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Feuilleton


Berliner Festspiele
speilzeiteuropa
- internationales Theater, 17. und 18. Dezember 2004

An Antigone von Wanda Golonka



Wanda Golonka

Ich weiß, dass ich nichts weiß – ich suche nur, ich experimentiere und recherchiere. Wanda Golonka

Noch bis Februar 2005 findet im Haus der Berliner Festspiele internationales Theater statt mit bedeutenden Tanz-und Theaterproduktionen aus dem europäischen Raum. Dabei treten so bekannte Namen wie Frank Castorf, Heiner Goebbels oder Luc Bondy auf. Neben diesen großen Produktionen stehen kleinere aber ästhetisch wegweisende Arbeiten.

Ich mag den Satz von Deleuze: _ Nichts ist beunruhigender als die stetige Bewegung dessen, was unbeweglich erscheint._ Diese Beunruhigung ist mein Motor. Wanda Golonka

An Antigone von Wanda Golonka fand in diesem Rahmen am 17. und 18. Dezember mit anschließendem Publikumsgespräch statt.


Zur Choreografin Wanda Golonka:

Geboren 1958 in Lyon, Frankreich, erhielt sie zunächst eine tänzerische Ausbildung, wurde am Folkwang-Tanzstudio engagiert und gründete dann in Düsseldorf 1986 zusammen mit dem bildenden Künstler VA Wölfl das Avantgarde-Ensemble „Neuer Tanz“. 1995 wurde sie mit dem ersten Deutschen Produzentenpreis für Choreografie ausgezeichnet. Seit 2001 ist sie Regisseurin und Choreografin am Schauspiel Frankfurt. Hier entstand auch die Theaterrecherche „An Antigone“, acht Solo-Performances, ursprünglich acht Einzelpremieren, verteilt über die Spielzeit 2002/2003.

Ich bin ein bisschen eine Kamikaze-Fliegerin. Ich mag das Risiko zu sehen, ob sich etwas einlöst. Wanda Golonka

Antigone ist eine griechische Tragödie des Dichters und Denkers Sophokles. Wanda Golonka nahm die Ende des 18. Jahrhunderts verfasste Übertragung Hölderlins als Ausgangsmaterial.


Die Story:
Antigones Vater Ödipus war der Mann, der unwissentlich seinen Vater erschlug, seine Mutter Iocaste heiratete und vier Kinder zeugte: Antigone, Ismene, Polyneikes und Eteokles. Als er von all dem erfuhr, nahm er sich das Augenlicht, Iocaste sich das Leben.
Polyneikes und Eteokles wollten sich die Herrschaft über Theben nun teilen. Doch Eteokles vertrieb seinen Bruder Polyneikes , der gegen Theben Krieg führte. Beide Brüder starben im Kampf. Nun beginnt Sophokles „Antigone“. Der König von Theben, Kreon, befiehlt, dass Eteokles, aber nicht Polyneikes bestattet werden darf, er soll den Hunden und Vögeln zum Fraß vorgeworfen werden.
Antigone, die Schwester Polyneikes widersetzt sich dem Befehl und bestattet ihren Bruder heimlich. Nachdem die Sache aufgeflogen ist, wird Antigone eingesperrt und zum Tode verurteil. Sie wird zwischen zwei Felsen lebendig begraben werden. Letztendlich nimmt sich Antigone selbst das Leben, ihr Verlobter Haimon, der Sohn Kreons, stürzt sich in sein Schwert und aus Kummer tötet auch noch Eurydike, Haimons Mutter sich selbst. Eine wahrhaft griechische Tragödie…
Dieses Stück ist 2500 Jahre alt und erhitzt die Gemüter bis in die heutige Zeit. So wurde Antigone im Laufe der Geschichte zur Widerstandskämpferin gegen den Faschismus oder auch zur matriarchalen Heldin. Die in dieser Tragödie dargestellten Widersprüche zwischen Gesellschaft/Staat und Individuum, Recht und Macht, Frau und Mann, Tod und Leben waren Schwerpunkte intellektueller Auseinandersetzungen, immer abhängig vom Fachgebiet und der Zeit, in der man sich gerade befand. Judith Butler oder auch Bert Brecht haben sich der Antigone angenommen.
Übrigens hat auch Brecht die Hölderlinsche Fassung bevorzugt: „Sie wird wenig oder nicht gespielt, weil sie für zu dunkel gilt. Ich finde schwäbische Tonfälle und gymnasiale Lateinkonstruktionen und fühle mich daheim. Auch Hegelisches ist da herum.“

