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Hermann Nitsch: grosses gelbes bild mit messgewand © Hermann Nitsch/Verein zur Förderung des O.M.Theaters 2003-2004


Der Schrei des Dionysos

Zum Orgelkonzert von Hermann Nitsch im Rahmen des Festivals Maerzmusik 2007

Text: Gerald Pirner

„So von Juno berückt, verlangt des Cadmus betörtes / Kind von dem Gotte ein Geschenk, des Name zuvor nicht genannt sei. / „Wähle“, verspricht er ihr da, „ du hast kein Nein zu befürchten. / […] Froh ihres Unheils, zu reich an Macht, dem Verderben verfallen, / Semele durch den Gehorsam des Liebenden, spricht: „Wie die hehre / Tochter Saturns dich umfängt, wenn den Bund der Liebe ihr eingeht, / Sollst du dich schenken mir!“ Da wollt der Sprechenden Lippen / Schließen der Gott, doch war das Wort schon enteilt in die Lüfte. / Und er seufzt, denn sie kann, dass sie gewünscht, nicht mehr ändern, / […] Tieftraurig schwebt zu des Äthers / Höhen er also empor, er winkt sich die Wolken heran […] und den unentrinnbaren Blitzstrahl. / […] Diesen ergriff er, / Trat in des Cadmus Haus. Der sterbliche Leib, er ertrug des / Äthers Gewalten nicht und brennt an den Gaben des Gatten. / Unentwickelt und zart, das Kind wird entrissen der Mutter / Schoß und – geziemt es der Kunde zu glauben – genäht in des Vaters / Schenkel; und es erfüllt in diesem die Zeit seiner Reife.“ ( Ovid)

Von nacktem Fleisch und Gestöhn überschwemmt, erscheint das Heute als Zeit, in welcher zwischen verordneter Tabulosigkeit und Körpervirtualisierung der Sex - und vor allem wo er mit Trieb verwechselt - zum zentralen Verdrängungsmechanismus wird. Geschlechter nach Pawlowscher Art abgerichtet vermeintlich befreiender Schablonen entlang, bestiegene Abziehbilder über Silikonimplantaten, denen die Rauschwirkung im Beipackzettel vorgeschrieben. Im Tauschwert die Austauschbarkeit allen Gebrauchs durchgesetzt, feiern Mensch und Welt sich als Konstruktionen, deren Lebendigkeit nur noch von Dokumentation und Ejakulat belegt werden muss. Verlangen destilliert in Gegenständen oder Körperteilen, unterwirft in deren Bemächtigung weniger den Anderen als Objekt - eher verschiebt dabei sich die absolute Verausgabung auf einmal hin zu Befriedigung, hin zum Fraß fürs Überleben. Leben als äquivalenten Tausch grenzt so – und vor allem im Sex – das aus, was nicht austauschbar und was dennoch uneinholbarer Grund alles Menschlichen: seine niemals zu überdeckende Verkrüppelung, Fehlen alles Ganzen, seine Zerstücktheit, die ihm kein Bild nimmt und die ihn im Tod ein jedes Mal endgültig einholt, und einholt in all seinen Wiederholungen, in seinen Zwängen, in seinem Wahn, in seinem Scheitern…
Diametral solchem Bedürfnis ausgerichteten Sexmodell entgegenstehend, führt Georges Batailles Konzept der Verausgabung des „verfemten Teils“ die Exzessivität eines Todes wieder ein, der hinter seiner medialen Dauerpräsenz als ökonomisch-militärischer Kollateralschaden im Lifestyle des Jungkults ausgegrenzt und verdrängt. Weniger ist hier freilich ein erotisierter Thanatos gemeint, der, wie etwa in Munchs Lithographie, dem Mädchen beim Kuss das skelettierte Gebein zwischen die Schenkel schiebt. „Was bedeutet die Erotik der Körper anderes als eine Vergewaltigung der Partner in ihrem Sein. […] Der ganze Aufwand der Erotik ist im Grunde nur darauf ausgerichtet, die Struktur jenes abgeschlossenen Wesens zu zerstören, das die Partner des Spieles in Normalzustand sind.“ (Georges Bataille)
Das „Abgeschlossene“, das freilich nichts anderes als das unversehrte Ganze, als das handelnde Subjekt, diese Illusion von Macht und Bemächtigung – in Batailles exzessivem Tod kehrt in der Verschwendung des eigenen Körpers dessen Zerrissenheit zurück, die im Begriff der Partialtriebe bereits Freud und nach ihm Melanie Klein als allem vereinheitlichenden Körperbild vorausgehend analysiert hat.
Vor allem aber taucht da das Bild eines Gottes auf, der diese Zerrissenheit, diesen Schmerz zum Fest macht, der im Rausch sich verzehrend verzehrt von den Frauen die ihm folgen, der hereinbricht und immer wiederkehrend hereinbricht, wie eine Epidemie sich Städte unterwirft, und der alle zerreist, die sich ihm verweigern, wie auch er zerrissen. Das Bild des Dionysos eine Maske, ein Spieler und spielend mit seinen Bildern, mit seinen Erscheinungen, mit seiner Raserei…

