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THEATER DER KELLER, Premiere Fr 12. Januar 2007

Cherry Docs

David Gow


von links: Alexander Wipprecht, Emanuel Fleischhacker | Fotos © Hydra Productions



Cherry Docs, das erfährt der interessierte Zuschauer zu Beginn des Abends von Skinhead Mike, sind ein besonderes Schuhwerk mit Stahlkappen, echte Wertarbeit. Man kann nur vermuten, dass Mike mit diesen auf seinem wehrlosen Opfer – einem Pakistani – herumgetreten ist, so dass kurz darauf im Krankenhaus gestorben ist. Nun sitzt er im Gefängnis und wartet auf seinen Prozess. Als Pflichtverteidiger ist ihm Danny zugeteilt, ein junger jüdischer Anwalt. Dannys Liberalität ist der Grund dafür, dass Mike sich von ihm vertreten lassen will. Und vielleicht ist es auch dieser Charakterzug – oder zumindest das Gefühlt, die Welt verändern bzw. verbessern zu können –, der Danny nicht nur Mikes Verteidigung übernehmen, sondern ihn auch geradezu fanatisch immer tiefer in die Materie eintauchen lässt. Allerdings fordert er dasselbe Engagement von seinem Klienten, der seine Akten durchlesen und ihm, seinem Anwalt, dann die optimale Verteidigungsstrategie präsentieren soll.


von links: Alexander Wipprecht, Emanuel Fleischhacker | Fotos © Hydra Productions


PiaMaria Gehle vertraut in ihrer Inszenierung auf ihre beiden Schauspieler. Und das ist auch sinnvoll, denn der Text kann nicht wirklich überzeugen – zu geschwätzig, ohne dass man wirklich etwas über die Figuren erfährt, zu moralisch. So wird nicht deutlich, welche Ursache Dannys Besessenheit hat, Mike zu verteidigen. Eine Besessenheit, die bis zur Entfremdung und Trennung von seiner Frau führt. Und weshalb schenkt Danny jemandem, der ihn seiner Ideologie gemäß tot sehen möchte, die Aktentasche seines Vaters?
Dabei gibt es interessante, kontroverse Ansätze. Beispielsweise zweifelt Danny nach einem Schlüsselerlebnis, als er sich im Auto von farbigen Jugendlichen bedroht sieht, an dem Modell einer multikulturellen Gesellschaft, in der zu leben meint. An einem Punkt, als er dem renitenten Mike ein bisschen Verstand einprügeln will, merkt er, wie viel Spaß es ihm machen würde, einen Menschen zu schlagen. Aber leider gibt es zu wenige von diesen tiefen Abgründe der Figuren im Stück. Und so ist auch absehbar, dass Gow nicht darauf verzichten kann, dem Ganzen dann doch das Mäntelchen des moralischen Wandels umzuhängen, wenn Mike am Ende darauf aufmerksam macht, dass Rassismus und die Skinheadbewegung ein Problem der Gesellschaft sind, und dafür plädiert, seine Strafe und zugleich die Möglichkeit zu bekommen, sich zu rehabilitieren.
Warum man „Cherry Docs“ dennoch sehen sollte? Weil sich Emanuel Fleischacker als Mike und Alexander Wipprecht als Danny ein erstklassiges, hochspannendes und dramatisches Figurendrama liefern. Fleischacker, Schüler des diesjährigen Abschlussjahrgangs der Schauspielschule, die dem Theater der Keller angeschlossen ist, überzeugt als Rechtsradikaler, der eine ungeheure Tat begangen hat, die ihn selbst ein wenig zu überfordern scheint. Sein Mike ist uneinsichtig, aber auch verletzlich, was nicht zuletzt sein Gipsarm zeigt. Hinter seiner starken Fassade steckt ein kleiner Junge, dem sein Anwalt immer wieder vor Augen halten muss, was 20 Jahre Haft bedeuten können: den Verlust eines Großteil des Erwachsenenlebens. Gelegentlich platzen in der Wut ehrliche Aussagen aus ihm heraus: Hätte er den anderen töten wollen, hätte er es getan und der Krankenhausaufenthalt wäre nicht mehr nötig gewesen. Mit seinem Gips kratzt er an der Wand entlang, spielt Ball, macht die Langeweile und Ziellosigkeit, die mit dem Gefängnisaufenthalt verbunden sind und voraussichtlich noch ein paar Jahre andauern werden, sicht- und fühlbar.
Alexander Wipprechts Danny dagegen entwickelt sich von einem souveränen Anwalt mit einer ironischen Distanz zu seinem Klienten zu einer zerrissenen, gehetzten Figur, der ihr wohlorganisiertes Leben zunehmend entgleitet. Diese Zerrissenheit setzt Wipprecht durch ein körperbetontes Spiel um. Selten kommt sein Danny zur Ruhe, er tigert in seinem Haus auf und ab, und ist im Vergleich zu Mike sehr viel weniger träge. Es wundert nicht, dass er es schließlich ist, der Mike körperlich angeht, nicht dieser ihn.

Neben dem Spiel der Schauspieler weiß ein zweiter Aspekt des Abends zu überzeugen. Das, was man im Stück nicht über die Figuren erfährt, holen PiaMaria Gehle und ihr Ausstatter Simon Schläger über Videoprojektionen auf die Bühne. Zu Beginn sieht man zunächst, wie Mike sich den Kopf, dann, wie Danny sich den Bart rasiert. Später steht Danny einsam und nachdenklich auf einem belebten Platz, Mike fischt er in einer Toilette oder malt eine nackte Frau – Zeitvertreib im Knast eben. Diese Bilder ergänzen das, was die beiden Schauspieler auf der Bühne machen. Die Leinwand, etwas breiter als ein Mensch und portalhoch, wirkt dabei wie eine Trennung zwischen Dannys (links der Leinwand) und Mikes Raum, bringt aber gelegentlich die Figuren einander auch sehr nahe, wenn beispielsweise Danny auf der Bühne neben der Leinwand steht und auf dieser Mike in Großaufnahme zu sehen ist. Und natürlich werden dem Zuschauer hier die Figuren schon aus dem Grund vertrauter, weil die Kamera näher an sie herankommt. Eine visuelle Lösung, die Gehle zum Glück allerdings auch nicht überstrapaziert.

Fazit: Wenn man überzeugendes Schauspielertheater mit einem ambitionierten Thema sehen will, ist „Cherry Docs“ auf jeden Fall einen Besuch wert.


Karoline Bendig - red / 16. Januar 2007
ID 00000002922
David Grow
Cherry Docs


Regie: PiaMaria Gehle
Ausstattung: Simon Schläger
Mit: Emanuel Fleischhacker und Alexander Wipprecht

Premiere am 12.01.2007
Weitere Vorstellungen vom 23. bis 28.01., am 04. und 06.02.

THEATER DER KELLER
Kleingedankstr. 6
50677 Köln

Weitere Infos siehe auch: http://www.theater-der-keller.de





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