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Rezension

Eric Hobsbawm

Gefährliche Zeiten.
Ein Leben im 20. Jahrhundert


504 Seiten
Preis: EUR [D]/EUR [A]/SFr
ISBN 3-446-20375-3
Erschienen im Carl Hanser Verlag, München
August 2003

Wo gibt es sie noch? Menschen mit einer Vita, die das 20. Jahrhundert der Länge nach durchschneidet. Ernst H. Gombrich ist tot, und vergangenes Jahr starb der große Czernowitzer Biochemiker Erwin Chargaff - beides Persönlichkeiten, die als Österreicher die Agonie Mitteleuropas im Zusammenbruch nach dem Ersten Weltkrieg verinnerlicht, ihr intellektuelles Leben jedoch in der angelsächsischen Welt gelebt haben. In ihnen verbindet sich der so entrückte Beginn des 20. Jahrhunderts mit seinem noch nicht allzu fernen Ende.
So auch bei Eric Hobsbawm. Die Feuilletons scheinen sich regelrecht auf verbliebene Persönlichkeiten seines Schlages zu stürzen. Und liest man die höchst reflektierten und selbstbewußten Lebenserinnerungen des britischen Historikers, dann bekommt man den Eindruck, man lebe heute wirklich in der "ahistorischen Kultur" eines Spielers von Trivial Pursuit, das Hobsbawm seinerseits in einer Fußnote als ein "beliebtes Gesellschaftsspiel … gegen Ende des 20. Jahrhunderts" beschreibt.
Eines ist einem nach der Lektüre seiner 500 Seiten starken Autobiographie Gefährliche Zeiten. Ein Leben im 20. Jahrhundert zumindest klar: Wir sind endgültig in einer anderen Zeit, einem anderen Jahrhundert angekommen. Einen Weg zurück gibt es nicht mehr.

Geschichte eines Nachnamens

"Gefährliche Zeiten" - der deutsche Titel des Buchs, das bereits letztes Jahr unter dem Titel Interesting Times. A Twentieth-Century Life bei Penguin in London erschien - läßt einiges erwarten. Weil ihnen der Erste Weltkrieg dazwischen kam, ließen sich der britische Kolonialbeamte Percy Hobsbaum und die Wiener Kaufmannstochter Nelly Grün in Zürich trauen und verbrachten die Kriegszeit im damals britischen Alexandria, wo auch Eric geboren wurde. Her bzw. his Majesty's Meldeämter hatten gleich zweimal nicht richtig hingehört. Bereits als die Großeltern David und Rose Obstbaum 1870 vom Kontinent nach London kamen, kreierte ein Cockney-Sprecher in der Behörde den Namen Hobsbaum. Und als nun ein Hobsbaum-Sproß 1917 in Alexandria das Licht der Welt erblickte, machte der dortige Beamte kurzerhand Hobsbawm daraus. Bereits in der Geschichte eines Nachnamens spiegelt sich das rastlose Schicksal einer kleinbürgerlich-jüdischen Familie im 20. Jahrhundert.
Es ist nicht von ungefähr, daß der Historiker Hobsbawm in Interviews oft auf die besondere Grausamkeit des 20. Jahrhunderts hinweist. Mit seiner Anfang der 90er Jahre erschienenen Weltgeschichte des vergangenen Säkulums hat er die griffige Formulierung vom "Zeitalter der Extreme" geprägt; die "gefährlichen Zeiten", also das, was er selbst am "kurzen" 20. Jahrhundert erlebt hat, betrachtet Hobsbawm als eine Art "B-Version" seines großen Alterswerks. Daher nimmt man dem Historiker auch jede Zeile ab, denn zumindest seine entscheidende Prägephase erlebte der junge Eric im höchst turbulenten Nachkriegsmitteleuropa der Metropolen Wien und Berlin.
Von Ägypten zogen die Hobsbaums 1919 in die von bürgerkriegsähnlichen Wirren, Inflation und den Auseinandersetzungen um die Nachkriegsordnung gebeutelte Hauptstadt eines ehemaligen Großreichs, die sich nun in einem engen und provinziellen Kleinstaat eingesperrt sah. "Von allen großen multilingualen und multiterritorialen Imperien, die im Verlauf des 20. Jahrhunderts untergingen", resümiert Hobsbawm die Atmosphäre in Österreich nach dem Ersten Weltkrieg, "hat der Verfall und das Ende der k.u.k. Monarchie unter Franz Joseph ... uns die bei weitem gehaltvollste und literarische und narrative Chronik der Ereignisse hinterlassen."
Für die Familie war Wien geradezu mörderisch. Zwar beschreibt Hobsbawm seine Kindheit als die eines 'typischen', kleinbürgerlichen 20er-Jahre-Kindes, aber er gibt zu, daß er zu dieser Zeit die wahren Entbehrungen und die Armut seiner Eltern noch nicht durchschaute. Die unglücklichen Geschäfte des Vaters, die schriftstellerischen Versuche der Mutter und das family networking der Familie Grün konnten den Verfall kaum aufhalten. 1929 starb Percy, Mutter Nelly folgte, erst 36jährig, zwei Jahre später. Und für Eric und seine Schwester Nancy begann der kurze, aber, wie er selbst sagt, "entscheidende" Abschnitt in seinem Leben: sein zweijähriger Aufenthalt in Berlin.

