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Rezension

Thomas Meyer

Die Identität Europas. Der EU eine Seele?

es 2355
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 2004
240 Seiten, kartoniert
10,- Euro [D] / 10,30 Euro [A] / 18,50 sFr
ISBN 3-518-12355-6

Als Jürgen Habermas und Jacques Derrida Ende Mai 2003 in einer „Analyse, die zugleich Aufruf“ war, ihre Sorgen um Europa zum Ausdruck brachten, wurde ihre Initiative von der Woge der europaweiten Antikriegsproteste vom 15. Februar desselben Jahres getragen. Im Rückblick könnte man dies sogar als die Urszene der Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit betrachten: Das Volk war gegen seine Herrscher auf die Straße gegangen, die Intellektuellen hatten die Perspektiven Europas in dessen führenden Blättern formuliert.
Vom neuen Buch des Dortmunder Politikwissenschaftlers Thomas Meyer „Die Identität Europas“ kann man getrost sagen, daß dort der Gedanke von der europäischen Öffentlichkeit fortgeführt wird – und dies in einer ziemlich Habermasschen Manier.
Europe-building wurde bis jetzt vor allem als Verankerung von Institutionen vollzogen. Was fehlt, ist die Legitimation Europas durch seine Bürger. Zwar stellt dies für Meyer das wesentliche strukturelle Defizit des neuen Gebildes dar; es ist nun aber der historische Augenblick gekommen, an dem das Projekt vom „gemeinsamen Haus Europa“ aus den Händen der visionären politischen Elite in die Verantwortung der Bürger übergehen soll. Das heute so umstrittene Referendum fungiert dabei nur als einer unter vielen Mechanismen politischer Partizipation.
Und damit ist der Spannungsbogen in Meyers Essay bereits vorgezeichnet: Eine Identität Europas läßt sich nicht ohne Öffentlichkeit, d.h. nicht ohne Bürgerbeteiligung denken. Bürger aber gibt es zur Zeit nur wenige, besser gesagt, viele tun sich mit ihrem Europäer-Sein nicht eben leicht. Meyer verfolgt die Absicht, unter historischen, kulturellen, sozialen und politischen Prämissen dem Bürger zu seiner europäischen Überzeugung zu verhelfen. Er antizipiert damit den Prozeß der Entstehung eines Europas der Europäer.