„mein theater ist ein vorsprachiges und nachsprachiges theater, mein theater, die musik meines theater kommt vom schmerzensschrei, vom wollustschrei, vom schrei des gebärenden, vom schrei des sterbenden, der vom schrei begleitete affekt, die vom schrei begleitete ekstatische sinnliche empfindung wird gesucht.“(1) Aus solchen Worten mit denen Hermann Nitsch sein Gesamtkunstwerk umreißt sprechen sich zugleich die Bezüge zu Batailles verschwenderischem Eros wie zum Mythos des zerrissenen Gottes ganz unmittelbar aus. Und immer wieder bezieht er sich auf den göttlichen Stifter der Tragödie aus deren Geist uns mit Nietzsche die Musik geboren.
Nach der großen Retrospektive im Walter Gropius Bau, die Nitschs Orgien Mysterien Theater in all seinen sinnlichen Aspekten nachzugehen suchte, stellte einer „der ersten Punks“, wie er sich vor kurzem selbst in einem Interview bezeichnete, im Rahmen des Festivals Maerzmusik 2007 sein neuestes Orgelwerk in der Heilig-Kreuz-Kirche vor, das er, wie all seine Musik, nur in Beziehung zu seiner Theaterarbeit verstanden, gespürt und gehört sehen will.


Unbekannter Meister: Die Erziehung des Dionysos, Fresko, Museo Nazionale delle Terme (ca. 20 n. Chr.)


Die Anrufung des Raumes
„[…] Es blieb, was er sprach, zu sagen, es blieb zu erzählen / Wie die Nymphe, sein Flehen missachtend, feldeinwärts geflohen, / Bis sie zum sandigen Strand des friedlichen Ladon gekommen, / Wie sie, im eiligen Lauf ihres Flüchtens gehemmt durch die Wellen, / Dort zu den Schwestern im Fluß um Verwandlung bittend gerufen, / Wie da Pan, der Syrinx schon meinte gefangen zu haben, / Statt eines Nymphenleibes nur Schilf in den Händen gehalten. / Wie dann der Wind, indes der Gott dort seufzte, das Röhricht / Streichend, erzeugte einen Ton von zartem, klagendem Klange, / Und wie der Gott, berückt von der neuen Kunst und der Stimme / Süße, gerufen: „Dieses Gespräch mit dir wird mir bleiben!“, / Rohre verschiedener Länge mit Wachs zusammengefügt und / Wie er im Namen der Flöte den Namen des Mädchens bewahrt hat.“ (Ovid)

