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Schreiben gegen den Weltuntergang 2012 (Wettbewerbsbeitrag)



WELTPREMIERE


von Nadine Messerschmidt



Warum machte er das eigentlich? Frank saß im abgedunkelten, lauten Kino und beobachtete die Menschen um ihn herum. Offenbar hatten sich unter die vielen Action-Fans auch ein paar Leute gemischt, die tatsächlich an die tiefere Botschaft des Films glaubten. Weltuntergang. Das Wort ging ihm schon seit Wochen auf die Nerven. Ständig wurde er in Zeitungen und im Internet damit konfrontiert, und neulich hatte sein Chef ihm auch noch vorgeschlagen, über eines dieser Bücher zu schreiben. Doch das tat er sich nicht an. Ein achthundert Seiten langer Wälzer darüber, wie die Erde innerhalb eines Jahres plötzlich von den grausamsten Katastrophen heimgesucht wurde, obwohl bisher gar nichts davon zu erkennen war. Also warum in aller Welt hatte er sich ausgerechnet zu Silvester dazu breitschlagen lassen, zu dieser Filmpremiere zu gehen, deren Werbeplakate ihm das verhasste Thema schon aus meilenweiter Entfernung ins Gesicht spuckten? Weil er nun mal keine anderen Pläne hatte, deswegen! Und auch, weil die Party danach vielleicht ein bisschen neuen Stoff für seine Kolumne abwarf. Zumindest hoffte er das.

Der Film hatte Überlänge. Drei Stunden lang musste er sich Bilder von zerplatzenden Erdschichten, von tobenden Orkanen und extraterrestrischen Horrorinvasionen ansehen. Seine Knie schrien auf nach der neunzigsten Minute und dann im regelmäßigen Viertelstundentakt. Ob er vielleicht einfach mal auf’s Klo gehen konnte? Unmöglich, das machte ein Blick durch die Reihen sofort klar. Eine Hälfte der Kinobesucher starrte grinsend auf die Leinwand, immer wieder aufjauchzend, wenn eine neue Stadt samt seiner Bewohner buchstäblich davongespült wurde oder in Höllenflammen verbrannte. Die andere Hälfte wartete stets auf ein bestimmtes Vokabular, einen Geheimcode, der es erlaubte, ehrfürchtig zu nicken und sich wissend umzublicken. Maya war eines dieser Worte, die zum Code gehörten. Prophezeiung, Kalender, Baktun waren andere. Baktun. Wie aus dem Buch von Thorbjørn Egner. Nein, das war Baktus. Ob die Leute in Hollywood sich eigentlich Gedanken darüber machten, dass es hier Menschen gab, die tatsächlich an all den Quatsch glaubten und nach diesem Film vermutlich nicht mehr ruhig schlafen konnten, bis der 21. Dezember 2012 schadlos vorüberging? Vermutlich nicht. Vermutlich versuchten sie einfach nur Geld aus dieser Angst zu schüren, die er um sich herum fühlen, ja sogar riechen konnte. War ja auch offensichtlich ein lukratives Geschäft, denn der Saal war voll!

Auf dem Weg zur Party schüttelte er sich die Beine aus, wofür ihn seine Begleitung missbilligend ansah. Du machst uns ja total lächerlich. Er musste schmunzeln. Er, ein hochgewachsener und – bei aller Bescheidenheit – in seinem Jackett und den Levisjeans verdammt gut aussehender Mann in einer Menge weiß gebarteter, in dunkle Umhänge gehüllter und singsangsingender Weltuntergangsanhänger, und er war es, der sich und sie lächerlich machte. Aber langsam freute er sich auf die Party. Auf jeden Fall würde er dort eine Menge kurioser Geschichten hören, dachte er sich. Und er sollte Recht behalten.

Das ist doch völlig klar, dass du das noch nie in den Nachrichten gehört hast. Das halten die ja auch streng geheim. Sonst würde ja eine Massenpanik entstehen und weder Politiker noch NASA-Forscher könnten sich selbst mehr in Sicherheit bringen. Der Mann mit dem „Planet-X – We know, you’re coming!“-T-Shirt lallte ihn schräg von der Seite an, versicherte aber, überhaupt nicht betrunken zu sein und schlagfeste Beweise für seine Theorien zu besitzen. Da musst du nur mal zu google-Sky gehen, dann siehst du das selbst. Und warum gab es keine Aufnahmen von Hubble oder dergleichen? Na das sage ich doch die ganze Zeit, die Forscher haben die Aufnahmen, aber die verstecken sie. Sag mal, hörst du mir gar nicht zu? Und wieso eigentlich Habbel??? Iiiiiieeesis, mein Freund, Iiiiieeeeesiiiis. Und da passt dann auch alles schon wieder perfekt zusammen mit den Prophezeiungen der Maya! Iiiieeeesis, verstehste?