Zunächst aber sind einige der Fallstricke der „Identität“ zu vermeiden. Schon die Eingangssentenzen machen deutlich, daß die Identität im Sinne einer festen Entität – sei es wie die Herdersche „Kugel“, sei es wie die Freudschen „Schalen der Zwiebel“, in jedem Fall mit einem festen inneren Kern – Europa keine Perspektive bieten kann. Wohin das letztendlich führt, haben die ethnischen Säuberungen im ehemaligen Jugoslawien soeben gezeigt. Meyer setzt vielmehr auf integrative Potentiale, wofür die Geschichte genug Beispiele liefert – in Philosophie, Wissenschaft oder Religion; selbst der Mythos vom Raub Europas spielt sich zwischen drei Kontinenten ab. Aber vor allem die politische, soziale und wirtschaftliche Realität macht deutlich, daß eine europäische Identität nur hybriden Charakter haben kann. Der Autor läßt sich hier von der „Weisheit des Verzichts auf Festlegungen“ leiten.
Und noch in einem anderen Punkt ist Meyer unmißverständlich: Europa kann seine Identität nicht aus dem Fundus christlicher Glaubenssätze schöpfen. Zum einen ist das Christentum heute keine exklusiv europäische Religion mehr – hier wird auf Max Webers Unterscheidung zwischen Genesis und Geltung rekurriert; zum anderen sind die universellen Werte als die Erbmasse der Aufklärung weiterhin lebendig: Gleichheit der Menschen, Freiheit und der Vorrang der Vernunft werden dem Europäischen Konvent für die Verfassungspräambel empfohlen.
Diese Distanzierung hat zugleich methodische Folgen. Nicht nur daß Meyer dem Christentum den identitätsstiftenden Primat nicht einräumt – keine Leitkultur! –, er stuft die Bedeutung kultureller Systeme überhaupt zurück. Somit entkommt er der kulturalistischen Falle. Zugespitzt ausgedrückt: die für die Identität der Menschen prägende Kraft sind nicht kulturelle Aprioris, sondern gemachte Erfahrungen. Es ist ein Verdienst Meyers, daß er sich für eine mit dem cultural turn ins Hintertreffen geratene Tatsache stark macht: erst in den Milieus bzw. in den sozialen Netzwerken werden die Verhaltensweisen eingeübt und die notwendigen Orientierungen vermittelt.
Einen „Artenschutz“ für unterschiedliche Lebensweisen, sosehr jeder einzelne vom kulturellen Hintergrund zehren mag, soll es nicht geben; nicht zuletzt wegen der Gefahr der Bildung von Parallelgesellschaften. Die Integration ins Gemeinwesen soll über dessen politische Institutionen vollzogen werden. Hierfür liefert Indien – Europa wird ein ähnlicher Flickenteppich sein – das Beispiel. Dem Bewußtsein der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft stellt Meyer die kontinuierliche Teilnahme an deren Institutionen voran, „in den Belangen, die allen gemeinsam sind“ (H. Arendt). Die Bereitschaft, die Konsequenzen daraus zu übernehmen, läßt bei den Bürgern das Gemeinschaftsbewußtsein von gleichermaßen Betroffenen entstehen. Emotionale Bindungen spielen dabei nur eine untergeordnete Rolle. Und weil gerade die Politik Brüssels als besonders komplex und intransparent gilt, soll eine Öffnung der Institutionen – Meyer nennt es die „Politisierung der Politik“ – zum konstitutiven Element der europäischen Politik werden.