Eine Welt ohne Dauer

"Es ist schwer", schreibt Hobsbawm über seine Berliner Zeit, "für diejenigen, die das 'Zeitalter der Katastrophen' im 20. Jahrhundert in Mitteleuropa nicht erlebt haben, sich vorzustellen, was es bedeutete, in einer Welt zu leben, an deren Dauer niemand glaubte, in einem Etwas, das nicht einmal wirklich als eine Welt beschrieben werden konnte, sondern lediglich als ein Übergang zwischen einer toten Vergangenheit und einer noch nicht oder höchstens vielleicht in der Tiefe des revolutionären Rußlands geborenen Zukunft. Nirgendwo war dies greifbarer als in der Weimarer Republik in ihren letzten Zügen."
Hobsbawm kam im Spätsommer 1931, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, als 14jähriger in die deutsche Hauptstadt. Die Geschwister lebten bei Onkel und Tante, und Eric wurde aufs Schöneberger Prinz-Heinrichs-Gymnasium geschickt, eine durchschnittlich konservative deutsche Lehranstalt mit humorlosen Lehrern und mit Schülern, die darauf brannten, endlich in diese interessante und gefährliche Welt da draußen hinausgelassen zu werden. Hobsbawm, dessen Familie zumindest väterlicherseits aus dem jüdischen Proletariat in London traditionell eher links stand, beschreibt seine Konversion zum Kommunismus 1932/33 als eine geradezu logische Folge seiner Situation: als Engländer und Jude war er weder am konservativen Nationalismus seiner Lehrer und vieler Mitschüler noch an Hitlers Nationalsozialismus interessiert, der zu jener Zeit boomte.
Die ersten Kontakte knüpfte Hobsbawm mit einem gewissen Rudolf Leder, der später in der DDR als Schriftsteller unter dem Namen Stephan Hermlin Karriere machte - die Seitenhiebe auf dessen Revoluzzervita sind lesenswert -, versuchte seine Überzeugung mit Marx' Kapital auf Linie zu bringen und engangierte sich in einer Zelle des Sozialistischen Studentenbundes (SSB) im Stadtteil Halensee. Die Fehleinschätzung Hitlers durch die KPD-Führung gewinnt aus der Froschperspektive der Halenseer Jungkommunisten eine ganz neue Dimension. Doch statt der erhofften Revolution spielen die "Möchtegern-Radikalen" Cowboy, als sie im März 1933 kommunistische Flugblätter in Berliner Hinterhöfen verteilen. Dieses "Element des Wildwestspielens" im Umgang mit Krieg und den politischen Auseinandersetzungen der Zeit hat nicht zuletzt Sebastian Haffner treffend in seiner Geschichte eines Deutschen beschrieben.
Eigentümlich lesen sich heute auch Hobsbawms Beschreibungen des Wir-Erlebnisses: "Neben der sexuellen Begegnung ist die Aktivität, bei der sich körperliches und seelisches Erleben in höchstem Maße verbinden, die Teilnahme an einer Massendemonstration in Zeiten starker öffentlicher Begeisterung." Bedenkt man aber, daß der junge Eric als Teil dieser Bewegung am 25. Januar 1933 an der letzten großen KPD-Demonstration vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten teilnahm, dann läßt sich besser verstehen, warum auch der Cambridge-Student und britische Gelehrte Hobsbawm zeit seines Lebens Mitglied der englischen KP geblieben ist.

