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Rezension

Kurt Vonnegut – „Mann ohne Land“

Aus dem Englischen von Harry Rowohlt
Pendo Verlag München/Zürich, 2006
Gebunden, 172 Seiten
16,90 Euro [D] / 17,40 Euro [A] / 30,00 sFr
ISBN 3-86612-077-X



„Warum sagt ihr nicht zur Abwechslung mal die Wahrheit?“

Haben Sie nicht auch gelegentlich den Eindruck, daß es viel zu wenige Menschen gibt, die – zumal öffentlich – die Wahrheit sagen? Die, wie es vor ein paar Jahren Jedediah Purdy in „Das Elend der Ironie“ versucht hat, einmal laut aussprechen, daß doch eigentlich jeder eine ganz heimliche Vorstellung davon hat, was für ihn selbst, für die anderen Menschen, für das Leben und die Welt an sich gut ist, und hinterher sagt man: „Stimmt. Genau so ist es.“
Gegen Kurt Vonnegut, einen der grand old men der US-amerikanischen Literaturszene, ist Purdy natürlich ein Jungspund. Und wenn man Vonneguts jüngst im Zürcher Pendo Verlag erschienenes autobiographisches Buch „Mann ohne Land“ liest, merkt man erst recht den Unterschied. Hier hatte einer, angeregt durch einen guten Kumpel in einem Verlag oder aus einer Laune oder was auch immer heraus, mal so richtig Lust, schonungslos zu sagen, was ihm an dieser Welt stinkt. Und er weiß genau: er kann es sich mit seinen bald 84 Jahren erlauben.

Das Lästige an Autobiographien, finde ich, ist häufig, daß die Autoren – wenn sie denn überhaupt gut schreiben können – meinen, sie müßten ihr eigener Biograph sein. Sie quälen ihre Leser mit Bekenntnissen im Stile von Rousseaus prototypischen Confessions, mit Verwerfungen und Fehltritten aus ihrer frühen Jugend, was bei den selbsternannten Heroen mit einer großen Gemeinde an Groupies vielleicht nicht stört, mich aber ansonsten eher vom Lesen solcher Werke abhält. Wie angenehm ist es dagegen, Vonneguts in leicht schnoddrigem und grimmig-komischem Tonfall geschriebene, aber sehr pointenreiche Plaudereien zu lesen. („Typisch Vonnegut“, würde ein Vonnegut-Fan vielleicht sagen.)
Daß man mich nicht falsch versteht: „Plaudereien“ sage ich nicht, weil der Text keine Relevanz besäße – ganz im Gegenteil. Wenn der Autor über die Wahlfälschungen schreibt, die den jüngeren George Bush ins Amt gebracht haben, über dessen diktatorischen Führungsstil und den illegitimen Krieg gegen den Irak, über Ressourcenvergeudung und Umweltzerstörung weltweit, dann merkt man: Hier will einer über mehr schreiben als nur über das Leben, das sich innerhalb des eigenen Körpers abgespielt hat.
Ein deutscher Leser mag sich dabei – als ‚alter Europäer‘ zumal – ein wenig verwundert die Augen reiben, daß aus Vonnegut ein guter Patriot spricht, auch wenn er andererseits keineswegs verhehlt, daß er „Deutschamerikaner“ ist. Aber eben einer, der sich auf Abraham Lincoln und die Sozialisten Carl Sandburg, Eugene Debs und Powers Hapgood aus Indiana, auf den Humanismus und die Bergpredigt beruft. Vonnegut ist schon deshalb Amerikaner, weil er zutiefst von der demokratischen Sendung seines Landes, von seinen Werten überzeugt ist, die er durch die aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im Kern bedroht sieht. Ein Mann also, dem das Land, mit dem er sich immer identifiziert hat, abhanden gekommen ist.

