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Theaterkritik

Ernst Barlach: DER BLAUE BOLL (Schauspiel Bonn)

Valentin Jekers Inszenierung der fast hundertjährigen Bürger-Tragödie "Rose Bernd" von Gerhart Hauptmann wurde 1999 zum Theatertreffen in Berlin eingeladen. Die Hauptdarstellerin Johanna Wokalek, nach einer Kritikerumfrage der Zeitschrift "Theater heute" zur Nachwuchsschauspielerin der Saison 1999/2000 gekürt, gilt spätestens ab diesem Zeitpunkt in Fachkreisen auf internationaler Ebene als wichtige Entdeckung und spielt nun am Burgtheater in Wien.

In der aktuellen Spielzeit präsentiert "Bergfuchs" Jeker in den Bad Godesberger Kammerspielen ein realistisch-phantastisches Drama aus dem flachen Norden, welches vor über 75 Jahren geschrieben wurde.
Die Entdeckung des Regisseurs heißt diesmal Ernst Barlach, dessen Arbeiten als Bildhauer geschätzt sind, während sein literarisches Schaffen (Prosa und Dramen) weniger populär ist.

Wie alle Theaterstücke des Autors konnte sich auch das 1926 uraufgeführte sechste Drama Barlachs, "Der blaue Boll", trotz einiger bemerkenswerter Inszenierungen im Laufe der Jahrzehnte nicht dauerhaft durchsetzen.
Angesichts der stimmigen Regiearbeit Jekers ist dies für das Bonner Publikum kaum nachvollziehbar.
Denn der Dramatiker Barlach hat mit einer komisch anmutenden, eigenwilligen Sprache und den erdverbundenen Typen ein vollkommenes Stück Kunst für die Theaterwelt geschaffen, das zu keiner Zeit werkfremder Elemente oder abstruser Interpretationsversuche (so wie 1999 in der Inszenierung von Thomas Bischoff in Bremen geschehen) bedarf.
Jeker stellt sich mit Vorliebe der Herausforderung, Stücke zu reaktivieren, die aus heutiger Sicht als problematisch gelten. Mit dem "blauen Boll" gelingt ihm das Kunststück, die Welt der Barlach-Figuren trotz des erheblichen zeitlichen Abstandes unverkrampft heutig aufleben zu lassen.

Im Zentrum des Stücks steht der angesehene Gutsbesitzer Boll (wunderbar: Michael Prelle), der offensichtlich in eine "Midlife"- Krise geraten ist und mit seiner Bemerkung, nicht mehr Boll zu sein, die Mitmenschen irritiert. Sein Drang, aus der heilen Welt bürgerlichen und selbstgenügsamen Daseins herauszutreten und ein anderer zu werden, gerät durch die zufällige Bekanntschaft mit Grete (Therese Hämer), einer verzweifelten jungen Mutter, die ihre Kinder von der Last des Lebens befreien will, an einen Prüfstein. Während es Boll nicht gelingt, das von ihr verlangte Gift zu besorgen, durchleidet die von ihrem Gewissen geplagte Grete im Gästezimmer des klumpfüßigen Wirts Elias (Jochen Langner) ein Höllenszenario. Der ebenfalls hinkende "Herrgott" (Maximilian Hilbrand), ein geheimnisvoller Tischgast Bolls, bestätigt dem Gastgeber beim Wiedersehen in der Kirche, dass jedes Werden seine Zeit hat und der Zeitpunkt für ein primitives Werden, im Sturz vom Kirchturm, verpasst sei. Boll zeigt sich einsichtig. Indem er will, was er muss, gelingt ihm der erste Schritt zur Selbstverwirklichung.

Der Erfolg einer Inszenierung ist von mehreren Faktoren abhängig, und hier findet man tatsächlich alles, was einen wertvollen Theaterabend ausmacht.
Dem genial einfachen Bühnenbild Thomas Dreißigackers genügen sieben kleine Häuser, eine Kirche und die mittels Drehbühne entstehenden Einsichten kleiner Gassen und dunkler Plätze, um stimmungsvoll eine Atmosphäre zu schaffen, mit der selbst Meister Barlach aufs Höchste zufrieden gewesen wäre.
Matthias Vogels Lichtarbeit schafft für jede Szene, sei es im Kirchenraum oder in den Winkeln unter freiem Himmel, in solch idealer Weise die richtige Temperatur, dass ohne Bruch eine homogene kleine Welt entsteht. Die Kostüme von Maria Roers sind den Figuren tatsächlich auf den Leib und aufs Gemüt geschneidert.
Es ist überaus amüsant, die liebenswert verschrobenen Provinzler auf der Bühne zu beobachten, denn die Akteure begnügen sich nicht mit der Darstellung skurriler Gestalten, sondern lassen schlichte Charaktere aufleuchten, ohne zu denunzieren.
Der Bonner Boll ist das herausragende Theaterereignis dieser Spielzeit am Rhein.

v.-red / 01.12.2000




Inszenierung: Valentin Jeker
Bühnenbild: Thomas Dreißigacker
Kostüme: Maria Roers
Musik: Jori Schulze-Reimpell
Licht: Matthias Vogel
Dramaturgie: Hermann Wündrich
mit: Michael Prelle, Monika Kroll, Therese Hämer, Hanns-Jörg Krumpholz, Wolfgang Jaroschka,
Wolfgang Rüter, Karsten Gaul, Maximilian Herzogenrath/Luca Sestak, Giovanni Früh, Jochen Langner,
Zeljka Preksavec, Maximilian Hilbrand, Steffen Laube, Christoph Hagin, Michael Müller-Engelhardt, Waldemar Hooge
Premiere: 18.11.2000, Kammerspiele Bad Godesberg
Infos zu weiteren Aufführungsterminen:
www.uni-bonn.de/theaterbonn
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