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Rezension

Jean Back, Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.) - "The Family of Man 1955-2001"

Humanismus und Postmoderne: Eine Revision von Edward Steichens Fotoausstellung [dt./engl.]
Jonas Verlag, Marburg 2004
ISBN 3-89445-328-1
280 Seiten
25,– Euro [D]


Eine Lektion in Adamismus

Es ließe sich zum Beispiel fragen: Warum Luxemburg? Sicherlich nicht, weil die propre Hauptstadt des gleichnamigen Großherzogtums ein „Bankenzentrum der Welt“ ist, wie die amerikanische Kunsthistorikerin Abigail Solomon-Godeau schreibt, „mit einer kleinen, wohlhabenden Bevölkerung von einer halben Million Menschen, die vorherrschend weiß und zu 97 Prozent katholisch sind und deren ‚Andere‘ hauptsächlich PortugiesInnen und ItalienerInnen sind“.
Nein, die Tatsache, dass die berühmte Ausstellung „The Family of Man“, die 1955 vom New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) aus ihren Siegeszug um die Welt antrat, seit einigen Jahren im Luxemburger Château de Clervaux eine feste Bleibe gefunden hat, hängt schlicht damit zusammen, dass ihr Schöpfer, der amerikanische Fotograf Edward Steichen, hier im Jahr 1879 geboren wurde.
Ein Grund mehr, die frisch revivalte Schau zum Anlass für eine Tagung zu nehmen, die unter der Schirmherrschaft des luxemburgischen Kultusministeriums stand und für die die Trierer Kunsthistorikerin Viktoria Schmidt-Linsenhoff und der Direktor des Centre national de l’audiovisuel (CNA), Jean Back, eine Gruppe ausgesuchter Fotospezialisten, Theoretiker und Künstler nach Luxemburg baten. Ihre Beiträge liegen nun in einer reich bebilderten, zweisprachigen – deutsch/englisch – und gar nicht mal teuren Publikation vor, die dieses Jahr im Marburger Jonas Verlag erschienen ist.

Es ist in heutiger Zeit nicht eben einfach, feste Aussagen zu machen über eine Ausstellung, die im Zeichen des kalten Krieges den inneren Zusammenhalt der Menschheit fotografisch-pathetisch als große Familie zu fassen versuchte, und dies anhand eines Tagungsbandes, der „The Family of Man“ mit gleicher Vehemenz einer Relektüre und Kritik unterzieht. Einer Kritik jedoch, die sich zwar, wie der Untertitel andeutet, in der Tradition der Postmoderne sieht, die allerdings nichts so sehr meidet wie vorschnelle Schlussfolgerungen hinsichtlich der Aussage der Ausstellung.
9/11 und die neue Zurückhaltung

Man merkt es deutlich: hier schreibt zwar eine von ’68 geprägte Generation – aber sie hat eben auch den 11. September 2001 erlebt. Und so nimmt es nicht wunder, dass Viktoria Schmidt-Linsenhoff ihre Einleitung auf einem Vergleich zwischen Steichens Menschheitsfamilie und der basisnahen Ausstellung „here is new york“ aufbaut, die inzwischen, genauso wie einst „The Family of Man“, um die Welt gezogen ist.
Wer affirmative Positionen sucht, der sollte das Buch ohnehin von hinten nach vorn lesen, denn gerade auf den letzten Seiten stehen sich zwei Grundpositionen gegenüber. Während Roland Barthes’ legendäre Kritik, die für viele Autoren der Ausgangspunkt für ihren eigenen Konferenzbeitrag war, der Ausstellung „Adamismus“ und mangelndes historisches Bewusstsein vorwirft, pocht der Journalist und Steichen-Experte Rosch Krieps auf die universale Botschaft, die auch heute noch in „The Family of Man“ enthalten ist. Immerhin ist es dem Luxemburger, der Steichen persönlich kannte, zu danken, dass die Ausstellung nun in seinem Heimatland einen festen Ort gefunden hat.

