestine: Israel 2002/ The End of the Future? Museum für Völkerkunde, Hamburg. Europe 'Art Nouveau Salon d'Art Contemporain, Espace Auteuil, Paris. 2000-2002 From Mirror to Memory - 100 Years of Photography in the Holy Land Mane-Katz Museum, Haifa/ Perpetuation Center, Kreat Tivon/ Bat Yam Museum of Art/ Rehoboth Museum of Art/ Ein Harod Museum of Art. 2001-2004 Coexistence internationale Wanderausstellung.

12. Salah Saouli (Berlin/Beirut)
Geboren 1962 in Beirut, studierte Malerei an der „Institut des Beaux-Arts“ Beirut, Malerei und Bildhauerei an der Hochschule der Künste Berlin sowie Printmaking an der Chelsea School of Art, London. Seit 1985 lebt er als freischaffender Künstler in Berlin.

Ausstellungen (Auswahl):
2002 Die letzten Tage im Mai Schloss Nackel, Nackel Brandenburg. Tansparency Bergkerk Museum Deventer, Holland. 2001 5. International Sharja Biennale, V.A Emirats. Crossword Goethe Institut, Beirut. Marseille Imaginée Marseille Réalité Artena, Marseille. 2000 Das Labyrinth Heilandskirche, Berlin. Das Labyrinth ll Centre Culturel Français Beirut. Best Seller Ashkal Alwan Hamra Street Project, Beirut. 1999 Das Labyrinth I Darat al Funun Amman, 20. Biennale Alexandria Ägypten. 1998 Mediterranea Art Contemporain des Pays Mediterranéens, Brussel. 1997 Schallmauer Galerie Perron1, Delden, Holland. 1996 Arabische Kulturinstitut, Brüssel. 1995 Rückblick nach vorn Panorama Museum, Bad Frankenhausen. 1994 Time-Out Galerie Vierte Etage, Berlin. 1993 Zwischen der Zeit Dia Projektion Hausfassade Lübeckerstr. 21, Berlin. 1992 Kunstforum Grundkreditbank, Berlin. 1991 Leonardi Museum, Dresden

13. Akram Zaatari, Libanon
geboren 1966 in Saida, Libanon. Videokünstler und Kurator, lebt und arbeitet in Beirut. Er ist der Schöpfer von über 30 Videos, darunter: in 2001 How I love You (29 Min.), Her + Him Van Leo (32 Min.). 1997, Crazy of You (27 Min.) und All is Well on the Border (43 Min.). 1996 The Candidate (10 Min.), und der zwei Videoinstallationen: Another Resolution und Monument # 5: The Scandal. Er ist Mitgründer der Fondation Arabe pour l'Image/Beirut, über die er seine jüngste forschungsbasierte Arbeit zur Fotografiegeschichte des Nahen Ostens entwickelt hat.

Letztere diente als Grundlage für eine Reihe von Ausstellungen, darunter:
2001 The Vehicle: picturing moments of transition in a modernizing society, Portraits du Caire: Van Leo, Arman, Alban, und im Jahre 2002 Mapping Sitting, on portraiture and photography mit Walid Raad. Er ist Herausgeber bzw. Mitherausgeber von drei Publikationen mit den gleichen Titeln. Seine Texte wurden in kritischen und wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht, z.B.: Parachute, Framework, Transition, Bomb, Al-Adaab, al-Nahar und Zawaya.


Jack Persekian

Born in Jerusalem, 1962

BIOGRAPHY

2001 – prsnt Director of Al-Ma’mal Foundation for Contemporary Art, Jerusalem
1999 – 2001 Director of Events / Producer, The Bethlehem 2000 Celebrations, Bethlehem 2000 Project, PNA
1997 – 2000 Founding Member/Chairman of Al-Ma’mal Foundation for Contemporary Art, Jerusalem
1996 – 98 Acting Director General of International Relations and Projects, Ministry of Culture, Palestinian National Authority
1996 – 98 Founding and Board member of Yabous Productions, Jerusalem
1994 – 96 Director, Department of Visual Arts, Ministry of Culture, Palestinian National Authority
1992 – prsnt Founder and Director of Anadiel Gallery, Jerusalem
1992 – 93 Managing Director, Tamer Institute for Community Education, Jerusalem
1988 – 92 Managing Director, Sabreen Music Group and Sabreen Studios, Jerusalem
1985 – 87 Audit staff, Saba El-Yousef CPAs, Jerusalem
1985 B.S., Business Administration, Bethlehem University, Bethlehem, W.B

EXHIBITIONS / CURATORIAL WORK (SELECTED)

2002 Les Habitats by Luc Chery at Al-Ma’mal Foundation, Jerusalem
2001-02 so close yet so far away, touring exhibition for 4 contemporary Palestinian artists in the ifa galleries in Bonn, Stuttgart, and Berlin, Germany
2000 Intimate Confessions by Ghada Amer at Anadiel Gallery, Jerusalem
Khalil Rabah at Gallery Alessandro Benigai in Siena, Italy
us/them by Peter Riedlinger at Anadiel Gallery, Jerusalem
1999 Beat Streuli at Gallery Anadiel, Jerusalem
Zoe Leonard at Gallery Anadiel, Jerusalem in collaboration with Amy Capalazzo Deep Shit by Subhi Zobaidi at Gallery Anadiel, Jerusalem
1998 to be free for a moment by Khalil Rabah for the Palestinian participation in the XXIV Biennale de Sao Paulo, Brazil
1997 Something is Missing by Jean-Marc Bustamante at Anadiel Gallery, Jerusalem
Down with the occupation, a group exhibition at Al-Wasiti Art Center in Jerusalem
Home, a group exhibition at Anadiel Gallery, Jerusalem
1996 Mona Hatoum at Anadiel Gallery, Jerusalem
Translocal: camp in my tent by Jenny Marketou at Anadiel Gallery
1995 Beyond Borders, Kwangju Biennale, South Korea – Khalil Rabah’s participation Among Artists, sixty two artists from Palestine, New Visions Gallery, Ramallah
1994 Biennale of Cairo, Egypt – Palestinian Participation Measures of loss by Samir Srouji at Anadiel Gallery, Jerusalem
Café de l’Olivier by Jean-Luc Vilmouth at Anadiel Gallery, Jerusalem
1993 11 Women artists at the French Cultural Center and Anadiel Gallery, Jerusalem
Indigo by Nasser Soumi at Anadiel Gallery, Jerusalem
1992 Ligne de fracture by Pierre Devin at Anadiel Gallery, Jerusalem
Fifth exhibition by Taysir Barakat at Anadiel Gallery, Jerusalem