Nach diesen konzeptuellen Klarstellungen im ersten Teil seines Essays widmet sich Meyer im folgenden den aktuellen Problemen und Debatten. Auch wenn er Europa nicht als eine Wertegemeinschaft im herkömmlichen Sinne versteht – in der Diskussion um den Beitritt der Türkei sowie in den Beziehungen zu den USA kommt er um diesen Aspekt nicht herum. Aber zunächst macht er deutlich, daß die innere Kraft der Identitätsbildung aus Europas Mitte selbst kommen muß – in der Auseinandersetzung mit Auschwitz. Hier folgt Meyer dem Gedanken von Zygmunt Bauman, daß Auschwitz insofern exemplarisch für die Moderne stehe, als es sich aus strukturellen Gründen jederzeit wiederholen kann.
Gegenüber den USA hebt Meyer zunächst die Divergenzen hervor, die auch über den aktuellen Unilateralismus konservativer Kreise hinaus Bestand haben: im Verständnis der politischen Gleichheit, die an die Oligarchie verlorengeht, der Menschenrechte, die durch rigide Anwendung der Todesstrafe in ihr Gegenteil verkehrt sind, oder auch der sozialen Gerechtigkeit. Zwar nimmt Meyer Anstoß an den oligarchischen, militarisierten Zügen der libertären Demokratie Amerikas, worauf er dennoch setzt, ist die Wesensverwandtschaft zwischen beiden Gebilden – Rechtsstaatlichkeit und Demokratie –, die sie zur westlichen Welt macht.
In der Debatte um den Beitritt der Türkei zur EU – den „Testfall für Europa“ – kommt das offene Identitätsmodell Meyers besonders zum Tragen. Solange man sich nur kultureller Argumente bedient – mit dem Beitritt werde auf europäischem Boden the clash of civilisations ausgetragen –, bleibt man auf einem Auge blind. Denn es gibt mehr vernünftige Argumente pro-Beitritt, als dies die Gegner wahrhaben wollen. Dabei ist allerdings Meyers Bemühen, den Konnex der Türkei zu Europa von der antiken Vergangenheit herzuleiten, wenig einleuchtend – abgesehen davon, daß es sich hier um ein genuin kulturelles Argument handelt. Denn die moderne Türkei ist auf das antike Erbe genauso wenig festzulegen wie ihr Nachbar Griechenland.
Es gibt aber noch andere Faktoren, die die Türkei für die EU qualifizieren: die Säkularisierung aus eigenem Antrieb – wenn auch durch das Militär; schon heute praktizieren über 16 Millionen türkischer Bürger, die in EU-Staaten leben, die Demokratie, und außerdem weist die heutige Türkei größere Vorzüge auf als viele Mitglieder der EU zur Zeit ihres Beitritts. Meyers Argumentation ist hier von pragmatischen Erwägungen geleitet. So darf Rußland nicht dazu gehören, weil es mit seinem wirtschaftlichen und militärischen Übergewicht das austarierte Gefüge der Union in Schieflage bringen würde. Hingegen würde durch die Aufnahme der Türkei einerseits dem Demokratisierungsprozeß im Lande geholfen, andererseits könnte Europa seine Fähigkeit zur Integration eines islamischen Staates unter Beweis stellen.
Was die künftige Gestalt betrifft, so soll Europa, ganz nach dem Beschuß von Lissabon, als ein offenes Projekt weitergeführt werden – als der dritte Weg zwischen der Supranationalität der Kommission und der Intergouvernementalität des Rates. Nach außen, als zivile Weltmacht, muß es die treibende Kraft bei der Errichtung notwendiger Strukturen für die Weltinnenpolitik werden – mit den Prinzipien von Fairneß, Prävention und Kooperation. Nach innen soll sich die Union – von einem Kerneuropa ausstrahlend – durch die Harmonisierung der Sozialpolitiken wie zum Beispiel die Einführung verbindlicher Mindeststandards im Arbeitsschutz profilieren. Denn die soziale Lebenswelt und die Zivilgesellschaft sind jene Domänen, in denen durch die gemeinsame Praxis der Bürger wechselseitige Anerkennung und Solidarität erzeugt werden und identitätsstiftend wirken. So soll eine Charta sozialer Grundrechte zusammen mit den universalen politischen Rechten die Tragsäule der europäischen Verfassung bilden. Diese wird Europa das Antlitz einer sozialen Demokratie geben.

Meyer zeigt ein großes Engagement bei der Diskussion der Aspekte, die für die Identitätsbildung Europas relevant sind. Den Leser beschleicht jedoch das Gefühl, daß sein Europaprojekt nur von den Europäern getragen werden kann, die jedoch selbst erst in der Entstehung begriffen sind. Ist dem Autor hier ein Zirkelschluß unterlaufen? Nach dem Beitritt der osteuropäischen Staaten wird das Problem der konkreten Gestaltung besonders dringlich. Spätestens an diesem Punkt, da die tradierten, „vormodernen“ Lebensmuster mit den postmodernen Bedingungen konfrontiert werden, stellt sich die Frage, ob die Trennung von Kultur und Politik nicht doch zu scharf ausgefallen ist. Es hat etwas von unfreiwilliger Komik, wenn Meyer zur Schaffung einer „transnationalen Zivilgesellschaft“ den „trivialen Freizeittourismus“ von Städtepartnerschaften empfiehlt. Soll der aufgeklärte politische Bürger Europa am Ende dann doch herbeitrinken und -singen?
Nichtsdestotrotz liefert uns Meyer ein durchstrukturiertes Konzept für das Projekt Europa an der Schwelle zu einer neuen Entwicklungsphase. Die Breite des Themenspektrums sowie die Eindringlichkeit der Argumentation werfen ein helles Licht auf die sonst so komplexen Zusammenhänge. Der Autor macht die Probleme der europäischen Einigung klar, läßt sich von ihnen aber nicht beirren. Dadurch wird Meyer zum Eurooptimisten – die erste Voraussetzung für die künftige Identität des Kontinents!

Jovica Lukovic, 3. August 2004
ID 1193





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