Der Hauch, unfassbar und wie Atem geblasen, bleibt gehört wie gespürt allein als Sprache, die Wort um Wort wieder nur er trägt und trennt. Rhythmus ihnen wie ihrem Klang – der Ton von Rohr und Pfeife, im Mythos Stimme eines unfassbaren Leibs und das Spiel ein Zwiegespräch mit ihm… Erst mit der Orgel überdauert der Hauch den Atem, gebändigt ist er, die Launen des Windes ihm ausgetrieben. In der Orgel wird der Hauch zu einer Metapher des Odem, menschenübersteigender Unendlichkeit in endlicher Gestalt, und in langgehaltenen Tönen und Tonflächen wird Hermann Nitsch an der Hook-Orgel der Heilig-Kreuz-Kirche mit dieser Metapher spielen. Darin freilich einen anderen Aspekt seiner Schlachtungsexzesse betonend, der in seinem Werk in den letzten Jahren mehr und mehr an die Stelle psychoanalytisch fundierter Abreaktion trat. Kunst als Form der Öffnung eingebettet in eine holistische Weltsicht, um ganz körperlich und um so vielgestalter etwas zur Erscheinung zu verhelfen, das im ekstatischen Erleben buchstäblich Inschrift, deren Lesbarkeit vom Entstehen unseres Gedächtnisses aus dem Ungrund des Schmerzes herausspricht…

Dumpfe Vibrationswellen den Körperrumpf ausspürend ohne dass sie zum Boden kämen, der bleibt glatt. Getakteter Raumausschlag – die Eigenbewegung des Luftkörpers verschiebt diesen Noch-Nicht-Ton in Rhythmus… In einem Geräusch gehört, was da gespürt, obschon das nicht möglich, wo sein Träger physisch von ihm gelöst: spalten sich doch in solcher Trennung die Wahrnehmungsorgane voneinander und das Denken schaut zu wie sein Körpergrund in Sinne zerfällt…
Leibhaftige Zerrissenheit im Einen den Aspekten akustischer Wellen nach – im Menschenkörper sind sie voneinander getrennt. Hermann Nitsch setzt sie in „Komposition für Orgel (2007)“so ein, dass solche Körperzersetzung spür- und fühlbar. Gesamtkunstwerk nicht als Einheit sondern als Aufruf sinnlicher Vielgestalt, denn da hört der Bauch und er tut es anders als die Ohren. Muskel und Knochen an verschiedenen Stellen unterschiedlich angesprochen, und in Luftverquirlungen noch zu schmecken, was sich verändert unter den schweren Wellen des minutenlang monoton in den Raum gegossenen Stromes von Ton und Tönen, die nur die Notation als gleich bleibend und dieselben ausweist. Der Körper aber weiß anderes…
Im ersten der vier Sätze seines Werkes spielt Nitsch mit einem paradoxen Schnitt durch den Ton, zieht dessen physikalische Wellenbasis vom Ohrengehörten der Töne und Teiltöne ab. Unser Körperganzes und seine Wahrnehmung erscheinen in solcher Vielfalt als die Konstruktion die sie tatsächlich auch sind - aufgewiesen hier von unterschiedlicher Aufnahmefähigkeit von Hautzonen im Zwiegespräch mit einem Körpergedächtnis, das aus ihren differierenden Intensitäten sich schichtet. In ihr erscheinen Gerüche Geräusche - Unabsehbarkeit und Bruch mit Erwartung im Atonalen lassen sie nicht weit kommen. Dergestalt wird Bedeutetes ausgetrieben - da lugt ein Durakkord vor zwischen Ganztonflächen und die brave Schulaufteilung nach was zu tun und zu lassen stürzt ein…
Wellenrhythmen in hinzugenommenen Tönen beschleunigt. Flach wie spitz schnellst mögliche Brechung. Ins Ohr gezogene Verwirblungen, die tiefes Gewummer darunter nicht mehr rauslässt… Verschobener Ab-Fall gegenseitiger Durchdringung in Verdichtungen stabilisiert. Ausgeschiedene Töne und Teiltöne darüber blockartig nach vorne gestoßen, bis sie irgendwo gegenüber so fest haften, dass der Blinde glaubt ein zweiter Orgelprospekt werde da bespielt…In gegenseitiger Abstoßung zwischen Wellen und Tönen zu Clustern angeschwollene Klänge verdoppelt, die ein und das selbe und in Raumfülle zu ganz anderem verspiegelt – weniger Kommunikation denn harte Ausstöße. In der eher warmen Grundstimmung der Hook-Orgel der Heilig-Kreuz-Kirche lassen sie an Schnitte und Verletzungen denken, an etwas das herausgetrieben, das erzwungen… Der Raum, hier nicht einfach bespielt - erst in der Zeit seiner Orte die aus Wellenbrüchen sich auseinander hervorschieben, wird er und im strengsten Sinne des Wortes, hervor-gerufen. Festes dabei zu ihm hin abgetastet, das verklungen noch als Gedächtnis im Fleisch eingeschrieben. Der Körper zugleich Zeuge des Geschehens wie dessen Halt, bleibt über Orte verteilt zurück, wird als Gedächtnis zu dem was er vorher schon war – eine unüberwindliche Zerrissenheit. „bei der griechischen tragödie ist etwas das mich unglaublich betrifft und es ist auch eine begegnung mit dem numinosen. es passiert da nichts bösartiges keine schaustellung von gewalt. […] man schaut in den grässlich grundlosen abgrund den unser sein bedeutet. […] ich wollte noch tiefer in unsere abgründe und in das unbewusste schauen, tiefer noch in die abgründe des seins schauen.“

