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Wie schreibt die Zukunft?

Eine Einmischung in die wieder aufgeflammte Debatte um die Rechtschreibreform


Die Sprache kann ins Verderben führen, aber nicht die Schrift.
Aus: "Die Marx Brothers im Krieg", © MovieMail Ltd. 2004

Eines wenigstens lehrt die gerade wieder kurz aufgeflammte, überzogene Debatte um die rechte Schreibung im deutschen Sprachraum: daß die Schrift nichts – oder jedenfalls nicht viel – mit der Sprache zu tun hat. Denn solange wir sie im Munde führen, die Sprache, regen wir uns über Worttrennungen, Kommata oder Scharf-s nicht weiter auf, sondern allenfalls über unangemessenes dialektales Timbre und mißglückte Formulierungen.
Dabei kann es, wie schon die Marx Brothers vorgeführt haben, auf höchster Ebene schon mal zur Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln kommen, wenn man den Botschafter eines Nachbarstaates einen „Emporkömmling“ heißt. Korrekter, situational angemessener Sprachgebrauch wird uns daher bereits auf der Schulbank eingetrichtert – ebenso wie übrigens die Rechtschreibung. Während wir Rufus T. Firefly alias Groucho Marx dabei zusehen, wie er mit seiner „Stradivari“ auf die fliehenden Feinde Freedonias ballert, stört es uns allerdings, offen gesagt, nicht im mindesten, ob man „Emporkömmling“ am trefflichsten Großundzusammen, ge trennt oder gar mit Binde-Strich schreibt.
Was hat Schrift mit Sprache zu tun?

Die Rechtschreibreform, die vor sechs Jahren in Kraft trat, war von Anfang an ein Kind der Politik. Über Jahrzehnte hinweg durch das eigens gegründete Mannheimer „Institut für deutsche Sprache“ bebrütet, wurde sie am Ende von denen lanciert, die per definitionem und auf transnationaler Ebene für die Sicherung, das Erlernen und Beherrschen des sprachlichen Erbes Sorge tragen sollen: den Kultusministern. Vielleicht reizte sie deswegen die meisten Schriftsteller von vornherein zum offenen und viele Journalisten und Verleger zum verkappten zivilen Ungehorsam, der sich jüngst in der Erklärung von Stefan Aust (Spiegel-Verlag) und Mathias Döpfner (Springer-Konzern) Bahn brach. Man fühle sich übergangen, heißt es, man lasse sich ‚seine‘ Sprache nicht einfach entreißen, schon gar nicht von einer „Ministerialbürokratie“, die sich anschickt, dem unausgegorenen Kompromißprogramm in Jahresfrist Endgültigkeit zu verleihen.
Selbst Linguisten, die in solchen Fällen immer als altkluge Orakelpriester auf den Unterschied zwischen Schrift- und gesprochener Sprache pochen, hatten offenbar das Potential zur Revolte unterschätzt, das der Ausrufung des neuen Schreibens innewohnte. Ihr Argument, daß es doch schließlich egal sei, wie man schreibe, hauptsache nach einem einheitlichen System, tönt derzeit genauso ins Schlachtgetümmel hinein wie die artikulierte Angst vieler Lehrer, die um ihre Autorität und um den Verstand ihrer Zöglinge fürchten, die alte Schreibung könne zurückkehren, nachdem man nun schon jahrelang in der neuen unterrichte.
Den gewichtigsten Grund dafür, die reformierte Schreibung nicht auszusetzen, nämlich die allseits bejammerten Kosten für die Umstellung, hat allerdings jüngst der Schulbuchverleger Michael Klett entkräftet. Er bekannte laut Spiegel, daß er sich zwischen den amtlichen Vorgaben für Schulbücher und seinem eigenen „kulturellen Gewissen“, das die Reform für „unnötig und unsinnig“ hält, hin- und hergerissen fühle. Die taz mag richtig liegen, indem sie die Rückkehr von Döpfner und Aust zur alten Schreibung auf gemeinsame Skiurlaube reduziert. Aber deswegen packen die Empörer – wie einst Groucho Marx – ihren Ballermann noch nicht wieder in den Geigenkoffer.
Entschuldigung, aber das „ß“ ist keinesfalls abgeschafft