Wo nur eine Geschichte erzählt wird, habe ich keinen Platz. Wanda Golonka

Wie nun setzt Wanda Golonka dieses Stück um, eine Choreografin, die mit Raum, Zeit, Licht und Sprache experimentiert, eine Choreografin, die das Theater als Theater des Text/Körpers erforscht, der Performance, der Umsetzung in die absolute Gegenwart. Wie sieht diese Umsetzung aus?
Was bleibt übrig von der Vorlage Hölderlins, was nimmt der Zuschauer oder die Zuschauerin mit nach Hause?


Ist es das gequälten Lächeln, was man mit nach Hause nimmt, nachdem man zwei Stunden lang in die Irre geführt wurde? Ist es ein Stück, was man durch – und aushält? Ist der Weg raus aus dem Theaterraum gar ein Weg der Befreiung?
Oder hat sich nicht nur für Wanda Golonka, sondern auch für die Zuschauer etwas eingelöst?

Ihr letztes Stück „Alice blue“ wurde von Teilen der Presse zerrissen. Der Choreograf mache sich manchmal zum Affen. „Alice blue“ sei ein Dokument der Verkrampfung, nervtötend für die Zuschauer. So die „Welt“ vom 14.Oktober 2004.

Antigone ist eine Grenzgängerin, sie bewegt sich zwischen Leben und Tod. Sie provoziert, indem sie Gesetze überschreitet, die ihr nicht sinnvoll erscheinen. Sie fühlt sich einer höheren Moral verpflichtet, überschreitet aber selbst moralische Grenzen.
Sie ist kompromisslos und voller Energie.

Wanda Golonkas „An Antigone“ experimentiert mit Themen, die von Menschen, deren Identitäten, Verfassungen, deren Verlangen und deren Scheitern handeln.
Jede der acht Solo-Performances hat ein Zitat aus der „Antigone“ als Titel (die Zitate sind im Folgenden fett gedruckt.)
Die erste Performance trägt den Satz der Antigone:
“Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich, “
so Antigone zu König Kreon, als der von ihrer Tat erfuhr. Kreon darauf:“ So geh hinunter (in den Hades) und liebe dort! Mir herrscht kein Weib im Leben.“

Die Darstellerin (anstelle von Hilke Altefrohne – verletzt- übernimmt Véronique Dubin den Bewegungsteil) der ersten Szene bewegt sich zwischen Zuschauerraum und Bühne. Sie verlässt Zeit und Raum. Sie verliert den Boden unter den Füßen und scheint zu schweben. Sie ringt mit sich selbst und gegen das, was ihr als Realität vorgesetzt wird. Ihr Körper scheint reine Energie. Und dennoch:
Die ersten Zuschauer gingen. Viele lächelten gelangweilt und mitwisserisch ihren Nachbarn an. Das Stück drohte schon nach der ersten Szene zum Fiasko zu werden.
Wir hatten keine Wahl. Entweder den Kopf freimachen und sich darauf einlassen, nicht kritiklos, aber offen oder gehen…

Dann beginnt die zweite Szene auf der Hauptbühne. Ein neuer Raum öffnet und verändert sich während der Performance. Eine Videoinstallation zeigt die Bewegungen der Frau auf der Bühne. Zeitversetzt bis zur Gleichzeitigkeit. Wiederholungen von Schrittbewegungen, slow-motion und Zeitverschiebungen zeigen Raum und Zeit als etwas individuelles. Obwohl oder gerade weil die Bewegungen rein mechanisch scheinen und diese in der Videoinstallation eine technische Vervielfachung erleben, scheint der Körper der Darstellerin einzigartig, präsent und sehr lebendig.

„Denn wer allein hält von sich selbst, er habe Gedanken nicht und Sprach` und Seele, wie die anderer, wenn aufgeschlossen würd` ein solcher Mensch, erschien er leer.“

Die nächste Szene ist ein Stück der Stimme und der Laute. Die Darstellerin erzeugt zunächst sehr irdische und durchdringende Laute elektronisch verzerrt, die sich der Herrschaft der Sprache entziehen. Die Laute verändern sich und werden zur verklärten Stimme eines Engels.


