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Aalto-Musiktheater Essen

Orlando

Georg Friedrich Händel


v. l. n. r.: Christina Clark (Dorinda, oben), Bea Robein (Medoro) und Anke Herrmann (Angelica) | Fotograf: Bettina Stöß



„Orlando“ hatte Konjunktur in der letzten Spielzeit. Sowohl in München, Zürich als auch in Essen wurde Händels Werk, das 1733 in London uraufgeführt wurde, mit einer Neuinszenierung bedacht. In Essen zeichnet für diese Tilman Knabe verantwortlich. Bei Knabe ist Orlando ein erfolgreicher Topmanager mit einem schicken Hochhausbüro, oder zumindest war er es früher einmal. Das Hochhausbüro mit den Edelholzpaneelen und einer breiten Fensterfront gibt es noch immer, nur Orlando ist der Liebe wegen aus der Bahn geraten. Von Beginn an ist er jenseits von Gut und Böse, nicht mehr Herr seiner selbst. Seine Liebe zu Angelica hat aus dem erfolgreichen Manager einen heruntergekommenen Mann gemacht, der nicht mehr auf sein Äußeres achtet und ohne Haltung durch die Welt taumelt. Denn Angelica liebt nicht Orlando, sondern Medoro.


Ann Hallenberg (Orlando) | Fotograf: Bettina Stöß


Zoroastro, ebenfalls ein Geschäftsmann – allerdings im schicken Anzug – spielt Orlando dessen erfolgreiches Managerleben per Videoprojektion vor, immer und immer wieder.
Durch die Wiederholung muss sich Orlando nicht nur beständig mit seiner ruhmreichen Vergangenheit auseinandersetzen, sondern Knabe schafft es auf diese Weise auch, die Videoprojektion und die menschliche Aktion auf der Bühne in Einklang zu bringen. Neigt man als Zuschauer dazu, sich gemütlich im Sessel zurückzulehnen und den Film zu gucken, richtet man hier bei der zweiten oder dritten Wiederholung dann doch wieder den Blick auf Orlando. Als Projektionsfläche dient eine Leinwand, die vor der Glasfront des Büros von Zoroastro per Knopfdruck heruntergelassen wird und von beeindruckender Größe ist. Auch nachdem Orlando diese Leinwand heruntergerissen hat, ist es noch möglich, Videos zu zeigen. Diese werden dann eben auf die Jalousien projiziert, die Zoroastro ebenfalls mit einem Knopfdruck herunterfahren lässt, ebenso wie er die Projektion mit einem Tastendruck auf seinem Laptop in Gang setzt.
Sehr modern ist sie also, diese Orlando-Welt. Zugleich kommt aber noch eine zweite Welt hinzu, ein geheimnisvoller, nahezu paradiesischer Garten. Das erste Mal sieht man ihn, nachdem Orlando die Leinwand heruntergerissen hat. Hinter der Fensterfront, die zu Beginn noch ein Fensterputzer in scheinbar schwindelerregender Höhe gereinigt hatte, sprießt üppiges Grün.
Ist das Traum oder die Realität? Jedenfalls begegnet man hier Medoro, der von Dorinda und Angelica geliebt wird und sich auch nicht zu schade ist, beide zu befriedigen. Letztlich entscheidet er sich aber für Angelica und versucht, zusammen mit dieser, Dorinda mit einem Schmuckstück abzuspeisen. Über der Liebe von Angelica und Medoro, die mit einem Herzchen auf der Glasscheibe ihren sichtbaren Ausdruck findet, schwebt Orlando als Damoklesschwert. Er will Angelica umbringen, und aus diesem Grund sind Medoro und seine Geliebte den Großteil des Stücks auf der Flucht. Bei Knabe ist Orlando allerdings eher in seinem Wahnsinn gefangen und mit sich selbst beschäftigt, als seinen Racheplan konsequent zu verfolgen. Eine weitere Videoprojektion zeigt seinen eigenen Selbstmord und am Ende des ersten Teils begegnet er sich gewissermaßen selbst. Die Bürohausglasfront wird zu einem Spiegel, die Bewegungen Orlandos werden von einem ähnlich gekleideten Double gedoppelt. Dieses Double ist – wie sich wenig später herausstellt – eine Frau. Damit streift Knabe einen anderen Aspekt des Orlando-Stoffes: den Wechsel des Geschlechts, wie er etwa in Virginia Woolfs Roman „Orlando“ thematisiert wird. Und zugleich ist das die höchste Form der Identitätskrise.