Exhibition productions (selected)

2000 Life of Christ - Exhibition from the collections of Glasgow Museums at the Bethlehem Peace Center, Bethlehem
1998 Roteros, Roteros, Roteros …, Khalil Rabah’s participation for the XXIV Biennale de Sao Paulo, Brazil
The Sydney Biennale, Australia - Palestinian participation
1996 Inclusion Exclusion, Mona Hatoum’s participation in the exhibition for the event Stiercher Herbst in Graz, Austria
1995 Dialogues of Peace, Geneva, Switzerland - Palestinian participation in the exhibition commemorating the 50th Anniversary of the UN
1993 Paix – Palestinian participation in the exhibition in Marseille, France
1992 Rencontre Mediterranean – Palestinian participation in the exhibition in St Nazaire, France

PRODUCTIONS (SELECTED)

I. Films and Video
2001 Four short films for Bethlehem 2000 Project, by Nada El-Yassir, Ahmad Habash, Ismail Habbash, and Subhi Zobaidi, Palestine
1999 The last 5 short films of the 2nd millennium, by Azza El-Hassan, Mai Masri, Sobhi Zubaidi, Rashid Masharawi, And Elia Suleiman, Palestine
A This and A That, video by Khalil Rabah, 40 minutes VHS loop 1996 My Body and Soul. video by Khalil Rabah, 8 minutes Beta cam

II. Performance, Concerts and Events
2000 August Musical Evenings – Arabic music and dance festival in Bethlehem Cultural Weeks in Palestine
Norwegian Cultural Week – Norwegian art, music, dance and food Italy for Palestine – a week of Italian political encounters, art manifestations, music and food in Palestine
A Concert Series by George Dalaras, Demis Roussos and Rashid Taha on Manger Square, Bethlehem
1999 Bethlehem Christmas Festival, Bethlehem, Palestine
- Concerts for Orchestras and choirs, among which:
Vienna Boys Choir, Vienna Chamber Orchestra & Choir Orchestra of the XVIII century from the Netherlands
- Choirs of the World on Manger Square for Christmas Eve
- New Year’s Eve Celebration
- 13 Holy Nights – 13 concerts of Oriental and Occidental music
1997 Sharing Jerusalem: Two Capitals for two States, one week of art activities, musical performances, exhibitions, symposia and tours in Jerusalem Printemps Palestinien – 3 months of Palestinian cultural activities in France
Exhibitions, film screenings, musical performances, theatre, literary encounters, …etc
Logo Announcement Ceremony and the launching of the Bethlehem 2000 Project, Bethlehem
1990 Smithsonian Festival, Palestinian participation, Washington D.C
Carthage Music Festival, Palestinian participation, Tunis
Concert for Peace, Royal Albert Hall in London, England
1986-87 Concert tour for Sabreen Group in Palestine
Death of the Prophet, album record for Sabreen Music Group, Jerusalem

STUDY PROJECTS
2001 Cultural Institutions and Libraries in East Jerusalem, The Multi-Sector Study of East Jerusalem
1996 Legal and organizational set-up of the Palestinian Culture Development Fund, commissioned by the Ministry of Culture, PNA
1994 – 95 Survey of cultural life in Palestine, commissioned by the British Council in Jerusalem
1994 Study of Israel’s Ministry of Culture and Cultural Funds, commissioned by the Ministry of Culture, PNA

RESIDENCIES
1999 Destination Europe, Arts Management seminar and lecture tour, South West Arts, U.K
1998 Curator in Residence, Basis Wien, Vienna, Austria

PUBLICATIONS / ARTICLES (SELECTED)
2002 Art of the Khatchkar. St. James Convent, Old City of Jerusalem
2001 Exposure Jerusalem, 170 pages book about the photography projects and workshops conducted by Al-Ma’mal Foundation for Contemporary Art, Jerusalem
HomeLand, text for the exhibition so close yet so far away, Contemporary Palestinian artists, the ifa galleries, Bonn, Stuttgart, and Berlin, Germany
2000 Le Repubbliche dell’Arte – art and artists from Israel and Palestina, Palazzo delle Papesse, Centro Arte Contemporanea, Siena, Italy, 2000, pp. 123, 165
1999 What’s Up, monthly publication on contemporary art and life, Al-Ma’mal Foundation for Contemporary Art, Jerusalem, 11 issues
1998 Downloading Antropofagia (working title), XXIV Biennale de Sao Paulo National Representation catalogue, 1998 pp. 192 _ 195
1997 Sharing Jerusalem, catalogue of the event, co-edited with Amneh Badran and Daphna Golan, The Jerusalem Link, 1997
Something is Missing by Jean-Marc Bustamante, exhibition catalogue, Anadiel Gallery, Jerusalem
1996 The Creation of the Euro-Mediterranean Information Society, communication, education and training, research, ed. by Maria Amata Garito, Giunti Gruppo Editoriale, Firenze, 1997, pp. 135-137
1994 Café de l’Olivier by Jean-Luc Vilmouth, exhibition catalogue, Anadiel Gallery, Jerusalem
1993 Indigo by Nasser Soumi, exhibition catalogue, Anadiel Gallery, Jerusalem


Susan Hefuna

Im Gespräch mit Rose Issa zur Ausstellung: Ventanas "life in the delta", 7.11.02 -12.12.02, Guerrero y Mendozza 9, 28002 Madrid

R.I: Sie haben sich entschieden, die Ausstellung mit Ihren Schwarzweißzeichnungen zu beginnen und nicht mit den komplexen, konzeptionellen Multimediaarbeiten mit der Digitalkamera, die 1989 Ihre Karriere ins Rollen brachten. Könnten Sie Ihren Hintergrund näher erläutern, wie diese Zeichnungsserien entstanden und wie Sie zu der Kargheit dieser scheinbar einfachen Linien gelangt sind?

