Tour de France. Junge französische Literatur
Hrsg. von Annette WassermannVerlag Klaus Wagenbach, Berlin, 2005 WAT 508 192 Seiten EUR [D] 9,90 / sFr 18,10 / EUR [A] 10,20 ISBN 3-8031-2508-1
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"Hallo, mein Schatz, geht es dir gut?"
Verrät man zuviel, wenn man sagt, daß jede Anthologie letztlich ein Produkt des Zufalls ist? Irgendwann ist der Sack voll, man bindet ihn zu. Und doch – je mehr Texte eine Anthologie versammelt, desto eher formt sich ein Bild des Gelesenen.
Bleibt die Frage, ob die 18 Kurzgeschichten junger französischer Autoren, die jetzt unter dem Titel Tour de France im Verlag Klaus Wagenbach erschienen sind, in ihrer Auswahl irgendwie charakteristisch für das derzeitige literarische Schaffen der Um-die-30-Jährigen in Frankreich sind. Um die Antwort abzukürzen: sie sind es und sie sind es nicht.
Zunächst einmal sollte man sich als deutscher Leser klarmachen, daß, wer sich im Leseland Frankreich als Autor durchsetzen will, sich in die Hauptstadt aufmachen muß, monter à Paris, wie es schon der Volksmund nennt. Dieser Zwang in einem Zentralstaat, in dem alles, was Rang und Namen hat, sich um die Phänotypen der Literaturszene schart, um Gehör zu finden – kürzlich hat Agnès Jaouis Kinokomödie „Schau mich an“ das sehr schön auf den Punkt gebracht –, ist denn auch nicht mehr vergleichbar mit der Anziehungskraft der Stadt Berlin hierzulande, die für junge Schreiber allenfalls die zur Zeit trendigste Option unter vielen darstellt.
Liebe in den Zeiten des Privatfernsehens
Der zuweilen etwas angestrengte Metropolengestus, der viele Texte der Wagenbach-Sammlung kennzeichnet, erklärt sich auch aus dieser typisch französischen Grundsituation. Da gibt es die aufgesetzten, ‚szenigen‘ Gespräche unter Freunden beim Abendessen, wie sie Lola Lafons Erzählung „Problemzonengymnastik zur Fastenzeit“ prägen, die dann, wie in Arno Bertinas „Der Buchstabe“, in brutale Spielchen oder auch wie bei ‚Altmeisterin‘ Virginie Despentes in orgiastische Szenen übergehen können. In ihrer Geschichte „PornStar, the fucking duel“ lernt ein erfahrener Nichtsnutz die junge Clothilde kennen und verhilft ihr zu prägenden sexuellen Erfahrungen, mit denen sich das Mädchen dann in einer pornographischen Fernsehshow prostituiert. So wird der Text von Despentes’ zugleich zu einer bitteren Parodie auf die Liebe in den Zeiten des Privatfernsehens wie auch zu einem Lehrstück für menschliche Unreife im medialen Zeitalter.
Es fällt auf, daß die meisten Autoren weniger den Akzent auf das legen, was sich die Figuren gegenseitig antun, als darauf, was mit ihnen geschieht und daß sie dem nicht mehr recht beikommen können. In Olivier Adams „Sie redet mit Leuten, die nicht da sind“ dringt ein junger Arzt in die Wohnung seiner Nachbarin ein, weil er ihre Selbstgespräche vermißt, und findet sie tot in der Badewanne. Und auch wenn Adams Erzählung ichlastig, traumtänzerisch und insgesamt keine gute Literatur ist, so formuliert sie doch die Krankheitssymptome einer Gesellschaft, die sich anmaßt, ohne Sozialität auszukommen. Vielleicht ist das auch der Grund, warum das Körperliche und der Beruf des Arztes in den Texten von Tour de France eine so prominente Rolle spielen?
