Entlegen, heruntergekommen, ein Bahnhof mit hoffnungsvollem Namen: Lichtenberg. Eine Schienenwelt offener Gewalt mit ihrem Randgebiet der Keller, Kiffer und Sprayer.
Ich treffe im bahnhofsnahen Hiphop-Szenekeller Nico D., 22 Jahre. Wir kommen ins Gespräch.
"Redest Du über Deine Geschichte?" frage ich ihn. "Wofür?" Phongewaltige Boxen lassen die Katakombe vibrieren. Schweigen wirkt wie Kapitulation. "Ich will Deine Story!" Nico ist interessiert. Ich bestelle zwei Pils. "Was springt für mich raus?" "Du suchst Ruhm." Ich gebe ihm meine Karte. Er schiebt sie unter sein Lederarmband, trinkt aus, geht.
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Schienenbahnhof Lichtenberg - Foto (C) Arnd Moritz
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Fünf Tage später sehen wir uns in seinem Atelier am Nöldnerplatz. Schmale Regale mit Sprühdosen. "Links die Cans (Dosen), die Caps (Aufsätze) rechts. Die Caps werden gewechselt. So macht man Fats und Skinnies (breite und schmale Linien)". Ich filme ihn bei der Arbeit. "Wird ein Grabstein für einen Flohzirkus" lacht er. "Nachher zieh'n wir durch mein Getto von damals". Ich bewundere seine Schnelligekit, Sensibilität in Linienführung und Farbtechnik. Dann beginnt er.
"Mit 16 hatte ich alles hinter mir. Den Strich und Drugs, so ziemlich alles. Brüche und, na ja, manchmal bekam einer auch was auf die Fresse. Dann die Bullen und die Jugendkiste. Das normale Programm eben. Mein Zuhause: die Cru."
Es ist als ob er, während er seine Symbole zum Nachdenken zu Stein bringt, nicht nachdenken müsse.
"Eine Chance hatte ich nie. Heute mache ich mein eigenes Ding. Nur noch Legales. Die von früher reden deshalb nicht mehr mit mir. Aber das ist ok!"
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Wasserturm Ostkreuz - Foto (C) Arnd Moritz
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Wir ziehen los. Es ist Nachmittag, kalt, diesig. Nico erinnert sich.
"Zuerst war ich Home Boy, Anfänger. Die Cru war alles. Und meine erste Chance im Leben." "Du hattest nie eine," erinnere ich ihn. "In der Gesellschaft nie! Ich habe allen gezeigt, was ich drauf habe. Dafür steht mein Tag 'NDee'". Als Tattoo ziert es seinen rechten Oberarm. Neben uns die Gleisanlagen. "Nachts habe ich gesprüht, tagsüber alles gefilmt. Ich habe es der Gesellschaft gezeigt." "Was meinst Du mit 'der Gesellschaft'?" fordere ich ihn. "Die Schule, die Bullen und die vom Jugendamt. Mit vier ging mein Vater, ein Alki. Dann kam Ali. Ich riss aus, wohnte bei meiner Schwester. Irgendwann fand ich sie mit der Totgeburt in ihrem Blut. Ich war unter Schock. Ohrfeigen holten mich zurück." Eine S-Bahn donnert an uns vorbei. "Ich kam zurück, Ali hatte Mutter verlassen, sie lag in der Wanne, wollte sich ritzen. Ich schrie 'dann geh doch, wenn ich Dir nichts wert bin!' Gegangen aber bin ich."
Er will in's Gleisbett, mir etwas zeigen. Ich halte ihn zurück. "Dort holte ich mir meinen ersten richtigen Kick, mein erstes Piece, alleine nachts auf den Trash Yards, tote Abstellgleise. Siehst Du sie? Dahinten war es. Meine Welt wurde farbig, ich lernte zu hoffen." Wir nähern uns dem Wasserturm am Ostkreuz. "Hier wurde ich gefasst. In drei Jahren bin ich schuldenfrei."
Vom Ostkreuz fahren wir zurück. Nach Lichtenberg.
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Noeldnerplatz - Foto (C) Arnd Moritz
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Arnd Moritz - 6. Mai 2010 (post@arndmoritz.de) ID 00000004624
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