Der Bestand an Änderungen durch neues Etymologisieren, die Apotheose des Bindestrichs, durch verstärktes Wörtertrennen und Großschreiben mag gar nicht sosehr ins Gewicht fallen, augenfällig ist er allemal. Und die Verwirrung um die rechte Schreibung könnte zur Zeit kaum größer sein. Welcher Existenzgründer, der sich selbstständig machen will, wird sich nicht selbst ständig über solche umständlichen Neukreationen ärgern? Welcher deutsche Schriftkundige – Schweizer bitte weghören! –, der sein täglich Brot nicht mit Buchstaben verdient, könnte tatsächlich eine sichere Aussage über den Gebrauch, wenn nicht gar Verbleib des „ß“ machen?
Für Schriftästheten sei gesagt: wir haben uns noch nicht völlig von diesem eigentümlichen Schriftzeichen, das so charakteristisch ist für das Deutschland des 20. Jahrhunderts, getrennt. Von einem Buchstaben zu sprechen, erübrigt sich allerdings bei einem Ligatursymbol, das zwei ausgestorbene Zeichen, das ‚lange‘ s und das ‚runde‘ z, verschmilzt. Aus einem solchen Schriftunikat, das noch aus Frakturzeiten stammt und sich ursprünglich hauptsächlich durch die Stellung im Wort definierte, nun eine Regel à la „Nach kurzem Vokal immer ‚ss‘ schreiben“ abzuleiten, ist zwar fragwürdig – aber letztlich ist den Linguisten ja zuzustimmen: hauptsache einheitlich und mit System.
Bedauerlicherweise erleben wir gerade das Gegenteil davon. Weil so viele Schrift- und Schreibpraktiker nicht einsehen wollen, warum sie das alte defizitäre System, das ihnen allerdings lieb und wert geworden ist, durch ein neues, nicht minder defizitäres ersetzen sollten, gehorchen sie eben einer irrationalen Macht, die diejenige der Kosten (und die Politik) oft schon durchkreuzt hat: der Macht der Gewohnheit. Und das ist letztlich auch gar nicht verwunderlich, kristallisiert sich doch die Sprache der Schriftsteller – bei Dramatikern mag das anders sein – und auch die der Journalisten zunächst im geschriebenen resp. gedruckten Wort. Auch den Lektoren und Korrektoren, den Producern und Verlegern, die den Gehalt von Texten in bare Münze verwandeln wollen, offenbaren sich die Werke der Vertragsautoren einzig in der Schriftform. Man mag ihnen also so manche Scheuklappe nachsehen.
Das schönste Argument, das man zuletzt von beiden Seiten hören konnte, war der Vorwurf, „undemokratisch“ zu sein – die Alt-Schreiber, weil sie nicht dem von den besten Köpfen erdachten und von den Volksvertretern abgesegneten Neuschrieb gehorchen wollten; die Neu-Schreiber, da sie sich gegen die – wie auch immer ermittelte – „Mehrheit“ der Schreibenden in allen Gruppen der Nation stellten. Was beide Seiten übersehen, was jedoch den Kern der Auseinandersetzung bestimmt, ist die Tatsache, daß es in einer völlig auf Schrift fixierten Mediengesellschaft ausgesprochen schwierig ist, das Regulativ, eben die geschriebene Sprache, per Handstreich zu ändern. Das haben auch Debatten um komplizierte, traditionale Orthographien wie etwa die französische gezeigt.
Den blinden Fleck sichtbar machen

In der Zeit Goethes und Schillers, der Ära der gern zitierten „Klassiker“, als nur wenigen der Zugang zur Literatur – was ja bedeutete: zu Lesen und Schreiben – möglich war, mag es auf die einheitliche Schreibung nicht sosehr angekommen sein. In unserer Zeit, die mit einer zwar immer noch formbaren, von unzähligen Gewohnheiten und Praktiken jedoch weitgehend normierten Schriftsprache operiert, kommen schlichte Änderungen einem Politikum gleich, das im übrigen nicht nur dem Opportunismus einiger CDU-Ministerpräsidenten entspringt.
Vor allem scheint es angeraten, einen blinden Fleck sichtbar zu machen. Der blinde Fleck hat nämlich – und auf nichts anderes zielen auch die gegen die neue Rechtschreibung gemünzten Aktionen und Kampagnen – bisher verdeckt, daß de facto schon seit sechs Jahren zwei Schreibungen die Schriftlandschaft unseres Sprachraums beherrschen. Ob man sie noch als ‚systemisch‘ betrachten kann angesichts der vielen Hausorthographien, mit denen Verlage und Zeitungen arbeiten, sei dahingestellt. Man wird sich aber wohl daran gewöhnen müssen, daß es zumindest für die nächsten Jahre unterschiedliche, ja konkurrierende Schreibungen vieler Wörter geben wird. Was Schüler lernen und was Zeitungs- und Buchverleger drucken, wird nicht in eins gehen.
Man sollte diese Zeit der orthographischen Freizügigkeit jedoch nicht beweinen, sondern kreativ nutzen, denn nur so kann sich doch die Grundlage entwickeln für eine neue, echte und im weitesten Sinne „demokratische“ Reform, die dann in ein paar Jahren ansteht, wenn jeder für sich herausgefunden hat, was sich besser schreibt. Vielleicht werden dann die beiden Lager auch aufhören, mit scharfer Munition aufeinander zu schießen. Schließlich sind auch die „Marx Brothers im Krieg“ am Ende des Films wieder bei den faulen Früchten angelangt.

NB: Dieser Text enthält kein Votum für eine der beiden Schreibungen. Wer dennoch dem allgemeinen Polarisieren verfallen ist, mag sich daran orientieren, welcher Orthographie der Autor folgt.


Patrick Wilden, 19. August 2004
ID 00000001201





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