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Rezension

»Gedichte«, Hörbuch von A. J. Weigoni

Edition Das Labor, Mülheim 2015



Altertumsforscher des gegenwärtigen Abhandenkommens

Die uns bekannte Welt besteht ganz wesentlich aus Sprache. Ererbter Sprache. Und nirgendwo drückt sich die Sprache im nachbabylonischen Zeitalter direkter aus, als in Gedichten, dieser heikelsten Gattung im Biotop der literarischen Infrastruktur. Während die Lyrik die Zeit verlangsamt und die Aufmerksamkeit auf die Erscheinungen in seinen Grenzen lenkt, suchen Gedichte zugleich auch die Gegenwart des umgebenden Kontextes. Dieses Zusammenspiel zwischen Offenheit und Geschlossenheit ist essenziell für die Phänomenologie der Poesie. Den schätzungsweise 50.000 ernsthaft um eigene Lyrik bemühten Autoren stehen circa 500 Leser gegenüber, die einen Lyrikband käuflich auch tatsächlich erwerben, und zwar auch nur den besten eines betreffenden Jahrgangs.

„Die meisten Menschen pfeifen auf Lyrik, wir zwitschern!“, lautete der Aufruf an die User des Forums http://www.hoergruselspiele.de Kürzestkritiken zu Twittern. Beherzte User warfen sich dem Wagnis entgegen das Hörbuch »Gedichte« zu hören:

"Die Gedichte vermitteln kein Erlebtes, sondern erzeugen sinnliches Erleben. Das macht Spaß!", schreibt der User Schanal.

Man kann das Hörbuch »Gedichte« aber auch als fernes Echo auf Niklas Luhmanns »Liebe als Passion« hören, als ein Kompositum, das zwischen phonetischen, pictografischen und onomapoetischen Formen oszilliert. Es ist nicht die Dissonanz, die Weigonis Lyrik auszeichnet, sondern die Kraft, mit der er diese Dissonanz erzeugt.

"Die Letternmusik ist ein im ontologischen Sinn strikt nihilistischer Hörtext. Dass wir es zugleich mit einer hoch artistischen Demonstration, einem verbalen Theaterspiel zu tun haben, wird nicht zuletzt signalisiert durch die Einteilung der Texturen in fünf Akte mit musikalischer Bezeichnung der jeweiligen Tempi und Stimmungen, ausgezeichnet vorgetragen vom Autor.", schreibt Prof. Dr. Franz Norbert Mennemeier.

Im lyrischen Monodram »Señora Nada« beschreibt Weigoni eine Melancholerikerin. In dieser Hörspielfassung paart sich ein trügerischer Naturalismus, listig mit einem Wiedererkennungs– und Verfremdungseffekt.

Zuerst erschein dieses Langgedicht in der bibliophilen Aufmachung bei der Landpresse. Der Lektor Axel Kutsch ist von diese Poem immer noch überzeugt: "Es gibt in der neueren Literatur nicht viele überzeugende Langgedichte - Das Geheul von Ginsberg, Der Untergang der Titanic von Enzensberger – und es ist sicher nicht übertrieben, wenn man in diesem Zusammenhang auch das lyrische Monodram Señora Nada von A.J. Weigoni erwähnt, vielleicht das faszinierendste deutschsprachige Langgedicht der letzten Jahre."

Diese bibliophile Ausgabe ist leider vergriffen, umso erfreulicher ist es, dass dieses Monodram in einer Hörspiel-Version auf dem Hörbuch »Gedichte« erhältlich ist. Bei Señora Nada provoziert Weigoni, mit einem stream–of–consciousness durch Inhalte, und nicht durch Dolby–Surround. Darin wird er von Tom Täger begleitet mit einer Musik der befreiten Melodien. Seine Komposition zu Señora Nada ist durchsetzt mit minimalistischen und improvisatorischen Erfahrungen, das Klangbild wird von experimentellen Klängen zu Trivialklängen in Bezug gesetzt. Der Poesiebegriff mutiert von der Textgattung zum Klangerlebnis. Dies verdeutlicht auch die Hörspiel-Inszenierung der Regisseurin Ioona Rauschan, die über diese Arbeit sagt: "Señora Nada ist ein lyrisches Monodram über das Überwinden von Trauma und Schmerz durch Erkenntnis dank des Eindringens in die unoffenbarte Zwischenwelt. Die Welt zwischen Haben und Sein, zwischen Bestimmung und Freiheit, zwischen Jetzt und Immer."

Ioona Rauschans Deutung ist texttreu, eine Texttreue, die bis zwischen die Zeilen geht. Diese Inszenierung ist so intensiv, man hat den Eindruck, als könnten Worte Wellen schlagen.

Wesentlich dazu trägt die Schauspielerin Marina Rother in der Rolle der Señora Nada bei. Sie interpretiert ihre Rolle so leise, klar und eindringlich, dass der Text einerseits zum Bild wird, anderseits zu Sprachmusik von schmeichlerischer Sinnlichkeit. Die lyrische Rede vollzieht sie als eine Form von Rollenrede.

Wetzt Weigoni bereits bei »Lettermusik im Gaumentheater« Silben und Konsonanten so scharf, dass Schere unweigerlich Papier schneidet, so läuft er bei »Dichterloh« zur geahnten Höchtform auf. Seine Lyrik ist auf der Höhe der Zeit, der poetologischen Kern wird in diesem Kompositum ofenbar: das Abwesende beschreibbar zu machen, indem es als semiotisch umschlossene Leere erscheint, die das Anwesende imaginiert. Weigoni nutzt die sprachlichen Konventionen zu, um sie gleichsam zu desavouieren und dem individuellen Sprechakt anzuvertrauen. Er gestaltet dieses Kompositum in vier Akten zu einem ‚Ohr-Ratorium’ und beweißt bei »Dichterloh« ein feines Gespür für Timing und die richtige Tonlage.

"Weigoni bringt Ausdruck und Struktur in Einklang, instituiert damit eine auratische Zeichenhaftigkeit dodekaphoner Expressivität und verändert die Sprache mit jedem Sprechen. Die Zeichen geraten in Schwingungen, feste Beziehungen zwischen dem Bezeichneten und dem Bezeichnenden lösen sich auf.", schreibt die Moskauer Germanistin Dr. Tamara Kudrjawzewa über diese Produktion.

Den Hörbuchpionieren Täger und Weigoni kommt das Verdienst zu, die Lyrik nach 400 Jahren babylonischer Gefangenschaft aus dem Buch befreit zu haben. Wieder erschienen sind die »Gedichte« in der Reihe Ohrenzwinkern, eine zeitgenössische Form, über Kunst- und Literaturgeschichte nachzudenken. Die formschönen DVD-Hüllen sind eine Zierde für jedes Bücherregal. Damit zusammenkommt, was zusammen gehört.


Jo Weiß - 2. Februar 2011
ID 5034
Siehe auch unter:
http://www.kultura-extra.de/literatur/spezial/buchkritik_weigoni_schmauchspuren.php





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