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Uraufführung


3. September 2013 - Premiere des Theaterkollektivs NUTS im Hamburger Sprechwerk

HONOLULU

von Britta Leander


Honolulu mit Stephan Arweiler und Tascha Solis - Bildquelle (C) Hamburger Sprechwerk



Wenn aus Wahnsinn Sinnwahn wird oder Könnten Sie die Moral ein bisschen leiser stellen, bitte?

Die Geschichte geht ungefähr so: Lilly, eine junge Frau in einer Gesellschaft, die beständig nach dem Sinn des Lebens sucht und darin einer Art „Sinnwahn“ verfallen ist, will es gerade anders machen – statt dem Wahn des Sinns zu erliegen, sucht sie den Sinn des Wahns. Ein Sprachwitz, der zweifellos das Zeug zu einem zündenden Moment für ein kritisches, aktuelles und gelingbares Stück hat.

Den ersten Akt hindurch sehen wir Lilly auf Reisen, ganz buchstäblich den Wahn suchend, um, unter und an einem Minister. Hier wird – gelungen – ein Politiker karikiert, der sich nachdrücklich um sein Image müht und dabei keine noch so lächerliche Technik der Selbstvervollkommnung auslässt – dezent fremdgesteuert von der Frau daheim, wie der Zuschauer aus einem Telefongespräch erahnen darf.

Im Gespräch zwischen Lilly und Minister erfahren wir dann den Auslöser des Dramas „Wahn-Suche“: Lilly hat ein „Zertifikat der Wahnstufe 00“ erhalten und ist, angesichts ihrer Wahnfreiheit, zu Tode betrübt. Lillys Redepart besteht überwiegend aus gekünstelten, begonnenen und nicht zu Ende geführten Schachtelsätzen mit vielen Substantiven, die wohl vor allem eines demonstrieren sollen, nämlich dass Lilly nachhaltig – und erfolglos – bemüht ist, sich selbst auf den Begriff zu bringen. Das ist zwar keine schlechte Idee, es ist aber auch ein bißchen anstrengend über anderthalb Stunden.

Der Minister, der eigentlich nur sich und seine Wiederwahl im Sinn hat, entledigt sich Lillys mehr oder weniger galant und schickt sie wieder auf Reisen. Vom wahren Drama der Wahnstufe 00 hat er natürlich nichts verstanden.

Im zweiten Akt trifft Lilly auf den Wächter des Neurosenarchivs. Der will sie nun zunächst nicht einlassen – und dann, gerade glaubt sie sich qualifiziert zu haben, da ist es auch schon wieder vorbei mit dem Finden des richtigen Orts bzw. des Wahns: Denn Lilly hätte den Abgrund gerne abgerundet, das aber taugt nichts für den ominösen Club der Wahnhaften, dem der Wächter des Neurosenarchivs vorsteht. Dort gibt es nur ordentliche, eckige Abgründe. Als letzten Rat gibt er Lilly mit auf den Weg, es doch mal mit der Schauspielkunst zu probieren – denn wer das Leben spielt, fiele immer weich, könne alle abgerundeten Abgründe mitnehmen. So hat Lilly ein neues Ziel.

Im dritten Akt nun bekommt das Stück unvermutet Dynamik, ja sogar jede Menge Witz. Wir sehen Lilly bei einer Audition, in der ein den Typus „überkandidelter Film-/Theatermensch“ vorstellender „Er“, der sich selbst in der dritten Person anspricht, ihr alle möglichen Übungen nach dem Prinzip des „Method Acting“ abverlangt. Allerdings nur, um sie dann, kurz vor Erreichen des „Felsens der Leidenschaft“, alleinzulassen („Bleib einfach kurz in der position, ja?“), um mit Mami am Handy abzuklären, ob sie den leckeren Apfelkuchen macht. „Er“ kommt nicht wieder. Man hätte diesen Akt bis hierhin gerne auch als Einakter gesehen: witzig, spritzig, kritisch. Dann schließt ein längerer Monolog der wartenden Lilly den Akt ab, in dem sie nun dem Zuschauer ihre gewonnenen Erkenntnisse ausbuchstabiert. Wir erfahren, dass Lilly nun denkt, dass man auch ohne Wahn auskommt – und auch ohne Schauspielerei, dass aber all diese Erfahrungen nicht umsonst waren. „Sind wir nicht alle exotisch und bunt?“ fragt Lilly in einem scheinbar tiefsinnigen Gemeinplatz. Damit es aber noch nicht aus, Lilly bekommt auch noch eine Biographie, gewissermaßen im Zwei-Sätze-Eilverfahren: ein absente, weil sich „der Erschöpfungsgesellschaft hingegeben“ habende Mutter, und eine Großmutter, bei der das Kind großwurde und die natürlich auch eine sehr kluge Frau war - und wir hätten jetzt Mitleid, wenn wir nicht gähnen müssten, weil uns das Motiv nicht allzu hinlänglich aus trivialer Popkultur bekannt wäre.