S.H: Obwohl ich als Tochter einer katholischen deutschen Mutter und eines muslimischen ägyptischen Vaters geboren wurde, verbrachte ich meine Kindheit in Ägypten und zog erst im Alter von sechs Jahren für meine Ausbildung nach Deutschland zurück. Ich studierte bildende Kunst an deutschen Kunstakademien und absolvierte mein Postgraduiertenstudium der Neuen Medien in Frankfurt.

Mich reizten stets die abstrakten Formen von Strukturen – die von Molekülen, DNS oder Modulen – diese Details der Wissenschaft und Biologie, die uns hinsichtlich der größeren Struktur des Lebens erleuchten. Ich sehe Gemeinsamkeiten zwischen meinen Zeichnungen, die von der Form des Mashrabiya (dem alten dekorativen Trennfenster aus Holzgittern oder Stein, die mit der Architektur des Harems in Verbindung gebracht werden) inspiriert sind, die man im alten Kairo sieht, und der Molekularstruktur, insbesondere bei den Verbindungen, wo die Linien sich kreuzen.

Im Jahre 1994, als ich mit diesen Zeichnungen begann, wurden verborgene Verbindungen und Gemeinsamkeiten zwischen diesen unbewussten Strukturen deutlich. Ich sah sie als eine Kreuzung, eine Zwischenphase zur Verbindung meiner Ideen. Ihre Realisierung bedeutete eine visuelle Wirkung und meine vorherigen strukturellen Verlockungen erlangten eine materielle Form. Im Jahre 1988 drehte sich meine Arbeit hauptsächlich um Video, Zeichnungen und Multimedia-Installationen, die immer ausgeklügelter und mechanisch immer perfekter wurden (perfekte Ausführung wird im Westen erwartet). Als ich 1992 meine erste Solo-Show in Ägypten zeigte – eine Hightech-Multimedia-Installation – wurde eines meiner Digitalfotos von einem Mashrabiya-Fenster vom ägyptischen Publikum sofort als vertrautes Objekt wahrgenommen.

Bis dahin hatte jedes westliche Publikum es einfach mit abstrakter Kunst im Rahmen des westlichen Konzepts assoziiert.
Dieses unerwartete Feedback aus erster Hand aus Ägypten überraschte mich total.
Ein anderes Publikum sah das Wesentliche des Werks und nicht seine Reflexion, ohne irgend etwas über meine Intentionen gelesen zu haben oder irgend etwas über meinen Hintergrund zu wissen. Von da an war meine Arbeit irgendwie durch dieses doppelte Feedback bereichert: der historische, wissenschaftliche und ästhetische Kontext der Arbeit, der vom westlichen Auge wahrgenommen wird, und die Bezüge, die die Ägypter unmittelbar zur vertrauten Umgebung herstellten. Die Interpretation der Arbeit hing demnach von der Norm der jeweiligen Kultur ab – dieselbe Form bezieht sich auf unterschiedliche Ideen und Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart. Ich lernte, dass es nicht nur eine Wahrheit gibt, sondern Schichten von Interpretationen und Wahrnehmungen.
Was die eigentliche Zeichnung anbetrifft, so ist die Größe des Papiers von Bedeutung, da ich meine Linien stets auf einmal, ohne Unterbrechung oder Nachfärben ziehe.
Die Größe hängt natürlich mit der Kapazität meines Körpers zusammen, eine Linie so weit und so lange zu halten. Die Zeichnungen waren anfangs zweidimensional, entwickelten sich dann aber in Schichten von Papieren mit unterschiedlicher Stärke und Durchsichtigkeit, sodass die Struktur von überlagerten Schichten von Zeichnungen gebildet wurde, inzwischen fast dreidimensional, die ich vor mir schweben sehen konnte.

R.I.: Sie kamen 1999 zurück zur Fotografie, aber anstatt moderne Digitalkameras zu verwenden, entschieden Sie sich für Lochkameras und altes Material und fotografierten erneut die alten Mashrabiyas von Kairo. Danach gingen Sie allmählich von den Details der Gitterfenster zu Landschaften über. Wie fand dieser Übergang statt, und was verbindet die Details von DisORIENTation - Haus der Kulturen der Welt - 20.März bis 11. Mai 2003 dekorativen Objekten, die oftmals mit dem Leben in der Stadt assoziiert werden, mit den Landschaften unter freiem Himmel, die Sie fotografieren?

S.H.: Auf unbewusste Weise ist die Struktur des Mashrabiya mit meinem Stadtleben in Kairo und Deutschland verbunden. Ich begann 1999, die Lochkamera zu verwenden, nicht nur als Reaktion auf die steigenden Hightech-Anforderungen und den Druck westlicher Produktionen, aber auch, um die alten Klischees von Exotik zu erforschen und mit ihnen zu spielen. Es war eine Übung in Selbstexorzismus und außerdem ein bewusster Versuch, mehr Unvollständigkeit, Unfälle und Fehler als im wirklichen Leben zu erfassen. Das Fotografieren von Palmen im Delta, wo mein Vater herkommt und wo ich einen Großteil meiner Kindheit verbracht habe und später meine Sommerferien mit meiner Familie und meinem verstorbenen Bruder, erwies sich als idealer Rahmen für die Erforschung meiner eigenen visuellen Erinnerungen. Dennoch sprachen eben diese vertrauten Bilder meine andere Seite als exotische Bilder an.