Wie der Lebensraum in der Antike in Ritualen Zeitlichkeit und Geschehen und Ablauf geöffnet werden musste, auf dass in ihm sie sich vollzögen, lässt Nitsch Raum in Ereignissen von Klang- und Tonwellen zu sich kommen, ruft ihn aus etwas hervor, das bildlos eine fragile Umwandung mit sich führt, in welcher Formgeschehen eher vollstreckt als hervorgebracht. Ohne seine Zeitorte ist hier kein Raum und ohne wellenausgespannte Fülle findet kein Ort seinen Platz…In Wellenüberlagerungen die Töne verschoben, geöffnete Färbungen allein in Schwingungen gedämpft, sie dahinter sich zurückziehen lassend. Nur kurze Bezüge in der Registratur. Metallisch Ziseliertes tropft da herab unten von langsam sich verschiebender Schwere einfach weggesaugt… In ihren Oktaven verschwindende Töne gestützt, Schatten ihrer selbst und schemenhaft auf ein Wesen bestehend, das sie selbst doch zurückgedrängt. Weiche Klangeinwürfe, das ganze Gewebe in Spiralen geschoben und nach oben gewunden als wäre es da hin offen. Register kommunizieren nicht miteinander, scheiden sich aus. Kleine Läufe flirrend ohne dass gesagt werden könnte, ob sie nicht Spiegelungen von geflochtenen Wellen - sind auf der Tastatur doch eigentlich nur lange Flächen gehalten…
Nitschs Spiel treibt den Rhythmus aus den Klangflächen hinaus indem er Töne dazugibt oder sie entzieht. Die ekstatische Wirkung aber - ganz leiblich wird sie aus der Trennung von Tonkonzept und Physis. Tanzen über ruhig gehaltenen Flächen ein sich jagen sich verschlingen ineinander stürzen sich verwickelnd sich verkeilend einander aufbrechend und wieder verschmelzend bis unerwartet aus diesem Geflirr etwas wie ein Dreiertakt heraustritt, ohne dass solche Rhythmen oder Takte gespielt. In diesem Gewoge gerät der gehaltene Klang selbst in Bewegung. Aufgestoßen wie von Außen von dem was ihn trägt, verschwingt er tölpelhaft tappend und ziellos als hebelten ihn noch seine eigenen Obertöne aus…


Piero di Cosimo: Geschichte des Silenos. Szene: Bacchus entdeckt den Honig (um 1500)