Fotos: Yvonne Kranz


„Welche Kraft ist das zu töten Tote?“
sagt der Seher zu König Kreon, nachdem er den getöteten Polyneikes den Hunden und Vögeln zum Fraß vorwarf.

Nach dieser Performance sollte das Publikum den Zuschauerraum verlassen um andere Räume zu betreten. Nur ahnten viele, die wohl nicht ganz aufmerksam das Programmheft gelesen hatten, nichts davon. Wie eine träge Masse blieben wir sitzen, unschuldig, unserem Schicksal als Zuschauer ohne Darsteller komplett ausgeliefert. Irgendwann gingen ein paar Ungeduldige, und die anderen hinterher… Im Foyer wurden wir, wenn auch nur sporadisch, aufgeklärt und höflich gefragt, ob wir das Stück noch weitersehen wollen. Wenn ja, „gehen Sie da und dort lang“. Hier konnte sich jeder noch mal frei entscheiden das Theater zu verlassen oder dem Stück bis zum Ende beizuwohnen. Eine riskante Sache.
Die meisten blieben und das war gut so.
Wir wurden auf die Bühne gelotst, der heiligen Halle des Theaters. Wir verließen den sicheren Raum des Zuschauers und betraten die Bühne. Leben kam zurück.

"Und die Sache sei nicht, wie für nichts.“

Fotos: Yvonne Kranz

Videoinstallation mit William Forsythe

Eine Leinwand, gleich eines offenen Grabes auf dem Fußboden montiert zeigt einen Mensch zwischen zwei Mauern eingepfercht, sich windend, gleich wie Antigone in ihrem Kerker zwischen zwei Felsen, in denen sie lebendig begraben wurde.
Die Installation hatte eine Klarheit, die jedem Zuschauer verständlich schien, auch ohne „Antigone“ gelesen zu haben. Das Publikum und jeder für sich fand seinen individuellen Raum, wir wurden lebendig, aktiv.

Ein paar Meter weiter beginnt mit elektronischer Musik die Performance mit Véronique Dubin.


Foto:Yvonne Kranz


„Mein Zeus berichtete mirs nicht,“
so sprach Antigone zu Kreon, nachdem sie von demselben gefragt wurde, wie sie es wagen konnte ein solch Gesetz zu brechen (das Verbot der Bestattung ihres toten Bruders). Ihr Gott berichtete ihr nichts. Also war dieses Gesetz für sie ungültig. Sie handelte nach ihren eigenen Gesetzen und bestatte ihren Bruder.
Die Szene beginnt mit lauter Musik. Die Darstellerin tritt auf und beansprucht volle Aufmerksamkeit. Ihre Energie druchströmt den Raum. Mit Holzstücken, so groß wie Ziegelsteine an ihre Füße getapet, mittelalterlichen High-Heels eingesetzt als Folterinstrumente gegen Frauen, marschiert sie durch den Raum. Ohne Rücksicht auf Zuschauer hält sie ihren geradlinigen, aufrechten und schmerzhaft-verzerrrten Gang. Einige müssen ausweichen, sonst hätte es auch ihnen wehgetan…Dann befreit sie sich von den Holzstücken (siehe Bild) und geht vorsichtig ihres eigenen Körpers sehr bewusst barfüssig im Raum. Sie legt das Maschinenhafte vom Anfang ab und wird menschlich -
und die Typen vor mir zu Voyeuren. Ob die wohl auch gerade die Anzahl der durch ihre weiße Haut in aller Deutlichkeit durchscheinenden Rippen zählen? Breitbeinig intellektuell versperren sie mir die Sicht, die wissende Hand am Kinn, so als wäre alles eine Sache der Interpretation, dabei sind sie am Schätzen, nämlich der Maße des Hinterns, der Brüste….
Aber wen wollen sie da eigentlich vernaschen? Die Figur oder die Darstellerin?
Sie wird zu einer Einheit von beidem. Ihr Körper ist die Figur, die ihn somit gleichzeitig als solchen auflöst.