Die Palmen auf unserem Familienfriedhof und die Spielplätze aus meiner Kindheit mögen altmodisch und gewöhnlich erscheinen, für andere Ägypter banal und für Abendländler einfach nur exotisch und historisch, und doch sind diese Orte stark mit persönlichen und emotionalen Erinnerungen beladen. Sogar wenn ich mich manchmal selbst vor die Kamera stelle, wären nur wenige westliche Augen in der Lage, die Deplatziertheit meiner Präsenz in einer solchen Umgebung zu erkennen. Denn obwohl ein Teil von mir zu diesem Dorfleben gehörte und immer noch gehört, war ich doch niemals ein wesentlicher Bestandteil seiner Kultur, dieser sehr vertrauten Landschaft. Offensichtlich bleibe ich für die Landsleute meines Vaters eine Außenseiterin, genauso wie ich für die Abendländler eine Außenseiterin bin, eine Einheimische in einem Bild, und mein Haar und meine Augen bestätigen meine Fremdheit. In beiden Fällen bleibe ich eine Fremde in einem fremden Land, in beiden Ländern, trotz meiner doppelten Zugehörigkeit.

R.I.: Dieselbe Landschaft ist in Ihrem jüngsten Werk zu sehen, bei dem Sie Ihre Digitalvideokamera auf dem Dach Ihres Familienhauses versteckten. Dieser zweistündige Film in Realzeit und am realen Schauplatz, gedreht an einem Stück wie Ihre Zeichnungen, ist wie ein Theaterstück über das wirkliche Leben an einer Dorfkreuzung.
Theoretisch gleicht die Beobachtung Ihrer Kamera der, die Frauen hinter einem Mashrabiya machen könnten. Mit welcher Intention haben Sie die Kamera auf diese Weise verwendet?

S.H.: Ich fahre zwei- oder dreimal im Jahr nach Ägypten. Dieses Mal fuhr ich in der Absicht, diesen speziellen Ort im Dorf meines Vaters zu filmen, der von dem Dach unseres Familienhauses gefilmt werden konnte, mit einer versteckten Kamera, sodass ich das Leben so einfangen konnte, wie ich es Jahr für Jahr gesehen habe und wie es seit Jahrhunderten gelebt wird. Der besondere Ort ist eine Kreuzung von Kanälen, die umliegende Felder, benachbarte Farmen und Tiere mit Wasser versorgen. Diese besondere Kreuzung ist ziemlich belebt mit Menschen, die auf dem Weg zur Arbeit, während sie ihre Tiere zu den Feldern bringen, den neuesten Tratsch austauschen. Außerdem besitzt dieser Fleck eine zeitlose Eigenschaft – hier passiert scheinbar nichts und die Zeit steht still. Ägypten ist voll von solchen zeitlosen Bildern und Aktivitäten, als ob die Ewigkeit ein Teil der Gegenwart wäre, während das Leben sich selbst wiederholt. Dieses „romantische“ Bild vom Leben im Delta, das so unschuldig und rein scheint, verbirgt viele Geschichten, die aus der Perspektive hinter den Mashrabiya-Fenstern nicht zu sehen sind.

Obwohl diese Bilder mit einer Digitalkamera aufgenommen wurden, spiegeln sie dennoch „exotische”, altmodische Bilder wider, da sich weder Landschaft noch Aktivitäten sehr verändert haben. Das einzige fremde Bild ist das von mir selbst, wie ich mich als eine Außenseiterin unter die Einheimischen mische, die in Wirklichkeit Teil der Landschaft ist, da ich als Mitglied dieses Dorfes anerkannt werde, auch wenn ich im Exil lebe. Offensichtlich bin ich in beiden Kulturen eine Außenseiterin, aber nichts vermittelt dies ergreifender als meine eigenen Fotografien oder Filme. Dieses Gefühl, im Exil zu sein, ständig beobachtend, wo immer ich auch lebe oder hingehöre, ist das, was meine Arbeit durchdringt.

>>> Rose Issa ist eine in London ansässige Kuratorin von Filmkunst und visueller Kunst aus dem Nahen Osten und Nordafrika


Akram Zaatari:

Das Video als Mittel zur Darstellung einer fotografischen Praxis

(erschienen in „Zawaya“ Zeitschrift – Beirut, Dezember 2002)

Seit drei Jahren führe ich meinem Kollegen Walid Raad eine Reihe von Gesprächen rund um eine Werkgruppe, die die Foundation of the Arab Image (FAI) seit ihrer Gründung 1997 zusammengetragen hat. Dabei geht es uns um neue Formen, die es erlauben, den Kontext zu zeigen, in dem die Bilder entstanden sind.

Ausgangspunkt war eine gewisse Skepsis gegenüber konventionellen Präsentationsformen von Fotografien in Galerien und Museen: gerahmt und hinter Glas. Unser Hauptanliegen war es, die Fotografie aus ihrem kommerziellen Zusammenhang zu lösen und die Fotografen als Künstler und nicht als Handwerker zu behandeln. Von Anfang an haben wir uns um einen vorurteilsfreien Zugang zu den fotografischen Werken bemüht, ob es sich um Freizeit, Berufs- oder Kunstfotografie handelt. Sehr oft verhindert die konventionelle Darstellungsform die Wahrnehmung wesentlicher Unterschiede zwischen einzelnen Fotografien.

Wenn wir die Sammlung der FAI mit ihren mehr als 50 000 Fotos und Negativen betrachten, sehen wir, dass sie ausschliesslich aus kommerziellen Fotoateliers stammt, d.h. dass die Fotos auf Bestellung gemacht wurden. Unser Hauptanliegen war es, die Fotos nicht als Kunstwerke zu veröffentlichen und ihnen damit eine Geschichte zu geben, die nicht die ihre ist. Es war uns wichtig, dem Fotografen gerecht zu werden und einen Teil seines Archivs zu zeigen, das, aller Kommerzialisierung zum Trotz, jeweils seine eigene Handschrift trägt, auch wenn es anderen fotografischen Praktiken in der Welt ähnelt.