Obwohl es nirgendwo explizit steht, daß „Mann ohne Land“ eine Autobiographie ist, gibt es doch viele Anhaltspunkte dafür. Man darf allerdings nicht zuviel erwarten, denn Vonnegut kommt gerne auf die wirklich welt-bewegenden Dinge zu sprechen. Auf die Kindheit in einer Künstlerfamilie in Indianapolis, von der er sich mit seinem Chemiestudium emanzipieren wollte, auf seine Ehefrauen und Kinder und auf seine verunglückte Karriere als Leiter einer Saab-Autovertretung in Cape Cod geht er eher beiläufig ein – und vielleicht ist es gerade das, was seinen Stil so charakteristisch macht.
Dafür mag eine Episode stehen, die er – natürlich ganz beiläufig – von seinem Alltag als greiser Mann, der allerdings das Schreiben und das Kettenrauchen noch immer nicht lassen kann, erzählt. Er möchte, weil er es immer so gehandhabt hat, daß ihm eine Bekannte ein paar Seiten eines redigierten Manuskriptes auf einer stinknormalen Schreibmaschine ins Reine tippt. Also muß er sie ihr schicken, einen Briefumschlag kaufen, zur Post gehen und die Sendung aufgeben. Das alles – das weiß Vonnegut natürlich – wirkt im Computer- und Internet-Zeitalter archaisch. Und doch bereitet ihm gerade das ein königliches Vergnügen. Die Episode schließt wie folgt:

„Dann gehe ich hinaus, und da steht ein Briefkasten. Und ich füttere den riesengroßen Ochsenfrosch mit den Seiten. Und er sagt: ‚Ribbit‘.
Und ich gehe nach Hause. Und habe mich amüsiert wie Bolle.“


Vonnegut ist es, trotz seines beiläufig-spöttischen Tonfalls, sehr ernst mit dem, was er sagt. Das liegt bestimmt nicht nur daran, daß auch schon die Marx Brothers, denen er huldigt, wußten, daß Humor eine ernste Sache ist. Vonnegut weiß auch, daß Humor eine Kunst ist, die schwer zu lernen und schwer zu machen ist, und er beherrscht diese Kunst, ohne die seine eigene vielleicht keine wäre. Davon zeugen die aphoristisch verkürzten Zitate, die jedem der zwölf Kapitel vorangestellt sind. „Evolution is so creative. That’s how we got giraffes.“ Nicht wahr? (Eine Sammlung von Vonnegut-Aphorismen herauszugeben, wäre auch ein interessantes Projekt. Aber ich vermute, das ginge nur über des Autors Leiche.)
Und was macht nun den Schriftsteller Vonnegut aus? Diese Frage sollte ein solches Alterswerk dem neugierigen Leser doch wenigstens beantworten können. Weit gefehlt. Im dritten Kapitel gibt er eine kurze „Lektion in Kreativem Schreiben“, ganz offensichtlich amüsiert über die Praktiken in gleichnamigen Volkshochschul- und Universitäts-Workshops, wie sie in den USA Mode sind.
Über sein Schreiben erfahren wir von Vonnegut hingegen nur, daß er damit das künstlerische Familienerbe auf seine Weise fortgesetzt hat und daß ihm seine Arbeit an „Schlachthof 5“ den Weg dahin ebnete. Die Unmöglichkeit, über sein Erlebnis des Bombenangriffs auf Dresden zu schreiben, hat ihn eben genau dazu bewogen, „zur Abwechslung mal die Wahrheit“ zu sagen, wie es an einer Stelle heißt.
Daß er, weil er als studierter Naturwissenschaftler und alter Sozi von vornherein über Technik und Fabriken geschrieben hat, eher als Science-Fiction- und weniger als „ernsthafter Autor“ gilt, behagt ihm nicht, läßt er uns wissen. Aber darauf könnte man antworten: das hat er mit seinem gerade verstorbenen, gleichaltrigen polnischen Kollegen Stanislaw Lem gemeinsam – wie vielleicht so manch anderes, worüber sich trefflich spekulieren ließe.

„Mann ohne Land“ ist ein einfaches Buch. Aber gute Bücher – wie dieses auch – zeichnen sich eben dadurch aus, daß sie mit einfachen Mitteln sehr komplexe Sachverhalte ausdrücken können. Es ist vor allem ein witziges Buch, und man könnte hinzufügen: wenn es anders wäre, hätte es ein gewisser Harry Rowohlt sicherlich nicht übersetzt. Und es ist ein ernstes Buch, das mit einem Requiem auf den „gekreuzigten Planeten Erde“ endet. Und man möchte anschließend beim besten Willen nicht „Amen“ sagen.


p.w. – red. / 30. März 2006
ID 2317


Siehe auch:
http://www.pendo.ch




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