In vielen der Aufsätze und Essays geht es immer wieder um die Frage, was das Besondere, das Charakteristische an Steichens Ausstellung gewesen ist und wie sie sich auf die heutige Zeit beziehen lässt. Indem die Autoren parallelisieren, ideologische Relikte analysieren und dabei auch schon mal in die freudianische Klamottenkiste greifen, können sie die perfekte Inszenierung der über 500 Fotografien, die Steichen und sein Mitarbeiter Wayne Miller seinerzeit ausgewählt hatten, durchbrechen und tiefere Schichten der amerikanischen Identität nach dem traumatischen Jahrzehnt des Zweiten Weltkriegs freilegen.
Marc-Emmanuel Mélon beispielsweise entschlüsselt, ausgehend von W. Eugene Smiths berühmtem Bild „The Way to the Paradise Garden“, mehrere Sinnebenen in „The Family of Man“. Smith, der gerade von einer schweren Kriegsverletzung genas, als er sein Foto machte, transportiere in seinem Bild eine erschütterte Männlichkeit. Auch auf einer allgemeineren Deutungsebene geht es laut Mélon zunächst um die Angst vor Trennung und Zerrissenheit, auf die Steichen mit seinen Bildern zu reagieren wusste: „Gegen die Atombombe: die UNO; gegen die Gewalt: das Sakrale; gegen die Einsamkeit: die Wahrung der Mutterbindung; und gegen alle diese Plagen: die Familie.“
Ganz ähnlich sieht es Viktoria Schmidt-Linsenhoff in ihrem Beitrag über „The Family of Man“ und den Holocaust. Einer vorschnellen Kritik, dass Steichen die Bilder der Ermordeten zurückhalte und damit den Mord an sechs Millionen Juden nicht thematisiere, begegnet sie mit einer eingehenden Würdigung der ausgestellten drei Fotografien. „Die Gebärde der erhobenen Hände, die Frauen und Kinder im Stroop-Bericht als Verbrecher denunziert, zeichnet sie in der Ausstellung als ehrenvoll besiegte Soldaten aus, deren Menschenwürde auch in der Niederlage intakt geblieben ist.“ So kann sie zeigen, dass der rohe Heroismus der Bilder aus dem Warschauer Ghetto eine message formuliert, die beim Betrachter ankommt.
Vom Universalismus zum Benetton-Humanimus

Andererseits spricht Abigail Solomon-Godeau nicht zu unrecht von der „unendlichen Dehnbarkeit fotografischer Bedeutung“ und meint damit vor allem die Dekontextualisierung vieler Bilder von Starfotografen und ihre Unterordnung unter Steichens Konzept. Damit wird auch deutlich, dass Steichens Ausstellung, im Gegensatz zum behaupteten Universalismus, nichts anderes als eine „kollektive Produktion“ war. So sind es vor allem die persönlichen Präferenzen von Steichen und seinen Mitarbeitern und nicht zuletzt die Monopolstellung der amerikanischen Massenmedien und des MoMA als internationaler Kunstinstitution, die die Inhalte und Aussage der Ausstellung wesentlich bestimmten.