Überraschungsfoto

Im Archiv der FAI haben wir uns über lange Zeit mit der Praxis des Überraschungsfotos auseinandergesetzt. Diese Praxis war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem im Orient und dort wiederum an öffentlichen Plätzen im Libanon verbreitet.

Die Überraschungsfotografen waren überall verteilt, so auch am Place Al Burj in Beirut. Ihre Arbeit bestand darin, dass sie ohne Ankündigung Passanten auf den Bürgersteigen fotografierten. Die Aufnahmen ähnelten sich sehr, sowohl, was den Bildrahmen als auch den Hintergrund anging. Lediglich die Passanten wechselten. Die Fotografen gaben den Passanten eine Nummer, falls sie das Bild behalten wollten. Sobald das Foto entwickelt war, konnten sie mit der Nummer wiederkommen und das Bild gegen Bezahlung mitnehmen. Vom Place Al Burj verlegte sich diese Praxis über das Studio Jacques von Agob Kyomijan nach Tripolis. Jacques hatte ein paar Wanderfotografen angestellt, deren Aufgabe es war, die Passanten auf dem Bürgersteig gegenüber dem Fotoatelier zu fotografieren.

Beim „photo-surprise“ lassen sich zwei Punkte nennen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Fotografie als kommerzielle Einnahmequelle stehen: erstens, die Wahl des Ortes. Die meisten Überraschungsfotografen hielten sich an äußerst belebten Orten auf. Es war daher kein Zufall, dass sie sich den Al Tall Platz in Tripolis zum Zentrum gewählt hatten, einen Platz, an dem einige Strassen zusammenlaufen, gesäumt von zahlreichen Einkaufszentren, und an dem sowohl ein Busbahnhof als auch eine Taxistation die verschiedensten Städte Libanons und Syriens miteinander verbinden.

Der zweite Punkt ist die Arbeit des Fotografen selbst, die sich tagtäglich am selben Ort wiederholt. Er hat keine andere Wahl, als in kürzester Zeit so viele Aufnahmen wie möglich zu machen, etwas, was sonst eigentlich nur an Feiertagen passiert.

Die Praxis der Überraschungsfotografie ist der der normalen Fotografie sehr ähnlich. Beide nehmen auf, was sie vor sich haben. Beide kartieren in gewisser Weise den Raum, als ob sie die Passanten in ihren verschiedenen Laufrichtungen „zählen“ und die Besonderheiten des Ortes und seine Veränderungen in der Zeit beobachten würden. Hier jedoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Aufnahmearten: Während die „camera surprise“ DisORIENTation - Haus der Kulturen der Welt - 20.März bis 11. Mai 2003 den Passanten als potentiellen Kunden vermerkt, „zählt“ die normale Fotografie ihn, um ihn zu beobachten. Dennoch bleibt eine grosse formelle Ähnlichkeit bestehen.

Die Umgestaltung des Ortes

Dies war der Ausgangspunkt unserer Überlegungen, als wir uns Gedanken machten, wie wir die Sammlung von Überraschungsbildern im Projekt „Mapping Sitting“ zeigen wollten. Wir wählten die Überraschungsfotos vom Place Al Tall aus, da sie geeignet waren, die Veränderung des Platzes zu zeigen. Zudem konnten sie in einer Weise ausgestellt werden, die den Gedanken der „Vermessung“ von Passanten besonders gut zum Ausdruck brachte.

Nachdem wir die Fotos in einen zeitlichen Zusammenhang gestellt hatten, brachten wir sie in eine serielle Ordnung, die es ermöglichte, sie in ein Video zu verwandeln. Die Auswahl war weder willkürlich noch intuitiv, sondern folgte zahlreichen Diskussionen über das Wesen der Überraschungsfotografie, nachdem wir verschiedenste Möglichkeiten ausprobiert hatten, die riesige Fotosammlung zu ordnen. Zusammen mit anderen Leuten arbeiteten wir an der Zusammenstellung der einzelnen Bilder. Auf diese Weise entstand eine Collage aus mehreren Einzelbildern, vor jeweils demselben Hintergrund, jedoch mit einer grossen Anzahl von Passanten, die, jeweils einzeln, auf durchsichtiger Folie über den Hintergrund gelegt wurden.

Dann kopierten wir die verschiedenen Schichten auf einen Film und organisierten sie dergestalt, dass jedes Bild für eine begrenzte Zeit im Film erscheint, bevor das nächste kommt, so, als würde man tatsächlich einen Videofilm sehen, in dem sich verschiedenen Leute vor demselben Hintergrund bewegen; auf diese Weise löst das Video das Problem der Ortsgebundenheit.


Die Schlafende Vernunft – Über Salah Saoulis „Labyrinth“

Von Joseph Tarrab | Beirut | April 2000

Aus: Katalog „Das Labyrinth“, Berlin 2000

Die Stadt als Ort der Begegnungen, der Wechselwirkungen und des Dialoges ist das Gegenteil eines Labyrinthes: Boulevards, Alleen, Straßen und Gassen führen immer an ein Ziel, einen Platz, ein Monument, ein Haus. Sogar die Sackgassen sind Bestandteil eines städtischen Systems, welches im doppelten Sinne Orientierung bietet, Orientierung im räumlichen und Orientierung im übertragenen Sinne.