Ann Hallenberg (Orlando) und Christina Clark (Dorinda) | Fotograf: Bettina Stöß


Zoroastro weiß im zweiten Teil keinen anderen Ausweg mehr, als Orlando in den Wald hineinzustoßen, wo dieser furchtbar wütet. Zumindest verkündet das die Musik, und als die Jalousien den Blick wieder freigeben, steht kaum ein Stein auf dem anderen. Das Grün ist einem tristen Grau gewichen, trostlose Holzstümpfe statt blühende Flora. In diesem Moment gelingt Knabe der berührendste und schönste Moment der Inszenierung: Orlando, wieder in seinen Büroraum zurückgekehrt, singt vom Segen des Schlafes, und auf der Bühne, im nun kahlen Wald, stehen drei Musiker mit Streichinstrumenten (zwei Violen d’amore und ein Violoncello) und begleiten ihn.



Ann Hallenberg (Orlando) | Fotograf: Bettina Stöß
Knabe beantwortet die Frage nicht, wo die Grenze zwischen Tag und Traum liegt. Unklar bleibt, was Orlando träumt und was wirklich geschieht. Dass die Gartenwelt für ihn eine besondere Bedeutung hat, zeigt die Tatsache, dass ein Bild von diesem Paradies gerahmt über seinem Schreibtisch hängt, quasi als gebändigte Natur. Zoroastro ist eine Art Meister der Zeremonie, der die Projektionen auslöst, aber am Ende verzweifelt auch er, vergeht sich an der Sekretärin – ein klassisches stummes Opfer –, und es gibt Tote. Dem Problem jeder Barockoperinszenierung, die langen Arien zu füllen, begegnet Knabe im ersten Teil weitestgehend mit Routine. Die Sänger agieren ihre Affekte aus. Erst im zweiten Teil nutzt Knabe die Chance, in einer Arie die Figuren näher zu charakterisieren und auch die Geschichten anderer Figuren weiterzuerzählen, ohne dass er in Aktionismus verfällt. Damit entsteht in diesen Momenten des scheinbaren Handlungsstillstands eine Dichte, die dem ersten Teil über weite Strecken fehlt.
Die Sänger wissen allesamt sowohl spielerisch als auch sängerisch zu überzeugen. Auch die Tatsache, dass Bea Robein aufgrund einer Indisponiertheit bei der besuchten Vorstellung nicht singen konnte und stattdessen Katharina Peetz aus Zürich die Partie vom Graben aus sang, konnte das klangliche Gesamtbild nicht trüben – im Gegenteil. Katharina Peetz fügte sich stimmlich hervorragend ein und sorgte zudem noch für ein sympathisches Kuriosum: An einer Stelle verpasste sie – verträumt dem Gesang ihrer Kollegen lauschend – ihren Einsatz und Dirigent Alessandro De Marchi sprang geistesgegenwärtig ein. Auch ansonsten war der Dirigent bei der Sache. Engagiert dirigierte er Sänger und Orchester. Alessandro De Marchi, seines Zeichen zwar Barockspezialist, aber hörbar kein Vertreter eines akademisch-trockenen Musizierens, entzündete Feuer in der Partitur, strahlt Freude und Leidenschaft für die Sache aus, die auf das Publikum überspringen.

Am Ende entdecken Angelica und Medoro jeweils einen Hut und eine Tasche, die mit ihrem Hut und ihrer Tasche identisch sind. Sie sind dem Traum entkommen und in der Realität angekommen, feiern ihr Glück. Für Orlando scheint diese Trennung zwischen Traum und Realität nicht mehr möglich zu sein. Er ist zu entkräftet, sich wieder anzukleiden und sich in die Gesellschaft einzugliedern, die um ihn herum ein Happy End feiert.


Karoline Bendig - red / 2. Dezember 2006
ID 00000002830
Georg Friedrich Händel
Orlando
Opera seria in drei Akten
Libretto von einem unbekannten Bearbeiter nach Carlo Sigismondo Capece

Musikalische Leitung: Alessandro De Marchi
Inszenierung: Tilman Knabe
Bühne: Alfred Peter
Kostüme: Gabriele Rupprecht

Orlando: Ann Hallenberg
Angelica: Anke Herrmann
Medoro : Bea Robein (spielend) / Katharina Peetz (singend)
Dorinda: Christina Clark
Zoroastro: Antonio Abete

Wiederaufnahme am Aalto-Musiktheater Essen am 12.11.2006

Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-essen.de/asp/gesamt_einzelstuecke.asp?idperform=531&sparte=1





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