Nachdem sich Lilly nun im ersten bis dritten Akt an drei ziemlich untauglichen Gegenüber abgearbeitet hat und zu einem Ich gekommen ist, das „ich“ zu sich sagen kann, findet sie – wer hätte das gedacht – im vierten Akt nun das passende Du dazu. Der junge Mann, der sich auf den Platz neben sie setzen möchte, darf erst Platz nehmen, nachdem er sich als „Junge, der seinen Namen gerade nicht weiß“ vorgestellt und damit wohl als potentiell kompatibel ausgewiesen hat. Nach gebührendem Anlauf kommt es dann zu einer Konversation.


* * *


Hier muss kurz eingeschoben werden, was fast in Vergessenheit geraten wäre, weil es eigentlich auch eine unbedeutende Rolle spielt: Das Stück heißt Honolulu, weil Lillys Reise nach Honolulu gehen soll, wie der Zuschauer am Ende vom zweiten Akt erfährt. Der Ort ist eigentlich willkürliches Ziel ihrer Sehnsüchte, es ist ein bisschen wie James Garner in Auch ein Sheriff braucht mal Hilfe, der immer auf dem Weg nach Australien ist, oder vielleicht wie Estragon und Wladimir, die auf Godot warten. Nun, am Ende des Stückes ist sie sich eigentlich um so sicherer, wirklich dorthin reisen zu wollen – weil sie selbst, auch entgegen anderslautender Ratschläge, die Entscheidung dazu getroffen hat und glaubt, dass es der richtige Ort für gestrandete Menschen wie sie ist.

Und gemeinsam mit dem Jungen, der seinen Namen gerade nicht weiß, wartet sie auf den Zug nach Honolulu, an einem Ort, wo keine Gleise sind. Und das freut einen denn ja auch.

Was den Abend nachhaltig rettet und aus dem mäßigen Stück doch noch eine sehenswerte Aufführung macht, ist die ohne jede Einschränkung großartige schauspielerische Leistung der beiden Darsteller. Der gebürtigen Hamburgerin Tascha Solis gelingt es, die endlosen Begriffs-Litaneien der Figur Lilly zu meistern und ihr darin irgendwie doch noch Leben einzuhauchen. Lilly bietet als Charakter wenig Potential für Witz, doch wo es möglich ist, schöpft Tascha Solis die Möglichkeiten aus. Mehr hätte man daraus nicht machen können. Ein ebenso großes Lob ist dem Darsteller Stephan Arweiler auszusprechen, der alle vier männlichen Gegenparts spielt und darin seine große darstellerische Varianz zeigen kann, sein Talent für Akzente, seinen Witz.

Und so lautet das Fazit: Schlecht ist die Aufführung nicht, sie ist trotz allem durchaus sehenswert. Auch das Stück ist nicht schlecht – es hat viele Probleme, nur eines sicherlich nicht: ein Identitätsproblem. Zumindest weiß es genau, was es sein will: intellektuell, gesellschaftskritisch und am Puls der Zeit – und es inszeniert sich eben genau so, und zwar mit Pauken und Trompeten, Fanfaren und überhaupt allen Krachmachern, die man sich so denken kann. Kein Gedanke, der nicht ausbuchstabiert wird, keine Lehre, die dem Zuschauer nicht noch einmal explizit mitgeteilt wird, damit er sie auch ja verstehe. Dabei wird von anphilosophiertem Tiefsinn über „Ich“ und „Du“ und das Auf-den-Begriff-Bringen, alleingelassenen Kindern, die bei weisen Großmüttern groß werden, Weisheiten vom „Wir-sind-doch-alle-anders“-Typus und dem Happy End vom Ich mit seinem Du wirklich kein Gemeinplatz, kein Stereotyp ausgelassen. Leider gerät Honolulu dabei eher zu ziemlich vordergründigem Tiefsinn mit einem Schuß Boulevardtheater. Das Stück hat seine Momente – keine Frage. Und wenn man wohlwollend ist, mag man das Stück auch so auslegen: Es persifliert sich auf einer Metaebene selbst. Das ist auch eine Leistung, jedenfalls, wenn sie intendiert ist. Man weiß es nicht recht. Wahrscheinlich ist es gerade das, was – neben der Qualität der Darsteller - das Stück doch noch irgendwie sehenswert macht. Dennoch: Es wäre dem Stück gut bekommen, wenn es das eine oder andere Klischee ausgelassen hätte und in seiner Absicht ein wenig leiser daher gekommen wäre. Ein Individuum muss sich nicht immer erklären, ein Bühnenstück schon gar nicht. Dann nämlich hätte bei dieser wundervollen Besetzung in einer von Hamburgs schönsten Off-Theatern nicht viel schiefgehen können. So bleibt ein schaler Beigeschmack bei dieser Reise nach Honolulu.



Honolulu mit Stephan Arweiler und Tascha Solis - Bildquelle (C) Hamburger Sprechwerk


Bewertung:    

Ann-Kristin Iwersen - 5. September 2013
ID 00000007120
Weitere Infos siehe auch: http://www.hamburgersprechwerk.de


Post an Ann-Kristin Iwersen



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