Der innere Krieg schränkt als erstes die Bewegungsfreiheit ein, durch die Errichtung von festen oder beweglichen Sperren, durch Barrikaden, durch Schüsse, die von Scharfschützen auf den Dächern abgefeuert werden, durch Schußsalven aus automatischen Waffen, durch Trommelfeuer. Ziel ist es, jegliche Kontakte zwischen den Stadtvierteln und ihren Bewohnern zu unterbinden; diejenigen, die es riskieren, die Demarkationslinien zu überqueren, sich dem Verbot der Verbrüderung mit der anderen Seite, mit der Seite des Gegners, des Feindes, des leibhaftigen Übels widersetzen, laufen Gefahr, entführt zu werden unter dem Vorwand der Spionage, des Verrats, der Zugehörigkeit zur gegenüberliegenden Gemeinde oder Partei, oder einfach als Tauschgeisel. Wenn sie nicht sofort niedergemetzelt werden, dann verschwinden sie in Kerkern, versinken in die Abgründe eines undefinierbaren Zustandes: nicht tot, nicht lebendig, verschollen, Bürger einer Welt des ‘Dazwischen-Seins’.

Salah Saouli ist ein Kind des Krieges. Im Jahre 1975, als der Krieg ausbricht, ist er 13 Jahre alt; und 21 im Jahre 1983, als er nach Deutschland geht. Das Werk des Todes und der Zerstörung wird sich bis 1991 fortsetzen. In diesen Jahren, in denen die Intelligenz und die Sensibilität entscheidend geprägt werden, hat er täglich, oft von Stunde zu Stunde, den unendlichen Konflikt, den die Überdrüssigen in Beirut den ‘amerikanischen Spielfilm” (Der ‘amerikanische Spielfilm” ist eine Anspielung zunächst auf eine amerikanische Fernsehserie, die fast täglich ausgestrahlt wurde, dann auf ein Theaterstück, das von einer unendlich langen und komplizierten Geschichte handelt, die kein Ende zu nehmen scheint) nennen, durchlebt. Im Radio wird ununterbrochen –schließlich geht es um Leben oder Tod- über den Zustand der Straßen berichtet: über die ‘befahrbaren, sicheren’ und über die ‘unwegsamen, wenig sicheren” (‘Befahrbare, sichere” und ‘unwegsame, wenig sichere” Straßen: es handelt sich hier um feststehende Redewendungen, die während des Krieges ständig, sogar im Abstand von nur wenigen Minuten, im Radio benutzt wurden, um über die neuesten Entwicklungen zu berichten). Diese verharmlosenden Begriffe schüren eher allgemeine Panik, umso mehr als sich die Lage ohne Vorwarnung von einem Augenblick zum anderen ändern kann: da reicht eine neue Absperrung oder irgendeine Schießerei.

Passierbare Straßen, gesperrte Straßen: Salah Saouli, so wie alle anderen pazifistischen Beiruter, erlebt das unglaubliche Schauspiel eines sich ständig wandelnden Straßennetzes; die ewige Verwandlung von der Stadt zum Labyrinth und vom Labyrinth zur Stadt, ganz im Rhythmus der Gefechte und der immer unzuverlässigeren Waffenstillstände. Am Ende siegt das Labyrinth mit zwei Klanen von Minotauren, die in einen engen Stellungskrieg verstrickt sind, mitten in der Stadt, im Herzen allen städtischen Lebens.

Wehe dem, der sich für Theseus hält, und sich in die Straßen vorwagt, wo die leergeplünderten Wohnhäuser mit Granatsplittern bespickt sind, von Einschußlöchern durchbohrt, vom Feuer verwüstet und von Kanonenschüssen aufgerissen sind: denn kein Faden von Ariadne wird ihn –tot oder lebendig – in den Kreis der Lebenden zurückbringen.

Wie sollte ein junger angehender Künstler nach seinem Abschied vom eigenen Lande nicht von all diesen traumatischen Erfahrungen buchstäblich besessen sein? Denn diejenigen, die dortgeblieben sind, versuchen dem Gespenstischen dieser nur allzu bedrückenden Realität, diesen traumatischen Eindrücken, die sich sowohl optisch und akustisch als auch über den Geruchs- und den Tastsinn eingeprägt haben, durch das Vergessen und durch die Suche nach Ablenkung zu entgehen. Denn all diese Erlebnisse sind genau das Gegenteil dessen, was Kunst eigentlich ist, das Gegenteil insbesondere der Kunst des Lebens, die nach Brechts Auffassung die größte aller Künste ist.

Wie könnte sein künstlerisches Schaffen sich anders entwickeln als zu einer Art persönlichem Krieg gegen die Gewalt, gegen die Unterdrückung und die Ungerechtigkeit überall auf der Welt und in jeder Hinsicht? Ein persönlicher Krieg, der aber nicht mit Moral- und Ästhetikerzeugenden Gegen-Bildern geführt werden kann, mit Bildern des Friedens, der Schönheit, der Liebe, der Gerechtigkeit und des Rechts; der Krieg muß bekämpft werden mit seinen eigenen Waffen und seinen eigenen Bildern, mit seinen eigenen Themen, Effekten und Konsequenzen. Und zwar in erster Linie mit dem Hauptthema des Labyrinthes, das für Salah Saouli die Auflösung des Verstandes, die Verzerrung der Logik, die Vergeudung des Sinns, die Bejahung des Absurden darstellt.

Das Labyrinth richtet ja nicht nur dadurch Unheil an, daß es –räumlich betrachtet- die vertrauten Straßen in mörderische Sackgassen verwandelt; der Krieg an sich, in der Vielfalt seiner rätselhaften Ursachen und seiner verborgenen Ziele, ist ein komplexes Durcheinander, ein Irrgarten, wo die Kriterien, die Werte, die Anhaltspunkte, die Zeichen und die Bedeutungen des zivilisierten Lebens sehr schnell unterwandert werden, ins Wanken geraten und gestürzt werden, und wo jeder, der sich nicht dem Herdentrieb des ‘Richtigdenkenden” fügt, dann ganz allein im Dunkeln auf sich selbst gestellt ist.