Erscheinung und Ekstase
Derselbe Ton zu Beginn wie am Ende des Vorhergegangenen, nur schmaler jetzt und härter, darin Kraft gesammelt und mit Wucht sich aufgeworfen sich aufgebäumt - ein Sprung in welchem alle Höhe heruntergerissen. Dann ein zweiter aber der eher in die Breite. Keine Programmmusik aber spielt sich da ab, nicht die Begleitklischees dramatischen Geschehens. Eher Protokolle der Handlungen von Einem der in seinen eigenen Formen sich über diese hinauszutreiben sucht. „[…] diese musik die ich meine, die kennt den zufall und dabei werden klänge produziert die man sonst nicht hört.“
Gähnendes Hohl zwischen zwei Registern. Klirrend oben stählernes Gestreich zu starr um sich so zu halten. Ein chromatischer Akkord. Hölzern weich getastete Sekunden von hinten in ihn geschoben als die Spuren des Gewebes in das er gebunden – aber um so weiter stakt sein blankes Gestäng da heraus… Aus mittlerer Lage dissonante Einwürfe eher drohend denn hart. Ein spitzer Ton ganz oben schauend, läuft eine ganze Fläche lang herab ohne gespielt zu werden. Einbrüche oben nicht locker lassend bis sie sich erschöpfen sich ausdünnen und schmal zerfallen, dass nur noch ihre Klangfärbung daran erinnert, dass sie zueinander gehören. Oszillierende Obertöne zu Klang zu Ton verzurrt - zu einem Ton der bleibt, starr in seine Teiltöne gelegt…
„an das verschütten, verplantschen, verspritzen, verpantschen, verschmieren von schleimigen sekreten und flüssigkeiten (eidotter, schlachtwarmes hellrotes blut, laues blutwasser usw.), an das quetschen, aufquetschen, destruieren von weichen substanzen wie früchten rohem fleisch, usw. ketten sich unsere abzureagierenden energien. […] da werden sie sehen dass ich eine große freude habe an klängen, die sich aus den instrumenten herausquetschen, herausmatschen. […] ich würde sagen dass die töne heraus gequollen sind wie gedärme aus einem tier.“

Epidemisch die Ankunft – Befall einer ganzen Stadt und der erscheinende Gott verborgen hinter einer bärtigen Maske nimmt sich ihre Königin umtanzt von Menaden und Flöte spielenden Satyrn. Ein Stier mit bloßen Händen von Frauen zerrissen in Tierhäute bekleidet sie und in unbändiger Kraft begeistert vom Gott, den in Gestalt des rohen Fleisches sie sich einverleiben. Ekstatische Raserei ohne alle männliche Zeugenschaft gelebt… „der dionysos des mythos provozierte den exzess, stieg hinab in die tierheit, in das chaos, opferte sich dem exzess und wurde zerrissen.“ Von weißgekalkten Titanen das spielende Kind überfallen und in sieben Teile geschnitten – der Blitz des Zeus verbrennt die Unterirdischen und im Gemisch ihrer Asche und der des Dionysos ersteht das Menschengeschlecht aus Rausch und Tod und ersteht aus derselben Asche aus der sich auch der Weinstock erhebt…
Mit der Ankunft des Dionysoskultes – in Mysterien und Spiel gefeiert und wiederholt – verschiebt sich die Todesvorstellung der griechischen Antike radikal. Homers graues Schattenreich, mit Hades und Persephone als unfruchtbarem Götterpaar auf dem Thron, weicht Mythen von der Schwängerung der Persephone durch ihren Vater Zeus, und Dionysos als Spross dieser Verbindung, obendrein gleichgesetzt dieser mit Hades selbst. Das Jammertal wird zum trunknen Rausch und die Mysterien zur Vorfreude auf ein Jenseits in Ekstase. Der Tod als ahnbarer Glückszustand in der Frucht des Weines. Geschichte auf einmal und im Hier und Jetzt wo während der dionysischen Anthesterien die Toten auferstanden und unter den Lebenden weilend, wo Fruchtbarkeit überhaupt als von den Mächten des Totenreichs beherrscht, in Ritualen gelebt und beschworen. Sich auf das Dionysische beziehend kehrt Nitsch den am Trauma entwickelten Begriff der Freudschen Wiederkehr des Verdrängten in ein Lustprinzip um. Wo das letztgültige Ereignis nicht erfahrbar, sein Bild in Kommunikation aber dessen Verrat, wird Verausgabung bis zur Erschöpfung zu immer scheiternder Annäherung an den Exzess des Todes und noch dieses Scheitern feiert Nitsch in seiner Wiederholung Aktion um Aktion um Aktion. Was da zum Leben aber wiederkehrt ist nichts Ganzes. Aristotelische Katharsis als Befreiung von dessen Bild hält den Menschen in seine Sinne zerrissen, immer versehrt unvollständig und im Schmerz als seinen Ungrund nimmt er ihn auf. Vom Machtwahn bleibt nur der Wille zu höchstmöglicher Vielfalt am eigenen Leib…