"Und er verlernt die Deutsche Sprache"

Mit dem Umzug nach London im Frühjahr 1933 ändert sich alles: an die Stelle der Berliner Rastlosigkeit tritt das gemächliche Leben in der Hauptstadt des alternden britischen Empire. "Wir waren Untertanen König Georgs V. und somit ... in keiner Hinsicht Flüchtlinge oder Opfer des NS-Regimes. In jeder anderen Hinsicht waren wir dagegen Einwanderer aus Mitteleuropa". Es verwundert ein wenig, mit welcher Selbstverständlichkeit Hobsbawm den Wechsel nach England abhandelt. Trotz guter Lehrer, wichtiger Leseerfahrungen und des Jazz muß ihm die Zeit lang geworden sein. Ein auf Deutsch geführtes Tagebuch hilft ihm über die drei Jahre auf der St Marylebone Grammar School hinweg. Er hat große Pläne, will Revolutionär werden, Schriftsteller. "Und er verlernt die Deutsche Sprache", wie sein letzter Tagebucheintrag endet. Spätestens mit seinem Begabtenstipendium am King's College in Cambridge tritt Hobsbawm 1936 ein in die Welt, die ihn ein Leben lang begleitet.
So "gefährlich", wie es der deutsche Titel will, waren die Zeiten für den angehenden Historiker nicht, dafür aber sicherlich interesting. Eingebunden in das britische Lehrwesen, das ihn 1947 zum lecturer am Londoner Birbeck College berief, verbrachte Hobsbawm sein Leben an der politischen und wissenschaftlichen Heimatfront. Das Jahr 1956 mit dem Ungarn-Aufstand und dem Chruschtschowschen Tauwetter bedeutete für den überzeugten Kommunisten eine größere Zäsur als der Wehrdienst, den er während des Krieges als Pionier und Bildungsoffizier in England ableistete.
Den Titel eines Professors bekam der undogmatische Linke, der u.a. mit Isaiah Berlin, Christopher Hill und E.P. Thompson eine marxistische Tradition in der britischen Historiographie begründete, erst 1971 verliehen. Akademisch betrachtet kann Hobsbawm auf eine höchst erfolgreiche Karriere zurückblicken, die ihn auf den Kontinent, nach Frankreich, Spanien und Italien, aber auch in die Vereinigten Staaten und nach Lateinamerika führte. Es ist der Wiener Kosmopolit, der hier lässig über seine Weltläufigkeit schreibt. Die Kapitel über 1968 und die Zeit danach, die Thatcher-Ära und seine häuslichen Veränderungen können allerdings kaum mehr mit der Schilderung seiner schmerzlichen und doch so typischen Vita im Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit mithalten.

Die Fragen der Gegenwart beantworten

So bleiben die beiden wichtigsten Fixpunkte in Gefährliche Zeiten Hobsbawms fester, aber nicht bornierter politischer Standpunkt sowie sein fortwährender Versuch, wie einst Marc Bloch das Dabei-gewesen-Sein für seine Forschung nutzbar zu machen. "Die Vergangenheit ist ein anderes Land, aber bei denen, die einmal dort gelebt haben, hat sie Spuren hinterlassen", schreibt Hobsbawm über die "Aufgabe des autobiographischen Historikers". Die Aufgabe bestehe darin, das "Land" der Vergangenheit zu "kartografieren".
Wir dürfen nicht immer so genau hinhören, wenn der Zeitzeuge in Hobsbawm, trotz aller Nüchternheit und der Distanz des weisen alten Geschichtsprofessors, manchmal nicht umhin kann, den nachfolgenden Generationen das Recht streitig zu machen, über die von ihm erlebte Vergangenheit zu urteilen. Mit seinem Lebensbericht, der die Extreme des 20. Jahrhunderts persönlich auswertet und kritisch betrachtet, gibt uns Hobsbawm ein wertvolles Instrument in die Hand, um dieses historische Terrain selbst zu ergründen.
Und nicht nur das. Das 20. Jahrhundert ist vorbei, wir können nicht mehr zurück. Aber: "Von selbst wird die Welt nicht besser", lauten die letzten Worte des Buchs. Überparteilichkeit und Engagement sind nicht nur Tugenden, die Historiker haben sollten. Schließlich sucht die Geschichte keine Antworten auf Fragen der Vergangenheit, sondern auf die der Gegenwart.


p.w. - red. / 6. Oktober 2003



 
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© 2003 Kultura (alle Beiträge unterliegen dem Copyright der jeweiligen Autoren, Künstler und Institutionen. Widerrechtliche Weiterverbreitung ist strafbar.)
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