Alle Installationen von Salah Saouli entstehen aus diesem labyrinthischen Gefühl des Ungewissen und der Ratlosigkeit, das er zuweilen auch nur andeutungsweise versucht, uns zu vermitteln; die Installationen, die er den im Labyrinth der Folterer Vermissten widmet (bis jetzt zählt man im Libanon 17.000 Vermisste oder Entführte, ohne dass jemals von offizieller Seite der ernsthafte Versuch unternommen worden wäre, sie wieder zu finden, geschweige denn überhaupt nach ihnen zu suchen), bestehen aus unterschiedlich großen beleuchteten Kisten, die an den Wänden befestigt sind, in verschiedenen Ebenen von der Decke hängen und auf dem Boden verteilt liegen; alle sind an Steckdosen angeschlossen durch herumliegende Stromkabel, die bewußt oder unbewußt an ein Labyrinth erinnern. Diese Kabel, die dazu dienen, die Gesichter der Vermißten zu beleuchten, zeichnen zwar auf dem Fußboden ein Bild von wirrem Durcheinander, deuten aber auch, sofern man optimistisch an den ‘Faden von Ariadne” glauben mag, auf die Möglichkeit oder doch die Hoffnung eines Ausweges.

Die Vermissten, deren Gesichter wir – wie Voyeure ‘für den guten Zweck”– auf beleuchteten Häuserfassaden betrachten können, durch rundförmige Oberlichter, durch Vergrößerungsgläser, in verschlossenen Schachteln, die Personalausweise oder Vermisstenanzeigen beinhalten, beobachten können, zwingen ungewollt ihre Angehörigen ebenfalls dazu, eine labyrinthische Erfahrung zu durchleben. (Salah Saouli besteht darauf, den Zuschauer physisch mit einzubeziehen, dadurch daß man sich strecken, bücken oder hinhocken muß); denn in ihren hartnäckigen Nachforschungen stoßen diese immer wieder auf verschlossene Türen: eine erste Behörde schickt sie zu einer zweiten, die sie an eine dritte verweist, die sie auf eine falsche Fährte führt, und nach vielen Wirren befinden sie sich wieder am Ausgangspunkt, in der ersten Sackgasse. Zeitliches und räumliches Labyrinth überlagern hier einander: zum Schluß dringt das Labyrinth in die Denkvorgänge ein und verschmilzt mit den Windungen unseres Denkorgans.

Ist es diese Besessenheit der verschlossenen Türen, die Salah Saouli dazu treibt, am Ufer des Feisnecksees (Müritz) ein ‘Wassertor” zu errichten? Eine Art rustikaler Triumphbogen, der mit seinen drei doppelten Arkaden der Leere, der Räumlichkeit, der Landschaft gegenüber steht; gewaltiges Portal, das zwar auf gewisse Weise die Abschaffung des Labyrinthes darstellt, obwohl es auch gleichzeitig angedeutet wird durch die doppelten übereinander stehenden Bögen, die in dichtester Kongruenz zueinander Eingang und Ausgang zugleich darstellen.

Das ‘Wassertor” ist das Tor des Fließens, des freien Blickes, des freien Zugangs und der freien Bewegung, also genau das Gegenteil des Labyrinthes in der zerstörten Stadt mit ihrer eingeschränkten Bewegungsfreiheit. Es steht als Metapher für eine ersehnte, aber unwahrscheinliche und unmögliche Klarheit, im Gegensatz zur Undurchschaubarkeit des Labyrinthes. Deshalb arbeitet Salah Saouli auch fast wie besessen mit Nachdruck an der Art des Schauens, an den Wegen der Blicke: ein Loch in einer Kiste, wie bei ‘Sandouk al Fergé”, der Wunderkiste (Sandouk al Fergé”, wortwörtlich übersetzt ‘Bilderkiste”, bezeichnet den in der arabischen Welt bekannten ‘Wunderkasten”, der aus einer einfachen Kiste mit mehreren Löchern besteht, durch die man auf Bilder schauen kann, die von einem dahinterstehenden Märchenerzähler passend zu seinen Geschichten gezeigt werden), die hier allerdings mehr Schauerkiste ist; eine Aneinanderreihung, b.z.w Stapelung von flexiblen oder harten Folien, deren Beschriftung (die Namen von Vermißten) sich überlagert und miteinander verflochten ist: Linien, Zeichnungen und Fotos, die nicht von ungefähr auf das komplexe Flechtwerk der geometrischen Arabesken anspielen und auch optisch an die Verwirrung eines Labyrinthes erinnern.

In den letzten Jahren hat Salah Saouli unentwegt neue Sinnbilder für das Labyrinth entwickelt: durchsichtige Tafeln, die auf unterschiedlichste Arten aufgehängt sind und in verschiedenste Richtungen zeigen, auf denen Fotomontagen zu sehen sind von zerstörten Wohnhäusern, von Dokumenten, von Teilen von Gesichtern oder von Jagdbombern, die aufs unendliche vervielfältigt auf dem Hintergrund eines mit Bleistift gezeichneten Labyrinthes oder auf dem Hintergrund einer Landkarte zu sehen sind; fragmentarische Vergrößerungen auf durchsichtigen Plastikbahnen von deutschen Stichen aus dem Mittelalter, die Folter- und Hinrichtungsszenen darstellen; ein rechteckiges, geschlossenes Labyrinth aus Holz, an dessen Außenseiten in verschiedenen Höhen Löcher mit Vergrößerungs-gläsern eingebaut sind; Räume, wo stark vergrößerte , leicht versetzte Portraits von Vermissten aushängen, die beim Betrachter das Gefühl entstehen lassen, direkt von ihren Blicken angesprochen zu werden und ein derartiges Unbehagen auslösen, dass es den Zuschauer, der für diesen Zweck der Konfrontation mit unheimlichen Wesen, einzeln in den Raum geführt worden ist, in die Flucht schlägt; so wie es einem auch ergeht, wenn man die Portraits von Fayoum (Fayum ist eine ägyptische Oase in der Wüste. Ursprüngliches Sumpfland, wurde von den Pharaonen trockengelegt. Fundplatz von griechischen und ägyptischen Papyri sowie von Mumienbildnissen) betrachtet, deren düsteren Blicken die aus dem Jenseits zu kommen scheinen, man nicht lange standhalten kann, ohne davon verwirrt zu sein.

