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Vordenker

der Ökonomie



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„Nationalökonomie ist, wenn die Leute sich wundern, warum sie kein Geld haben.“ (Kurt Tucholsky)

*

Moderne Wirtschaft ist kein Zustand, sondern ein permanenter Prozess. Eine ihm innewohnende Dynamik beschreibt die Wirtschaftsjournalistin und Publizistin Ulrike Herrmann in ihrem unterhaltsamen Werk Kein Kapitalismus ist auch keine Lösung. Die Naivität der Ökonomen in der jüngsten Finanzkrise begründet Herrmanns Wiederaufgreifen prominenter Vordenker der Ökonomie. In der Finanzkrise erwiesen sich nicht nur sogenannte Derivate, welche vertraglich einen wirtschaftlichen Wert ableiten, als „toxische Schrottpapiere“ (S. 226). Finanzspekulationen bedrohen heute noch die Realwirtschaft. Sie verwandeln den Kapitalismus in ein „globales Kasino“, so die taz-Journalistin (S. 204). In ihrem kurzweiligen Sachbuch erforscht Herrmann den Kapitalismus, indem sie sich intensiv den Wirtschaftstheorien von Adam Smith (1723-1790), Karl Marx (1818-1883) und John Maynard Keynes (1883-1946) widmet, denen sie trotz ihrer Widersprüche und teilweise verwirrenden Inhalte mehr Aufmerksamkeit in der heutigen Ökonomie-Forschung wünscht.

Ebenso, wie der SZ-Autor Alexander Hagelüken sieht die Autorin mit Sorge die soziale Spaltung der Gesellschaft in unserer unmittelbaren Gegenwart:


„In allen Industrieländern steigt die Ungleichheit wieder. Besonders ausgeprägt ist sie in Deutschland: Das reichste Hundertstel besitzt hier etwa 30 Prozent des Volksvermögens. In keinem anderen Staat in Europa – außer Österreich – ist das Vermögen so ungleich verteilt.“ (S. 208)


Gerade in einer Zeit wachsender Ungleichverteilung erachtet Herrmann es als wichtig, sich den heute verfälschten oder in Vergessenheit geratenen Theorien bedeutender Ökonomen neu zu widmen:


„Die Ökonomie ist eine Sozialwissenschaft – und daher nicht immun gegen ihre Umwelt. Wirtschaftstheorien drücken keine naturwissenschaftliche »Wahrheit« aus, sondern spiegeln auch die Stimmungen und Präferenzen einer Gesellschaft.“ (S. 206)


Die Publizistin Herrmann betrachtet die drei Ökonomen, deren Theorien sie untersucht, jeweils einleitend biografisch in ihrer Zeit. Sie arbeitet bei dem schottischen Philosoph Adam Smith, Begründer der klassischen Nationalökonomie, heraus, dass er das enorme Machtgefälle zwischen den Unternehmern und ihren Arbeitern erkannte und kritisierte. So betonte Smith, dass Arbeitgeber anders als Arbeitnehmer Kartelle bilden und den Preis der Arbeit drücken können. Auch wollte Smith zeigen, dass sich die Entrechtung der Arbeiter gar nicht lohnt, da Sklaven, die nur ihren Unterhalt erarbeiten, keinerlei Motivation hätten, „sich anzustrengen oder Werkzeuge pfleglich zu behandeln.“ (S. 62)


Für die Rechte der Arbeiter und das sogenannte Proletariat interessierte sich auch Karl Marx, politischer Philosoph und einflussreicher Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft. Er ist heute noch für seine Aussprüche bekannt, die teilweise zu Aphorismen avancierten, so etwa: „Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.“ Herrmann lobt die „knappe und konkrete Wucht“, die Marx in seinem Kommunistischen Manifest entfalte (S. 82). Marx ahnte das Scheitern der bürgerlichen Revolution in Deutschland und ganz Europa voraus, da beispielsweise Deutschland 1848 aus 39 Kleinstaaten bestand. Er behielt jedoch nicht mit seiner Annahme Recht, dass Arbeitgeber dauerhaft die maximale Arbeitszeit ihrer Arbeitnehmer fordern würden:


„Die Arbeitszeit sank trotzdem. Hatten die deutschen Arbeiter 1850 noch 14 bis 16 Stunden pro Tag geschuftet, so waren es 1870 „nur“ noch 12 bis 14 Stunden. 1914 dauerte der Arbeitstag im Durchschnitt zehn Stunden, und 1919 konnte der Achtstundentag durchgesetzt werden. Reform war also möglich, obwohl Marx – zumindest offiziell – diese Möglichkeit negierte.“ (S. 123)


Herrmann bestätigt Marx Beobachtung, dass Kapitalismus zum Oligopol neigt, da steigende Erträge und geringere Produktionskosten Großkonzerne begünstigen. Sie verweist dabei auf heutige Internet-Giganten wie Google, die die Umsatzmöglichkeiten für kleinere Internetfirmen deutlich einschränken.