Es war Roland Barthes, der in Bezug auf „The Family of Man“ vom „Humansimus“ an Stelle des „Adamismus“ der menschlichen Natur sprach. „Der fortschrittliche Humanismus“, so Barthes 1957 in seinen Mythen des Alltags, „muß stets daran denken, die Begriffe dieses alten Betrugs umzukehren, die Natur, ihre ‚Gesetzmäßigkeiten‘ und ihre ‚Grenzen‘ unaufhörlich aufzureißen, um darin die Geschichte zu erkennen und endlich die Natur selbst als historisch zu setzen.“ (Zum ‚Humanismus‘ siehe auch Christian Caujolles Artikel.)
Nun kann man fragen, wohin dieser von Barthes eingeklagte „fortschrittliche Humanismus“ in den knapp fünfzig Jahren seit der ersten Ausstellung von „The Family of Man“ geführt hat. Zunächst einmal lässt sich mit Eric Sandeens Exploration der Welt des Kalten Krieges zeigen, welche Rolle die Schau in einer gespaltenen Welt spielte. Auch fotografiehistorisch war Steichens Ausstellung bedeutsam, indem sie mit Cartier-Bresson, Doisneau und vielen anderen einen Höhepunkt der human interest photography der 1930er und 40er Jahre versammelte, wie Viktoria Schmidt-Linsenhoff zeigen kann. „Edward Steichen funktionalisierte eine Fotografie, die das Partikulare und Nicht-Repräsentative entdeckt hatte, für eine Propaganda des Neo-Humanismus im Zeichen des Kalten Krieges.“
Heute hingegen muss die Rhetorik der Ausstellung mit ihrem quasi-religiösen Universalismus keine ideologischen Blöcke mehr überwinden. Abigail Solomon-Godeau spricht daher von einem „für ein postmodernes Zeitalter aufpolierten Humanismus“, der „mehr Gemeinsamkeit mit einer Benetton-Werbung aufweist, als etwa mit den ernsthaften, wenn auch naiven Überzeugungen der FotografInnen von Magnum in den vierziger Jahren“. Liegt das nur daran, dass die konkrete historische Situation, aus der heraus „The Family of Man“ einmal entstanden ist, nicht mehr gegeben ist, oder auch daran, wie es der amerikanische Künstler Allan Sekula nahelegt, dass die Ausstellung nun in ihrem letzten Hafen angekommen ist?
Die Ausstellung der Ausstellung

„Vielleicht besteht darin das endgültige museologische Schicksal von The Family of Man: zum bewegungslos gemachten Relikt einer weltweiten Gastspielreise zu werden, das den wandernden Museumskassenschlagern von heute als Vorlage diente“, so Sekula. Wer mag da nicht an die derzeitigen Schlangen vor der Berliner Nationalgalerie denken? Nur dass „The Family of Man“ ihren Charakter als „amerikanische Unfehlbarkeitserklärung“, wie Werner Spies die MoMA-Schau in Berlin jüngst genannt hat, endgültig eingebüßt hat.

Ein großer Vorteil des Bandes ist, dass er zweisprachig erscheint und so auch im Ursprungsland von „The Family of Man“ zur Diskussion anregen kann. Ein bisschen schade ist allerdings, dass es in den deutschen Übersetzungen manchmal nur ‚ums Prinzip‘ gegangen zu sein scheint und Kreationen wie „mächtige RänkeschmiedInnen“ oder der „IndianerInnen-Kämpfer Andrew Jackson“ die gute Lesbarkeit des Buches schmälern.
Wenn hier nur aus einigen wenigen Beiträgen des Bandes zitiert wird, so bedeutet das nicht, dass beispielsweise Timm Starls Vergleiche mit Karl Paweks „Weltausstellungen der Photographie“ oder Andreas Haus’ und Reinhard Matz’ Analyse von Steichens „First Picture Book“ weniger interessant wären, sondern einzig dass der Tagungsband noch unzählige interessante Aspekte enthält, die nicht alle erwähnt werden können.
Das Mosaik der Abbildungen, das sich aus den vielen verschiedenen Perspektiven, die der Band versammelt, ergibt, wirkt allerdings oft ein wenig verwirrend, sodass man fast froh ist, wenn man auf Seite 82 unvermittelt auf einen Plan der MoMA-Ausstellung von 1955 stößt. Sich heute ein geschlossenes Bild von ihr zu machen, ist eben nicht einfach – dazu müssen wir wohl oder übel nach Luxemburg reisen.
Ihre Bedeutung zu Beginn des 21. Jahrhunderts, auch als bloße Ausstellung der Ausstellung, steht jedoch außer Frage, und Viktoria Schmidt-Linsenhoff hat dies trefflich auf den Punkt gebracht: „The Family of Man leitete jene kulturalistische Wende ein, die die Unterschiede zwischen ‚uns‘ und ‚ihnen‘ nicht mehr mit Becken- und Schädelmaßen, sondern mit Sitten und Gebräuchen definiert und die Hegemonie der westlichen Kultur begründet, die heute die Hegemonie der transnationalen Konzerne ist.“


p.w. – red. / 8. September 2004
ID 1220





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