Undurchsichtigkeit bekämpfen und Transparenz herbeisehnen sind auch Wege, um gegen das Vergessen vorzugehen; denn man kann der Verdunkelung des Gedächtnisses begegnen, indem man die Erinnerung an das, was nicht in den Mäandern der Vergangenheit verschwinden soll, wachhält.

Das Vergessen ist in gleichem Maße eine Krankheit des Willens und eine Krankheit des Gedächtnisses. Das Vergessen gräbt dunkle Löcher in die Vergangenheit und trägt so dazu bei, ein anderes Labyrinth zu erzeugen, wo man sich leicht verirren und herumirren kann, bis hin zur Verwechslung zwischen Folterern und Opfern.

Das Labyrinth hat für Salah Saouli sowohl in seiner Erfahrung als auch in seiner Kunstgestaltung eine negative unheilbringende Bedeutung, obwohl es ja in anderen Bereichen wie in der Technologie oder im Spirituellen eine durchaus vorteilhafte Bedeutung haben kann: das ‘worldwide web” zum Beispiel ist doch nichts anderes als ein riesiges Labyrinth, das verschiedenste websites aufs unendliche in einer Art fruchtbarer Erkundungsreise miteinander verbindet; und in den ältesten Traditionen der Menschheit ist das Labyrinth das Geheimnis des lebens schlechthin, welches die Aufgabe hat, den Menschen von der Dunkelheit zum Licht zu führen, von der Illusion zur Wirklichkeit, vom Relativen zum Absoluten, vom Un-Sinn zum Sinn und von sich zu sich selbst. Hier ist das Labyrinth Synonym für das innere und äußere Wissen.

Salah Saouli aber verwendet es als Metapher um den Übergang vom Licht zur Dunkelheit darzustellen, um all die aggressiven zerstörerischen Triebe darzustellen, die zur Verdeckung des Wahren, zur Verzerrung des Schönen und zur Verfälschung des Guten führen. In der zeitgenössischen Sprache der bildenden Künste drückt er seine Weltanschauung aus, in der das Böse über das Gute siegt, und wo die Menschen sich zyklisch immer wieder in sinnlose Metzeleien stürzen, weil sie vergessen, weil sie unbedingt wollen, daß der Andere, der politische, ethnische oder religiöse Gegner genau so sein soll wie sie selbst.

Levinas behauptet, daß das Antlitz allein des Anderen uns das Gebot ‘Du sollst nicht töten” einflößt. Schöne Theorie, die aber leider in keinem Verhältnis zu den Fakten steht. Es ist meistens gerade das Antlitz des Anderen, das zum töten anspornt.

Die Geschichte der letzten 25 Jahre dieses Jahrhunderts ist eine Bestätigung für diese überdrüssige Ansicht über die Menschheit, für die Verzweiflung an der Menschlichkeit des Menschen. Der Krieg im Libanon hat nur den Auftakt zu einer Reihe von Massakern und Katastrophen gegeben: der tiefe Schlaf der Vernunft hat unentwegt Ungeheuer entstehen lassen, die die wahnsinnigsten Alpträume eines Goya übertreffen: in Ruanda, Burundi, Afghanistan, Algerien, Somalien, Bosnien, Kroatien, im Kosovo, in Tschetschenien, Kuweit und Irak. Man kann fürchten, daß sich diese Liste in Zukunft noch verlängern wird: die Mörder sitzen hinter jedem Winkel des Labyrinthes auf der Lauer.

Wir werden immer auf Menschen wie Salah Saouli angewiesen sein, als Hüter des Gedächtnisses, um die Dinge beim Namen zu nennen, um die Folterer anzuprangern und auf die Opfer aufmerksam zu machen. Somit steht er ganz in der Tradition der libanesischen Malerei, die unter anderem durch das bahnbrechende Werk eines Paul Guiragossian vertreten wird.

Zu einer Zeit, in der die bildenden Künste im weitesten Sinne aufgrund von fehlenden Beurteilungskriterien und vorwiegend merkantilen Interessen von willkürlichen Ausschweifungen geprägt sind, ist es erfreulich zu sehen, dass ein Künstler im Alter von Salah Saouli – er ist erst 38 Jahre – sich der Wirkungskraft der Kunst bedient und auf kulturelle, ethische und auch politische Werte zurückgreift, um sich unmissverständlich als Mensch für den Menschen einzusetzen. Die Kunst hat noch etwas zu vermitteln, über die Welt und das Leben, über das Gedächtnis und das Vergessen, über das Barbarische und das Zivilisierte. Trotz all derjenigen, die Nichtigkeiten hochloben, und die versuchen, es zu leugnen: Kunst ist doch noch ein Ausdrucksmittel.


DisORIENTation

Eröffnung 20. März 2003, 19 Uhr
>>> Öffnungszeiten: dienstags - sonntags 11–19 Uhr
>>> Eintritt 3 Euro, ermäßigt 2 Euro
Öffentliche Führungen: jeden Samstag und Sonntag um 16 Uhr; Preis: 1,50 Euro (zzgl. Eintritt) Schul- und Sonderführungen: nach Vereinbarung

Thematische Führungen: jeden Mittwoch um 17 Uhr; Preis: 2,50 Euro (zzgl. Eintritt)
2. April 100 % Arabica? Zum kuratorischen Konzept und der Kunst des Vermittelns, mit Michael Thoss (Bereichsleiter Bildende Kunst & Medien, HKW)
9. April Die Kunst des Erinnerns, mit Chaza Charafeddine (Künstlerin)
16. April Mapping Sitting: Zwischen Kunst und Dokumentation, mit Peter Funken (Kunstkritiker)
23. April Zwischen den Welten – Familiengeschichten, mit Alia Rayyan (Politikwissenschaftlerin)

Anmeldung für Führungen unter Tel: 030 – 397 87 180/183


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© 2003 Kultura (alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar.)
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