Immer wieder unterhält die Journalistin durch anregende Einsichten, die in der damaligen Zeit neu waren. Sie betont etwa, dass Geld eine soziale Konvention sei und keinen intrinsischen Wert habe: „Gemeinhin gilt als Geld, womit Waren und Dienstleistungen erkauft werden. Aber was heißt das konkret? Zählen auch Sparverträge, Termingelder und Geldmarktfonds als Geld?“ (S. 221) Die Währungsordnung des sogenannten Goldstandards war demzufolge zum Scheitern verurteilt: „Denn die meisten Länder hatten gar kein Gold mehr, mit dem sie ihre Währung hätten decken können. Stattdessen war das gesamte Gold in den USA gebunkert.“ (S. 202)

Der Brite John Maynard Keynes unterscheidet sich von Marx und Smith insofern, dass er nicht nur Geldtheoretiker war, sondern auch als Finanzpolitiker und Börsenspekulant in die Geschichte einging. Er verband so die Theorie immer mit der Empirie. Als Politikberater konnte er vor politischen Entscheidern in Krisenzeiten Pläne präsentieren, die bis heute aufgegriffen werden: „Er schlug ein 'deficit spending' vor, wie es später genannt würde. Die Regierung sollte Kredite aufnehmen und Investitionsprojekte starten, um die Wirtschaft anzukurbeln und die Arbeitslosen zu beschäftigen.“ (S. 176)

Schon der Engländer Daniel Defoe hatte bereits 1726 in seinem Buch The Complete English Tradesman erläutert, dass steigende Massenkaufkraft den Konsum ankurbelt, wie Herrmann auf S. 247 zitiert. Keynes konnte jedoch nachweisen, dass auch weniger umfangreiche staatliche Konjunkturpakete die Wirtschaft ankurbeln.

Ökonomische Grundsatzfragen prägen sich durch wiederholte Thesen im Verlaufe des Buches ein. Genau wie Smith und Marx betonte auch Keynes, dass das Vermögen keine fixe Größe ist und im Prozess entsteht. Herrmann scheut auch nicht davor zurück, in einen leicht romanhaften Stil abzugleiten, wenn sie Keynes Privatleben beleuchtet: „Manche seiner Liebhaber lernte Keynes auf der Straße oder im Zug kennen, aber zwei Männer waren für ihn lebenslang wichtig: Lytton Strachey und vor allem der Maler Duncan Grant.“ (S. 170)

Insgesamt überzeugt das Buch jedoch, indem es immer wieder auf Probleme der Gegenwart verweist, weil fehlerhafte Annahmen der heute in den Wirtschaftswissenschaften vorherrschenden Theorie der Neoklassik, dass etwa Finanzmärkte „echte Märkte“ seien, fatale Folgen zeitigen:


„Inzwischen ist die Eurozone kaum noch funktionsfähig. Deutschland hat gigantische Exportüberschüsse aufgehäuft, während Staaten wie Griechenland oder Spanien beträchtliche Auslandsschulden haben. Diese Umwucht wäre gar nicht erst entstanden, wenn von Anfang an klar gewesen wäre, dass sowohl Überschüsse wie Defizite massiv bestraft werden.“ (S. 237)


Keynes wollte seinerzeit eine Umsatzsteuer auf alle Finanzgeschäfte erheben, was leider erst heute von EU-Finanzministern diskutiert wird. Herrmanns Wiederaufgreifen von Theorien einflussreicher Ökonomen richten sich gegen die neoliberale Theorie und etwa ihr beschränktes Bild vom Freihandel. In ihrem sehr lesenswerten Sachbuch betont sie schlussendlich, dass der Kapitalismus nur störungsfrei funktionieren kann, wenn der Devisenspekulation endlich Einhalt geboten wird.
Ansgar Skoda - 27. Dezember 2017
ID 10441
Weitere Infos siehe auch: https://www.westendverlag.de/buch/kein-kapitalismus-ist-auch-keine-loesung/


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