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Reihe Türkischer Film

"Hejar - Großer Mann, kleine Liebe"
von Handan Ipekci


Der Film "Hejar - Großer Mann, kleine Liebe" von Handan Ipekci gewann beim 3. Mittelmeer-Filmfestival in Köln den Preis für das beste Drehbuch. Ein pensionierter Richter (Sükran Güngör) findet nach einer Polizeirazzia ein fünfjähriges Mädchen (Dilan Ercetin) im Flur und nimmt die unter Schock stehende Kleine bei sich auf. Mit Erstaunen stellt er fest, dass sie kein türkisch versteht und eine ihm fremde Sprache spricht. Die kleine Hejar ist Kurdin. Damit beginnt nicht nur für den alten Mann und das Kind ein Abenteuer. Auch die Interpretation des Films sorgte für Auseinandersetzungen. Obwohl das türkische Kulturministerium die Produktion mitfinanziert hat, wurde ein Aufführungsverbot in der Türkei verhängt. Dabei hatte man sich begründete Chancen auf einen Oscar als bester ausländischer Film ausgerechnet. Die Darstellung der türkischen Militärmacht sei zu negativ, hieß es. Und wenn man sich den Anfang des Films genau ansieht, ist das auch so. Der Polizeieinsatz wird nämlich durch die Augen des fünfjährigen Mädchens gesehen, für das die Razzia ein traumatisches Erlebnis ist. Der Blick durch die Kamera ist subjektiv. Handan Ipekci, die sowohl Regie führte als auch für das Drehbuch verantwortlich ist, hat sich bewusst für die Belange der Kurden eingesetzt. Wenn die Kurdenfrage bereits gelöst wäre, hätte wohl die Schauspielkunst Sükran Güngörs im Vordergrund gestanden oder es wäre die ausgefeilte Kameraführung aufgefallen. So aber steht die politische Brisanz des Themas einer rein künstlerischen Interpretation im Wege.

Das kurdische Volk verfügt über kein eigenes Staatsgebiet. Das ehemalige Kurdistan erstreckt sich über die Staatsgebiete des Irak, des Iran und der Türkei. Als Minderheiten in den jeweiligen Ländern war das Schicksal der Kurden sehr wechselhaft, vor allem in Zeiten politischer Umbrüche. In der Türkei war ihnen lange Zeit verboten, ihre Sprache und ihre Kultur zu pflegen. Sie sollten als "Bergtürken" integraler Bestandteil der Türkei sein. Während sich viele Kurden eingliederten, beharrte ein Teil von ihnen auf Ausübung ihrer eigenen Kultur. Dies führte wiederholt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen türkischem Militär und kurdischen Separatisten. Erst seit den 90er Jahren kam es zu einer kulturellen Lockerung. Den Kurden ist es offiziell nicht mehr verboten, ihre Sprache und Kultur zu pflegen.

In "Hejar" symbolisiert ein pensionierter Richter die türkische Staatsmacht. Er beherbergt das Mädchen, ernährt es, kleidet es und geht mit ihm spazieren. Er versucht auch, sie zu unterrichten, scheitert aber an der Sturheit des Kindes und der Sprachbarriere. Als sie eines Abends untröstlich weint, lässt er sich am Telefon die kurdischen Worte für "Weine nicht" beibringen. Als die Zuschauer in Köln ihn erstmals kurdisch sprechen hören, geht ein Raunen durch das Publikum. Eine unsichtbare Mauer ist eingerissen. Der Richter hat eine Haushälterin, Sakine, gespielt von der wundervollen Füsun Demirel. Einige der komischsten Szenen des Films entstehen aus dem Zusammenspiel von Güngör und Demirel. Da ist das blanke Erstaunen in Güngörs Gesicht, als er mitbekommt, dass seine langjährige Haushälterin Kurdin ist. Instinktiv will er ihre Sprache unterdrücken, muss sich ihrer aber letztendlich doch bedienen, um mit Hejar kommunizieren zu können.

Die traurigsten Szenen sind die Suche nach Hejars Familie. Die Eltern sind beide tot. Die restlichen Verwandten leben im sozialen Elend. Zum Schluss steht die Entscheidung an, ob sich der Richter in Zukunft um Hejar kümmert oder sie in die Obhut der Verwandten gibt. Letztendlich trifft Hejar diese Entscheidung aber selbst.

Bei aller Kritik von offizieller Seite muss man Handan Ipekci zugestehen, einen engagierten Film geschrieben und gedreht zu haben. Ipekci selbst ist türkischer Abstammung. Schätzungen zufolge gibt es knapp 30 Millionen Kurden über etliche Staaten verstreut. Rund 20 % der türkischen Bevölkerung ist kurdischstämmig, was bedeutet, dass jeder fünfte "Türke" Kurde ist. Diese Zahlen sind wohlbemerkt Schätzungen. Der Film hat daher eine außerordentliche Bedeutung. Er setzt sich für die Überwindung der Sprachlosigkeit ein und ist ein eindrückliches Plädoyer, unter allen Umständen den Dialog aufrecht zu erhalten.

Helga Fitzner / Januar 2003



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