Berlin - Johann Sebastian Bach: Johannespassion
RIAS-Kammerchor und Akademie für Alte Musik unter der Leitung von Hans-Christoph Rademann Berliner Konzerthaus 18. März 2009
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WAS IST WAHRHEIT?
War Johann Sebastian Bach ein Antisemit? Ist seine Musik antisemitisch? Der Chefdirigent der Berliner Staatskapelle, Daniel Barenboim, erklärte zwar, Bachs „Johannespassion“, wegen deren „Antisemitismus“ niemals dirigieren zu können, führte allerdings unter Protest orthodoxer Juden in Tel Aviv des Erz-Antisemiten Richard Wagners „Tristan“-Vorspiel auf. Bach oder seiner „Johannespassion“ „Antisemitismus“ nachzuweisen, dürfte, abseits von Sensationsgehabe, fraglich bleiben, trotz Luthers Antisemitismus. Schließlich folgt Bachs Passion dem Johannesevangelium und dieses selbst ist Text eines Juden und, wie sogar Päpste im Mittelalter (Johannes XVIII. etwa) gegen christlichen Antisemitismus und Pogromstimmungen vergeblich anmahnten, seien, da Jesus und die Apostel Juden gewesen, die Juden also „Brüder“ der Christen. Lang, lang ist`s her …
Doch bereits die überragende kompositorische Qualität der Musik Bachs rechtfertigt, wie Wagners Werk, allein schon ihre Aufführung – zumal deren Größe gerade in ihrer überkonfessionellen, tief humanen Ausdruckskraft liegt. Dreht es sich doch um Verrat (des Freundes) und um Aufrichtigkeit, um Treue zur bekundeten Idee, auch unter Folter und im Sterben, um Verzweiflung und um Menschenliebe. Vor allem werden wir dank der Vitalität von Bachs vielschichtigem Kunstwerk zu Zeugen eines politischen Prozessgeschehens, das da seit 2000 Jahren an Brisanz nur wenig verloren hat: eine Assoziation, die sich in vielen weiteren ähnlichen Schicksalen spiegelt. Gerade die leidenschaftlich ekstatische Konzeption von Bachs erstem Passionsdrama reißt den Fokus herum auf den moralischen Sieg im tiefsten Moment des Scheiterns. Wie der Musikdramaturg Gerd Rienäcker in den Achtziger Jahren beschrieb, waren Bachs Passionen eine Art Trost-und-Stärkungs-Musik, die sich einer von den Folgen des Dreißigjährigen Krieges noch immer gezeichneten Bevölkerung zuwandte. Sie gab, um es heutig zu formulieren, den Namenlosen eine Identifikations- und Projektionsfläche für eigenes Leiden und eigene Zuversicht. Und schon der einzigartige Eingangschor der Johannespassion setzt in bohrender Unruhe mit schmerzlich schneidenden Kreuzmotiven an, um „größte Niedrigkeit“ zu „verherrlichen“.
Auch am 18. März konnte man sich im Berliner Konzerthaus über all das wieder Gedanken machen. Allerdings gelang es Hans-Christoph Rademann, einer der profiliertesten Bach-Interpreten unserer Tage, mit seinem RIAS-Kammerchor und der Akademie für Alte Musik zu Anfang noch nicht völlig, dies harsche und gleißende Licht in der Musik zu zünden, die Sechzehntel der Streicher blieben unter der massiven Bassgruppe und den Bläsern seltsam verschwommen. So hatte es auch Ingeborg Danz schwer, ihre Altstimme gegen das Oboenpaar durchzusetzen – erst in der zentralen Arie „Es ist vollbracht“ im Zweiten Teil konnte sie ihre vollendete Gestaltungskraft zum Tragen bringen. Außer jeder Frage bleibt die bravouröse Akkuratesse des Chores, zu recht umjubelt: hier erreicht das Drama mit aufgepeitschter Volksmenge und den aufpeitschenden Elitegruppen, die den Propheten ans Messer liefern, allgemeingültige Präsenz. Überhaupt schien Rademann erst im Zweiten Teil Balance und dramatische Dichte für das Stück gewonnen zu haben: besonders die instrumentale Figuration hatte er fein herausmodelliert und die Deklamation des Chores – wie gemeißelt! Da blieben doch manche der langsamen Soloarien etwas blass. Neben der eminenten Leistung des Evangelisten Christoph Genz, der agil und deutungssicher den tragischen Bericht vortrug, beeindruckte vor allem der Impetus, mit dem der junge Konstantin Wolff der Figur des Pilatus plastische Eindringlichkeit verlieh: wie dieser Römer, den man sich als Cicero-Leser denkt, um das Leben des ihm merkwürdigen „Jüdenkönigs“, dessen „Reich nicht von dieser Welt“ ist, ringt – gipfelnd in der großen Gegenfrage: „Was ist Wahrheit?“
Olaf Brühl - 21. März 2009 ID 00000004238
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