Zu schmaler Fläche gepresster Ton umso fester. Vom anderen Manual her in einem Cluster überschwemmt, ausgehöhlte Reste übereinander gelagerter Akkorde daraus, die Hören untereinander aufteilen wie einen unzuverlässigen Horizont… Intervalle gehört, etwa Septen als käme etwas zum Abschluss – ein hilfloser Gedanke der Kaskadenstürze auf Schritte verteilt. Da aber ist kein Boden. Zerhackt vom Tremulant und so stark als hörte eine Hand nicht auf einzudreschen… Gläsern scharf nach oben gestoßene Tonlinien, spitze Schnitte, zugleich ihr eigenes Material. Die Zwischenräume hölzern warm ausgegossen als wäre ihnen sonst nicht lange Bestand. Aber keinem Geschehen viel Zeit. Spurenlose Ereignisse herausgelöst, ausgebrochen und so voller Wucht und so voller Elan, als gälte es alles Gesamt auszuschlagen… Dominante Tonquerstreben als Klangfärbungen beherrschend. Spurenloses Zurücksinken von Holz. Irgendwo eine Oboe vielleicht. Von oben spitz und trotz geringen Volumens geradezu aufgefräst um entschlackt einen Raum aufgähnen zu lassen, aus dem für einen Moment und wie hinter einem Vorhang ein Durakkord klingt – Vergewisserung oder Gedächtnis, in jedem Falle alle Bedeutung aber vom folgenden Absturz konterkariert…
Ton- und Klangmaterialien keiner Bedeutung zugewiesen der entlang sie aneinander sich zu Geschehnissen abarbeiteten, gibt Nitsch dem Atonalen eine strukturelle Ungefugtheit zurück… Ekstase und Exzess weder ausgemalt noch inszeniert, Cluster in Chromatik aufgespalten und von steifen Harmonien so überzogen, dass Risse und Klaffen nur um so deutlicher. Unerwartet erscheinende Dur- oder Mollakkorde Relikte von etwas, das an nie erreichbare Restlosigkeit mahnt. Das Werk in wenigen Parametern notiert – die Orgel lotet seine Abgründe aus und das Werk Brachialität und Zartheit des Instruments. Das was Nitsch zu Beginn des Konzerts zu genießen empfahl, Verstörung ist es im besten Sinne. Wo Rausch in Verausgabung nicht einfach aufgeht, Trümmer seiner Geschichte und seines Raums zurücklassend - kein überkommenes Zeichen hält ihnen mehr Platz frei.


Dionysos Maske, Louvre © Jastrow


Die Rückkehr des Zeichens
oder ein Konzert ist ein Konzert ist ein Konzert


„Das Leben dem Tod zurückgeben, darin besteht die Operation des Symbolischen.“ (Jean Baudrillard)