Wie als Antwort auf die letzte Szene betritt Samuel Zach die Bühne.


Foto:Yvonne Kranz


„Doch weißt du wohl, dass allzu spröde Sprach am Liebsten fällt. Und auch dem Stärksten Eisen bricht und vergeht das störrige, gekocht im Ofen.“

Zamuel Zack spricht Leute aus dem Publikum an, zitiert Statistiken zu Frauen in Führungspositionen. Das Verhältnis zwischen Zuschauer und Darsteller verschiebt sich zunehmend. Das Publikum wird nicht nur als fühlendes Subjekt zugelassen, sondern auch als Akteur und Akteurin. Wir werden zum Teil des Werkes.


Foto:www.fertigungsbureau.de


Dies noch mehr in der nächsten Szene, in der wir einen neuen Raum(Seitenbühne) betreten. Eine alte gesichtslose Frau sitzt an einem langen Tisch und liest. Wir hören ihr zu. Sie liest aus „Die Welt der Klagen“, “ Fear of“ von Douglas Gordon, eine schier endlose Aufzählung von menschlichen Ängsten oder auch „Ungeheuer ist viel. Doch nichts ist ungeheurer, als der Mensch (Antigone, 2.Akt, Chor). Das Publikum ist ein Teil des Werkes geworden. Die Grenzen zwischen Darsteller und Publikum verschwimmen. Kunst wird lebendig und erfahrbar.
Am Ende ihrer Darstellung verlässt Jennifer Minetti den Raum. Wir bleiben zurück und werden in den nächsten Raum geführt, in der es noch mal eine Anknüpfung an die erste Szene gibt.

„Zum Hasse nicht, zur Liebe bin ich.“

Die Darstellerin reißt eine Zeitung in Stücke, das Messer mit einem Mikrophon versehen.

Die letzte Szene bleibt an diesem Ort. Stühle werden verrückt, das Publikum arbeitet mit, wenn auch etwas schwerfällig. Aus kleinen Lautsprechern hört man Interviews von Oliver Kraushaar. Mit einer Anspielung auf „Antigone“ ein Beispiel:
Einer hat im Krieg die Seite gewechselt und kämpfte auf der kosovo-serbischen Seite. Er fiel und nun darf der Leichnam nicht nach Deutschland überführt werden. Antwort des Gefragten: „Wenn die Rechtslage so ist, muss die Rechtslage eben geändert werden.“ Diese Reaktion ist mit der Antigones absolut identisch, auf den Strassen Frankfurts 2500 Jahre nach Sophokles.
Stühle werden um die Lautsprecher gruppiert. Die Bühne existiert nicht mehr und wird zu einem sozialen Raum mit Darstellern und Zuschauern, jetzt beide gleichermaßen Akteure.


Zeit für eine kurze Reflexion:

Kein blaues Auge, Klamotten noch sauber…, keine komplett irritierten, eher interessierte Gesichter, fast alle sind geblieben.
Niemand hat einem Künstler eins in die Fresse gehauen, wie bei Beuys in den 60er Jahren. Auch hat sich keiner selbst verstümmelt. Keiner besudelte das Publikum mit Scheiße wie Hermann Nitsch, niemand musste Pudding aus Blut essen…
Eine alles in allem doch recht manierliche Performance. Der Schluss noch
ein Beisammensein, Ouzo wird gereicht, bei zum Teil haarsträubenden Interviewergebnissen von Oliver Kraushaar („Juden sind immer noch Richter und keiner sagt etwas dagegen“, und dass war nur so dahergeplappert, keine Antwort also auf eine gestellte Frage.)

„Ich mag das Risiko zu sehen, ob sich etwas einlöst.“ Wanda Golonka

Am Ende wird der Raum hin zum ehemaligen Zuschauerraum, in dem das Stück für Darsteller und Zuschauer begann, geöffnet.

Ein kurzer Blick dorthin, ein Kreis wird geschlossen und die eine Frage tut sich auf– hat sich auch für die Zuschauer und Zuschauerinnen etwas eingelöst?




Silke Parth - red. / 22. Dezember 2004
ID 00000001522

Weitere Infos siehe auch: http://www.berlinerfestspiele.de - spielzeiteuropa






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