Norbert Sternmut: Wildwechselzeit
Tagebuch einer BeziehungWiesenburg Verlag 2011 - 15,90 € ISBN 978-3-942063-25-8
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Die Lektüre dieses „Tagebuches“ hat in mir ganz unterschiedliche Emotionen geweckt und Gefühlsbereiche angesprochen. Schon der „sexistische“ Titel ist ein Affront gegen mein feministisch geprägtes Menschenbild: Das „Wild“ sind ja wohl die Frauen! Und so geht es dann auch weiter: Die Tagebucheinträge kreisen fast nur um „das Eine“ in allen Varianten, vorzugsweise mit Marie, aber auch Johanna, Charlotte, Maike, Silke und viele mehr. Dabei ist mir unklar, inwieweit all diese Frauen real oder „Symbole“ für die Innenwelt und die Wünsche des Autors sind.
Doch ich kann auch eine gewisse Neugier oder Sensationsgier beim Lesen nicht abstreiten angesichts der sexuellen „Freizügigkeit“ des Tagebuchschreibers. (Frage dazu: Ist er deckungsgleich mit dem Autor – oder zumindest teilweise eine „Kunst-Figur“?) Weiter bekam ich Mitleid mit dem armen Jungen, der in seiner Kindheit geprügelt und von der eigenen Mutter so „stiefmütterlich“ behandelt worden war. (Frage: Wer war schuld, dass diese arme Frau sechs Kinder kriegen musste – die letzten zu einer Zeit, als sie deren Großmutter hätte sein können??) Und irgendwann langweilten mich die endlosen, langatmigen Assoziationen und sinn-losen Aneinanderreihungen von Wörtern im Stakkatostil, die manche Eintragungen schier endlos durchziehen.
Besonders sympathisch ist mir der Protagonist nicht. In gigantischer Selbstüberschätzung und Größenwahn will er alle Frauen der Welt „be-lieben“. Als weitere Attribute für ihn fallen mir ein: triebgesteuert, egomanisch, ver-rückt, sprunghaft, flatterhaft, krankhaft auf rasch wechselnde Wünsche und Ideen fixiert, sexbesessen, liebes-zerrissen, von übersteigerter Intensität, „unvergleichlicher Egomane“ (Charlotte). Er versucht, die Kindheits-Traumata durch Sex zu kompensieren – und wie die Frauen dazu stehen, ist ihm eigentlich egal. Das zeigt sich, wenn er auch angesichts der Krankheit von Marie immer nur an „das Eine“ denken kann. – Gleichzeitig verachtet und hasst er sich selbst, sieht sich als „Drecksack“, wie ihn der Bruder nannte. – Doch dann relativiert er alles wieder mit einem Satz wie: „Es kommt nicht darauf an“.
Ganz langsam scheinen jedoch seine zweimal wöchentlich stattfindenden Sitzungen bei der Therapeutin Eva G. in Verbindung mit seinen eigenen Bemühungen zu fruchten: Er erkennt, „dass wir uns selbst lieben müssen“, „dass niemand jemand gehören kann“, dass man zuerst „eine Beziehung zu sich selbst aufbauen“ muss; denn: „wenn wir uns selbst fehlen, fehlt uns doch alles“.
Im „Wörtersalat“ sind plötzlich wieder Worte, die sich verbinden zu einem überraschenden, bestürzenden Sinn. Und langsam kristallisiert sich aus dem Sprach-Wirrwarr die Erkenntnis heraus: All die Maries, Johannas, Charlottes, Maikes, Silkes ... können ihn nicht retten, wenn er es nicht selbst schafft. Dadurch, dass er den Selbsthass begräbt, sich in seiner Eigenart annimmt, mit sich Freundschaft schließt.
So lernt er langsam, bei den Gedanken an Marie nicht nur an sich, seine Begierde, seine „Liebe“ zu denken. Nicht mehr (nur) egoistisch, wünscht er, dass es ihr gut geht, dass sie glücklich ist, mit wem auch immer – ganz abgesehen von seiner Person. Das verspricht Entwicklung und Fortschritt – und Heilung.
Vielleicht lernt der Tagebuchschreiber (und Autor?), all die vielen Frauen auf der Welt nicht mehr nur als Objekte zum „Be-lieben“, sondern als Menschen zu sehen? Vorbedingung dazu: dass er sich selbst als Menschen sieht und annimmt. Er scheint daran zu arbeiten ...
So gesehen, ist das Buch wohl ein „Entwicklungsroman“ mit positivem Ausgang!
Armgard Dohmel / 30. März 2011 ID 5126
Siehe auch:
http://www.sternmut.de
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