Schreiben nach Houellebecq
So birgt die Anthologie auch viele Antworten auf die Frage, wie Literatur nach der „Ausweitung der Kampfzone“ möglich ist. Michel Houellebecq, für den deutschen Markt eine Entdeckung des Wagenbach Verlags, hatte in den 90er Jahren mit seinem gleichnamigen Roman der aufkeimenden Pop- und Bekenntnisliteratur einen Realismus entgegengesetzt, der von tiefer Ironie und Skepsis geprägt ist. Dieser findet sich weitergedacht in Martin Pages Geschichte von dem Mann, der sich, höflich und sachlich, von einer jungen Berufsmörderin umbringen läßt („Ein kleines bißchen Zärtlichkeit“), oder auch in „Die Giraffe“ des Belgiers Thomas Gunzig, wo eine tote Giraffe, die eines Morgens im Garten liegt, die problematische Beziehung eines jungen, erfolgverwöhnten Paares völlig aus der Bahn bringt.
Neben bekannten und etablierten Jungautoren wie Gunzig und Despentes, Anna Gavalda und Wagenbach-Autor Martin Page finden sich aber auch viele, die aus der zweiten Reihe heraus am literarischen Geschehen teilnehmen und den metropolitanen Tonfall, der oft ihrer eigenen besonderen Situation zu entstammen scheint, für ihr Schreiben nutzen. aZel luKas greller Kurztext „Franck am Telefon“ ist dafür ein gutes Beispiel, ebenso wie die Bekenntnisse eines Maghrebiners aus der Pariser banlieue in Y.B.’s „Allah Superstar“ – Kreuzberg à la parisienne sozusagen. In Bessoras Erzählung „Von der Weltlichkeit in der kirchlichen Regierungszeit...“, einer Art ironischer Hommage an die Lettres persanes, ist die junge Protagonistin regelrecht auf der Jagd nach einem Talisman namens „Aufen’hal’sgenehmigun’“.
Etwas sagen, ohne mitteilen zu können
Einen Sonderstatus in der Sammlung nimmt sicherlich der Text von Valérie Mréjen ein. Ihre „Wilden Wasser“ sind Kurzbotschaften eines alternden Vaters an seine umherschweifende Tochter, spontane, aus der Situation geborene Nachrichten auf einem Anrufbeantworter oder Fetzen eines Gespräches, Wünsche und Verwünschungen, besorgte Mitteilungen und vertrauliche Beobachtungen. „Hallo, ist alles in Ordnung, mein Schatz? Nur weil ich heute morgen in der Zeitung gesehen habe, daß im 11. Arrondissement ein Gebäude gebrannt hat, und weil du doch im 12. wohnst, habe ich an dich gedacht und mir gesagt, das ist vielleicht bei dir.“
Mit ihrem dokumentarischen Zugang zur Welt bringt Mréjen denn auch ein Grundthema auf den Punkt, das für die meisten Texte der Anthologie charakteristisch ist: die Komplexität der Kommunikation, das Sagen, ohne etwas mitteilen zu können. Das ist vielleicht auch dem Umstand geschuldet, daß die Autorin im Zweitberuf als Videokünstlerin tätig ist.
Ihrer spröden Prosa stehen wiederum einige klassische Erzähltexte gegenüber wie etwa Claire Legendres satirische Heiligenvita und Sébastien Lapaques eher verunglückte Geschichte „Arianes Profil“, die von einem alten Algeriengeneral handelt, den seine Vergangenheit in den Selbstmord treibt.
Obwohl eine Textauswahl immer vom Zufall abhängig ist, hinterläßt die Lektüre von Tour de France einen geschlossenen, allenfalls leicht verwackelten Eindruck beim deutschen Leser, der ein in literarischen Dingen wesensverwandtes Nachbarland erahnen läßt und der Lust auf mehr macht. Lob dafür gebührt vor allem Annette Wassermann, der Frankreich-Lektorin des Wagenbach Verlags, die das Buch herausgegeben hat, aber auch dem Verlag selbst, der wie eh und je unermüdlich in der Romania nach Lesenswertem Ausschau hält.
p.w. - red. / 1. April 2005 ID 1783
Siehe auch:
http://www.wagenbach.de
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