Ulrich Schreiber: Opernführer für Fortgeschrittene. Die Geschichte des Musiktheaters.
Das 20. Jahrhundert III. Ost- und Nordeuropa. Nebenstränge am Hauptweg. Interkontinentale Verbreitung. Kassel: Bärenreiter Verlag. 2006.692 Seiten Bärenreiter; Auflage: 1 (Juli 2006) ISBN: 3761818599
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Schreibers Fünfte.
Der Opernführer unserer Epoche liegt nun vollständig vor.
Manches „Ein-Mann-Unternehmen“ heute erinnert noch einmal an die unverwechselbare Tatkraft der Enzyklopädisten oder an die des sogenannten Historismus im Gesamtkunstwerkzeitalter. Schier unendliche lexikalische Reihen entstanden, konservierten, tradierten Wissen. Nun ist ein vergleichbares Grundlagenwerk zur Operngeschichte, zu dieser nicht totzusagenden Gattung fertig geworden. In fünf Bänden, auf gut 3000 Seiten hat es Ulrich Schreiber geschafft, ein vierhundert Jahre nicht pausierendes Projekt über das im Diamanten Musik kristallin sich spiegelnde Leben, Leiden und Sterben unterzubringen. Ohne allzu große Wirkungsverluste. Sein Zuschnitt ist dabei der von ihm gut zwei Jahrzehnte nach Erscheinen des ersten Bandes gewohnte einer werkbezogenen Stilanalyse, die, je weiter sie in Richtung Gegenwart marschiert, umso beschreibender verbleibt. So dass man sich zeitweilig schon mal fragt, ob Joseph Gregor – er spricht in seiner „Kulturgeschichte der Oper“ 1941 davon, auf denjenigen neidisch zu sein, der in fünf Jahrzehnten eine Geschichte der Oper vorlegt – denn nun wirklich neidisch ist.
In dem vorliegenden fünften und damit letzten Band gibt Schreiber einen Überblick der globalisierten Gattung im letzten Jahrhunderts. In Nord-Süd-Koordinaten: von Finnland bis Australien, West-Ost: Spanien/Portugal über Amerika (George Gershwin, Kurt Weill II, Gian Carlo Menotti) bis hin nach Japan. Von dort zurück über die chinesische und russische Musiktheaterlandschaft, bis zu den wichtigen Beiträgen über Karol Sszymanowski („König Roger“) und Krzysztof Penderecki („Die Teufel von Loudon“; „Die Schwarze Maske“) in Polen und dem wichtigsten Opernkomponisten dieses Bandes: Leos Janacek. Dieser mährische „Riese des neueren Musiktheaters“ ziert die Herzposition im vorliegenden Band, erobert, sofern noch nicht geschehen, von hier aus die Provinz im Gemüt des Lesers.
Die Werkanalysen, die diesmal auch die Gattung Musical nicht gänzlich ausspart, verzichten lediglich in Südamerika auf eine genauere Analyse von Astor Piazollas Tango-Operita „Maria de Buenos Aires“. Das ist mal ganz abgesehen von dem, worum es geht, angesichts derzeitiger Spielpläne keine besonders sinnvolle Entscheidung und sollte bei einer zweiten Auflage umgehend ergänzt werden. Ein wenig entschädigt das bereits ein Kapitel über das argentinische Pendant Alberto Ginastera („Bomarzo“; „Beatrix Cenci“). Auch zu den spanischen Komponisten Manuel de Falla und Christobal Halffter (2006 die deutsche Erstaufführung in Kiel: „Don Quijote“) bekommt man unverwechselbar präzise Schreiberanalysen. Bei Halffter wünschte man nur noch eine genauere Aufhellung der in den siebziger Jahren bereits begonnenen komplexen Werkentstehungsgeschichte.
Zur russischen Oper, insbesondere zu Igor Strawinsky, ist sicher schon dezidierteres verfasst worden. Doch wird man es diesem Schreiberband eines Tages zu Gute halten müssen, wenn die musiktheatralischen Werke Sergej Prokofjews („Maddalena“, „Der Spieler“, „Der feurige Engel“) einer erneuten Prüfung auf deutschen Bühnen unterzogen werden. Die ästhetische Einschätzung Dmitri Schostakowitschs scheint hingegen durchgehend davon auszugehen, als sei die normative Opernkontrolle im Sowjetstaat – objektiv eine Regression – im Kapitalismus nicht per se im Marktgesetz mitgegeben.
Dieser Band ist zentral für Operninteressierte: Wo schlägt man sonst eben mal schnell nach über neuere Entwicklungen im niederländischen Musiktheater, über die komplizierte Entstehungsgeschichte australischer Oper in Sydney, bekommt man wichtige Einführung in die Geschichte des Nationaltheaters Prag, zu Indianeropern in Nordamerika oder spezielle Werkanalysen über finnische Komponisten wie Einojuhani Rautavaara?
Was bleiben wird, ja bleiben muss ist die Praxis mit diesem brillanten Gesamtkunstwerk: Immer wieder neu sollte es am Material, an den etlichen Vorstellungen in Opernhäusern herangezogen und getestet werden. Alles in allem ist es mit Sicherheit eine lohnende Investition in eine sich hierzulande maßlosen ökonomischen Sparzwängen ausgesetzte Zukunft des Musiktheaters. Soviel wird aber nach der Schreiber-Lektüre deutlich: Wer an der Zukunft dieser Gattung spart, hat ganz sicher keine mehr zu erwarten. Zu recht ist diese beneidenswerte Geschichte des Musiktheaters das Buch des Jahres der Zeitschrift „Opernwelt“.
Wolfgang Hoops - red / 4. Dezember 2006 ID 2833
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