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Bremer Theater

Der Totentanz des Publikums

Ullmanns „Der Kaiser von Atlantis“ in Bremen: virtuoser Regie-Coup von Rosamund Gilmore

Jede Produktion von Victor Ullmanns 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt komponierter Oper „Der Kaiser von Atlantis oder die Tod-Verweigerung“ konfrontiert die Regie mit außergewöhnlichen Herausforderungen: Sie hat einerseits die ungeheuerlichen Entstehungsbedingungen dieser Oper szenisch erfahrbar zu machen und sollte andererseits dem Ethos von Ullmanns Legendenspiel Referenz erweisen: Darin geht es um die Abdankung des Todes aus Empörung über die rasende Perfektion des von Menschen organisierten Massenmords und die Wiedereinsetzung des natürlichen Wechsels von Leben und Tod durch die Selbstbescheidung des Kaisers in der freien Annahme seiner Sterblichkeit.

Wie das Bremer Produktionsteam um Regisseurin Rosamund Gilmore den sich überkreuzenden Dimensionen dieses Zeitdokuments gerecht zu werden versucht, das ist höchst virtuoses und intelligentes Musiktheater. Einer herausragenden Ensembleleistung gelingt es, der aktuell aufkommenden Tendenz, den Holocaust als Episode der deutschen Geschichte abzuheften, entgegenzutreten und die Zuschauer zum Nachdenken über das zu zwingen, worüber alle schon genau Bescheid zu wissen meinen.

Die Aufführung beginnt, sobald der Zuschauerraum für das Publikum freigegeben wird. Unversehens befinden sich die Besucher in dem von Nicola Reichert detailgetreu nachgebauten Ambiente einer Konzertsaalbaracke aus dem 1944 in Theresienstadt hergestellten Propagandafilm „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“: Sitzgelegenheiten wie im Caféhaus laden zum Verweilen ein, auf der Bühne wartet ein Konzertflügel, Blumenkästen schmücken den Bühnenrand, livriertes Personal flankiert den Saal. Eine paradoxe Stimmung bedrohlicher Harmlosigkeit beherrscht den Raum.

Dann geschieht etwas, das alles an diesem Abend noch Folgende vorab in ein bitter schmerzendes Verlustgefühl einfasst. Eine mondäne Sängerin und ihr Begleiter erscheinen auf der Bühne. Die Sopranistin - Jennifer Bird: elegant, ernst, von ungeheuer beherrschter Intensität - singt mit fesselnden psychischen Schattierungen Ullmanns 1940 komponierte „Drei Sonette aus dem Portugiesischen“, ein kaum bekanntes, offenkundig bahnbrechendes Meisterwerk der Liedkunst des 20.Jahrhunderts. Und jeder kann es spüren: In diese ebenso zärtlichen wie expressiven Kantilenen, beladen von Erwartung, Sehnsucht, Erfüllung, Erinnerung und Trauer, haben sich die ganze Schönheit und die Lebensmelodie des von der Erde gejagten europäisch-jüdischen Menschentums eingeschrieben.

Nach diesem Prolog-Epitaph nutzt Gilmore die Mittel epischer Distanzierung und des environmental theatre für ein tiefgründig doppelbödiges Spiel mit dem Publikum. Die Figuren der Oper lässt die Regisseurin - einem alten Theatertrick in dieser Raumkonstellation zu völlig neuer Wirkung verhelfend - zunächst von der Gestalt des „Lautsprechers“ aus dem Publikum rekrutieren. Später fordert das livrierte ‚Bedienungspersonal’ verschiedene Teile des Publikums mit unangenehm drängender Bestimmtheit dazu auf, ihren Platz zu verlassen. Niemand widerspricht. Verunsichert suchen die Angesprochenen zur Musik der Totentänze aus den orchestralen Zwischenspielen nach neuen Sitzgelegenheiten und werden dabei mitunter von ihren Bekannten getrennt und zu völlig neuen Gruppen zusammengewürfelt. Indem Gilmore Ullmanns Oper konsequent zu einer Aufführung in der Aufführung verwandelt, macht sie auf beklemmende Weise die Infamie der Kulturveranstaltungen im Konzentrationslager Theresienstadt erfahrbar.

Zugleich entstehen so immer wieder neue Spielräume für die Stationen der Opernhandlung, die durch das geschickte Mehrebenenspiel Gilmores wieder näher an das von Ullmann intendierte Welttheater um Leben und Tod heranrückt. Der Kaiser von Atlantis (mit stimmlicher Noblesse: George Stevens) ist also keine Hitler-Karikatur, sondern in seiner Hilflosigkeit und Einsamkeit eher Mitleid erregend und am Ende auf glaubwürdige Weise wandlungsfähig. Yaroslava Kozinas Trommler verbindet seelische Kälte mit einer latent sexuell aufreizenden Ausstrahlung - das trifft genau die perverse Psychomechanik aller Propaganda, besonders dann, wenn noch eine derart rollenadäquate Schärfe im Timbre dazukommt. Innig-schlichtes Zartgefühl verleihen Thomas Scheler und Jennifer Bird der Auferstehung der Liebe in der ergreifenden Begegnung zwischen dem Soldaten und seiner Feindin, an deren besudeltem Hemd noch die von den Zeitläufen geschändete Sängerin des Prologs wiederzuerkennen ist. Einziges Defizit der sängerischen Leistungen bleibt die unter den Darstellern stark differierende Textverständlichkeit, wodurch wesentliche Aspekte des Legendenspiels unterbestimmt bleiben.

Christian Günthers Dirigat kommt beinahe einer zweiten Entdeckung der Oper gleich, so sehr vermögen er und die Instrumentalisten der Bremer Philharmoniker der Ullmannschen Not-Kammerbesetzung eine verblüffende Klangfülle voller Eleganz und Delikatesse abzuringen. In ihrer von Günther präzise herausgearbeiteten komplexen Heterogenität der Stilmittel klingt die Musik dennoch wie aus einem Guss. Die etwas fahle Beleuchtung für das auf der Hinterbühne sitzende Orchester erzeugt dabei ein Moment von Irrealität, wie es auch der Musik selbst inhärent ist.



Christian Tepe - red / 22. Dezember 2004
ID 00000001526

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