Dass Isis eine ägyptische Gottheit war und keine der Maya, behielt Frank in diesem Moment lieber für sich. Er entschuldigte sich mit der schwachen Ausrede eines kleinen Bedürfnisses, während sein Gesprächspartner bereits freudig einem Neuankömmling an der Bar entgegen lallte. Gab es hier eigentlich noch vernünftige Menschen? Vermutlich nicht. Er war ganz offensichtlich in einer Sektenfeier der ehrfürchtig Nickenden gelandet. Suchend blickte er sich um. Wo war denn Julia inzwischen geblieben? Langsam wünschte er sich doch, er könnte jetzt gehen und wenigstens noch die letzten Ausläufer des großstädtischen Feuerwerks genießen. Vielleicht konnte ein gutes Glas Rotwein in einem Restaurant ganz weit weg von hier den Abend sogar noch retten. Er hielt Ausschau nach ihren kastanienbraunen Haaren und dem roten Kleid, dass sich trotz der verrauchten Luft stark von der schwarzen Einheitskleidung abheben müsste. Da entdeckte er sie an der Seite eines schon leicht ergrauten Anzugträgers mit gelber, schwarz gepunkteter Krawatte. Eindeutig Wissenschaftler. Und tatsächlich. Es schien, als würde sie ein sehr angeregtes, interessantes Gespräch mit ihm führen. Fast wurde er eifersüchtig auf ihre Gabe, den einzig normalen Menschen im Raum so schnell aufzuspüren. Sie amüsierte sich köstlich, auch wenn der Herr Professor eher besorgt dreinschaute. Und sehen Sie, deswegen ist mir eben einfach noch nicht so recht klar, was die Maya uns damit sagen wollten! Schon wieder so ein Codewort. Klar ist auf jeden Fall, dass alle Maya-Kalender auf einem sehr ausgeklügelten System beruhen. Und außerdem können wir anhand unserer heutigen Erkenntnisse durchaus einige Übereinstimmungen der Realität mit ihren Prophezeiungen feststellen. Aber wenn sie so weit in die Zukunft sehen konnten, warum gibt es dann nur so wenige Aussagen darüber, was nach dem Abschluss des derzeitigen Baktuns passieren würde? Er bemerkte, wie sich Julias Gesichtszüge zu einem verzweifelten Lächeln verzogen. Dass sie keine Ahnung hatte, wovon der Mann da redete, wusste er aus den Gesprächen, die sie auf dem Weg zum Kino geführt hatten. Aber Respekt. Irgendwie schaffte sie es, dass er nichts davon mitbekam. Sie müssen sich das mal vorstellen. Der Alte fuhr sich aufgeregt über den Bart. Über eine Zeitspanne von Tausenden von Jahren konnten die Maya vorhersehen, was passiert. Und dann hört ihr Kalender einfach auf. Und darüber hinaus sehen sie nichts mehr. Nachkommen der Mayastämme sagen ja, dass es eine Art Neuanfang geben wird. Aber ich kann mir eben einfach nicht vorstellen, wie genau das aussehen wird...

Einige Stunden später schloss Karl die Tür seiner Wohnung von innen zu. Wer wusste schon, was für Idioten diese Nacht wieder mit Böllern rumrannten. Als er noch einmal kontrollierte, ob alle Fenster geschlossen waren, fiel ihm das dünne, fast vergessene Weihnachtsgeschenk auf dem Küchentisch auf. Er hatte es aus dem Briefkasten geholt und achtlos dorthin geworfen, denn er wusste bereits, was drin war. Wie jedes Jahr hatte ihm sein kleiner Bruder einen selbstgebastelten Kalender geschenkt. Diesmal würde er ihn allerdings schon vor Ostern aufhängen. Mühsam löste er den hartnäckigen Klebestreifen vom Papier, nahm den alten Kalender ab und platzierte die Lasche des neuen möglichst mittig auf dem schräg eingehämmerten Nagel. Als er die Pappseiten bedächtig hin und her schob, um sie gerade auszurichten, gingen ihm erneut die Worte des Professors durch den Kopf. Genau das ist es, was passiert, wenn der Maya-Kalender endet, dachte er. Er landet im Schrank und wird durch einen neuen ersetzt. Dann ging er ins Bett und schlief durch bis zum Neujahrsmorgen.



(C) Nadine Messerschmidt






Die 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge (alphabetische Reihenfolge):

Beckmann, Max - Ideen gegen den Untergang/Szenario 17b
Büschgens, Andrea - Zeitenwende
Friedrich, Silvia - Faschingsdienstag 2012
Kornberger, Ruth - Yoginis
Krapf, Joël - Weltuntergang ohne mich
Messerschmidt, Nadine - Weltpremiere
Oppermann, Swantje - Piet
Peter, M. - Bekenntnis eines Irren
Politgurke - Der Weltuntergang ist teilweise vorläufig (Finanzamt Köln-Ost)
Scharley, Melanie - Einfach vergessen
Siegenthaler, Brigitte - Die Botschaft
Wieland, Kai - Flight 19








HOTSQUAT CALENDAR 2012 / April, invasion de Barbareninvasion - Foto (C) Antal Thoma


Kurzgeschichtenwettbewerb - 21. April 2012
ID 00000005861
HOTSQUAT CALENDAR 2012

HERAUSGEBERIN / EDITEUR: HotSquat Collectif / Wydenauweg 40 / 2503 BielBienne / http://www.hotsquat.ch / calendar@hotsquat.ch / PC 12-172563-8
ALLE FOTOGRAFIEN BY: by Antal Thoma / http://www.antalthoma.ch
CONCEPT ET REGIE: HotSquat Collectif et les lieux accueillants / und die Gastorte
GRAPHIK: Johan Katz / http://www.mkkm.name
EDITION: 1500 ex.
PRIX: 30.-
http://www.hotsquat.ch

Die Leute vom HOTSQUAT CALENDAR 2012 machen je 1 Exemplar ihres Kalenders den Autoren der 12 besten aller eingereichten Wettbewerbsbeiträge zum Geschenk.

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Weitere Infos siehe auch: http://www.kultura-extra.de/literatur/literatur/weltuntergang.php


Zur Auswertung des Kurzgeschichtenwettbewerbs

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