Intervalle zu Fläche ausgeschritten gegenwärtig ihre Geschichte gleichsam ausgedrückt und entfällt tonweise ins Klaffen als ihr Gedächtnis wobei es zu solchem ge-hört. Zu Längen ausgezogene Einstürze weniger gebändigt denn unentrinnbar und dass nicht gesagt werden könne ob sie aufhören, breit gepresst wie sie da liegen, Verschalung welchen Ereignisses auch immer… Gemischt registriert, darin noch Teiltönen nachgetastet die ihren Ursprung entleeren wie nebenbei. Ein schriller Pfiff, wie immer oben, übersetzt Sehen ins Hören, dass es nicht scheitert… Von Manualen getrennte Sekunden eingezogene Schwellen entstellt sie entsetzt entlegen. Gespiegelte Klangfärbungen in ihren Übergängen ohne zu Echos sie sich verselbstständigen zu lassen, die doch nur ihr Eigenes darin suchten. Töne nur kleine Öffnungen in welche sie zu ihrem Doppel geschrumpft… In wenigen Tönen Leere ausgespannt - ein liegendes Intervall überbrückt sie. Wie aus Versehen Richtung blindem Schreiten im Nachhinein. In Spiralstrudeln erfasst und verrückt nach oben als werde etwas transponiert das keine Position hat… Alle Register eingemischt in wiederholtem Einschlag. Offener Cluster aus großen Sekunden und Terzen manualbreit mit der Holzleiste ausgedrückt, rutscht ab in dichtestes Gewebe, tonloses Tosen. Die Jalousie schiebt es hinter sich. Eine aufgerissene Quint im Tremolo vom anderen Manual her vor das Abgewürgte gehalten…

Das Ereignis in seinem Eintritt unerfahrbar, entblößt das Subjekt aller Handlungsmacht. Was als Staunen oder Faszination empfunden, in ihnen übersetzt es sich ins Ästhetische, stülpt seinen Schrecken und noch den letzten Schrecken des Erstarrens in Kunstraum aus, auf dass Mensch selbst noch da wieder fort kommt. Weniger ein sich in Fülle genießender Mensch – esoterisch womöglich noch mit Ganzheit verwechselt – steht im Zentrum von Nitschs Theater und Musik. Eher ist es die Erfahrung der Besessenheit von etwas das noch und gerade in ihrer höchsten Ekstase den Menschen als Mangel zurücklässt. Allein ist er und noch in rasender Masse in seine Zerrissenheit versperrt. Dabei zugleich aber Leib einem unerreichbaren Außen, das in je einzigartiger Weise im öffnenden Rausch zu sich kommt und in ihm sich be-greift… Solche Öffnung – in Nitschs Spiel und Musik soll sie sich ausdrücken. Die Partituren knappe Skizzen, unlesbar wenn im Blick darauf Musik heraus gehört werden soll. Eher Versuchsanordnungen für Experimente, weniger Improvisation als Unterordnung unter Raumereignisse, denen Nitsch sich mittels seiner Skizzen öffnet und unterwirft. Die Partitur wird nicht gespielt. Eher stößt sie den Spieler auf, Handleite der Verausgabung, um präzise in ihr noch das Material aufzugreifen, das sich vom Raum her gibt und das Nitsch in seinem Spiel aller Erzählbarkeit entkleidet. Klangfarben und –färbungen, in Registern verschichtet, treibt er in eine Leere hinaus unbedeutbare Male dabei eingeschrieben - Rückstände der Ekstase die kein Leben verausgabt…
Nitsch aber ist nicht ohne Nitsch zu hören. In seinen Musikaktionen schwingen Gerüche Töne und Bilder mit, erscheinen in seinem Konzert aber als das gerade was fehlt. Die Orgel kontrahiert es in ihrer Fülle zum Symbol, das wie ein Schlussstein trägt anhält und prägt, und die Sprache die Nitsch so gerne aus seinen Orgien Mysterien verbannt, kehrt wieder ein wie sie immer da einkehrt wo etwas fehlt, das sie zum Zeichen macht. Vorsichtig nistet an seinen Spuren sich Sprechen ein und Sprechen eben auch von solchem Fehlen und von Ferne in der Ekstase, im Blick durch sich zu sich kommend als etwas, das wohl eben niemals da.


Hook-Orgel Heilig-Kreuz-Kirche, Berlin


Gerald Pirner - red / 27. April 2007
ID 3170
(1) Sämtliche Zitate von Hermann Nitsch aus : Hüttler, M. (Hrsg): hermann nitsch wiener vorlesungen. Wien, Böhlau 2005;. Schmitz, B. (Hrsg): Hermann Nitsch Orgien Mysterien Theater Retrospektive. Köln, Walther König 2006. Nitsch, H.: Das Orgien Mysterien Theater. Wien, Residenz Verlag 1990.




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