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Rezension

Tanja Dückers, Verena Carl (Hg.) - Stadt Land Krieg

Autoren der Gegenwart erzählen von der deutschen Vergangenheit
Aufbau Taschenbuch Verlag, 2004
ISBN 3-7466-2045-7, 256 Seiten, 8,50 Euro [D]


Das Unbehagen an der deutschen Vergangenheit

Warum überkommen einen erst einmal Zweifel, wenn man ein Buch in die Hand nimmt, in dem jüngere Autoren über den Krieg schreiben? Eine Sorge, sie könnten nichts zu sagen haben, gemischt mit dem Unbehagen, daß die Jungkünstler vielleicht gar nicht dazu autorisiert sein könnten, über den Krieg zu schreiben, diesen verdammten Zweiten Weltkrieg, der nach wie vor in unserem Bewußtsein spukt?
Schon nach wenigen Seiten wird jedoch klar: wer so denkt, hat entweder zu tief nach der historischen „Wahrheit“ geschürft – wahlweise mit Jörg Friedrich oder Guido Knopp –, oder er traut der jungen Literatur in diesem Land nichts mehr zu. Der sollte dann konsequenterweise „Stadt Land Krieg“, die jüngst von Tanja Dückers und Verena Carl im Aufbau Taschenbuch Verlag herausgegebene Anthologie, auch wieder weglegen.
Schade allerdings, wenn er’s täte. Denn daß mit einer Zeitzeugengeneration nicht per se auch das Ereignis – in diesem Fall der letzte Weltkrieg mit all seinen unauslöschlichen Folgen für die deutsche (und österreichische) Psyche – ausstirbt, das wissen neben den Historikern am besten die Literaten. Ja, die 22 Autoren des Bandes, geboren zwischen 1957 und 1974 und von daher mit der Kriegszeit nicht mal entfernt in Berührung gekommen, schreiben über Begebenheiten heute und damals, über Familienschicksale und Tabus und nehmen dabei gar Aspekte unter die Lupe, für die die Wissenschaft kein methodisches Rüstzeug besitzt.
Ein Beispiel. Wer kann auf die heikle Frage antworten, was nach Kriegsende, da alle in Ost und West plötzlich entweder Opfer oder Widerständler waren, mit der durchaus fortdauernden Verehrung für Partei, Führer und Vaterland passiert ist. Nun, Georg M. Oswald zum Beispiel kann. In „Das Loch“ erzählt er, wie sein Onkel Otto beim Anrücken der Amerikaner SA-Uniform und Parteiabzeichen in einer hastig ausgehobenen Grube versenkt – einzig „Mein Kampf“ überlebt im Geschirrschrank.
In Corina Waffenders Geschichte „Blut stinkt“ lebt ein „Kind“ bei seinen Großeltern wie in einer versunkenen Welt, in der der herbe Landserton des Stiefopas – der echte ist, natürlich, in Rußland gefallen – den Marschschritt vorgibt, zu dem das Kind schließlich mit Stahlhelm und Eisernem Kreuz durchs Wohnzimmer paradiert. Wer kann solche Geschichten heute guten Gewissens, persönlich reflektiert und nur gelegentlich etwas zu stark stilisiert, zum besten geben, wenn nicht die Schriftsteller, die genügend Abstand zu den Dingen haben?

Was wissen die Enkel?

„Die Enkel wollen es wissen“, verheißt die Rückseite des Buchumschlags. Das ist falsch und richtig zugleich. Einerseits sind nicht wenige Erzählungen des Bandes der unbefriedigenden Tatsache gewidmet, daß die Nazivergangenheit in der DDR und auch noch in der BRD nach ’68 ein Tabuthema geblieben ist. In Leander Scholz’ recht gegenwartsbezogener Geschichte weiß eine ganze Familie nicht, wie sie mit der plötzlichen Beichte des knorrigen Großonkels umgehen soll, er sei bei der SS gewesen. „Wir Kinder, wir Nachkommen, wir Geiseln im Dienste von ‚Nie wieder Krieg‘ um des lieben Friedens willen“ – Annett Gröschner umreißt mit diesen Worten den Ansatzpunkt, von dem aus das Unbehagen gegenüber der jüngsten Geschichte angegangen wird.
Auf der anderen Seite zeigen die Beiträge des Buches, daß es heute nicht mehr um das gehen kann, was wirklich geschehen ist – um das, was die Enkel der Zeitzeugen nicht mehr verstehen, das, was deren Kinder nicht akzeptieren wollen, und zugleich das, worüber die Alten selber niemals reden können. Darum sehen die Herausgeberinnen ihr Buch auch nicht als „Sprachrohr einer vermeintlich homogenen ‚Enkelgeneration‘“, sondern orientieren sich eher Harald Welzers Studie zum Familiengedächtnis, die 2002 unter dem bezeichnenden Titel „Opa war kein Nazi“ (Fischer TB 15515) erschienen ist.
Es ist egal, was eigentlich gewesen ist – das ‚Reden über‘ wird zum einzig möglichen Modus. „Na, ist doch so“, schildert Opa Georg in Michael-André Werners Erzählung „Schwarzwälder Kirsch“ seine Eindrücke beim Einmarsch der Sowjets. „Die Russen waren doch alles Tiere. Die kamen doch aus der hintersten Ecke, Halbwilde aus irgendwelchen sibirischen Wäldern. Die wußten nicht mal, was ein Klo ist oder wie elektrisches Licht funktioniert. Hat Vater später ja auch immer gesagt, als er aus dem russischen Lager kam.“
Man darf eben nicht vergessen, daß auch für die meisten Autoren der Ansatzpunkt zunächst einmal in der Familie gesucht wird. Es geht dabei weniger um Fragen der Schuld als darum, daß es auch für die Zeitzeugen nur ein begrenztes Reservoir an Sprechmöglichkeiten gibt. Das bedeutet aber auch, daß das Unbehagen vielleicht niemals wirklich abgebaut werden kann.
Die Verwirrung auf seiten der Enkel ist denn auch dort am größten, wo das, was man über die Vergangenheit zu wissen glaubt, ins Wanken gerät. „Mich beschleicht das Gefühl, in dieser Nazihippiehöhle festzustecken, wo alles verwischt, alles verschwimmt, was Gültigkeit besitzt.“ Soweit der Ich-Erzähler in Michael Weins’ Erzählung „Das blaue Licht“, als er bei einer Hippieoma Dope kaufen will und beim Verkaufsgespräch in der Wohnung der Alten feststellt, daß sie nicht nur Leni Riefenstahl verehrt, sondern auch, trotz „Ho, Ho, Ho-Chi-Minh“ und Ostermärschen, einmal Mitglied der NPD gewesen ist.

Keine Frage der Nähe zum Geschehen

Die Beiträge des Bandes sind um drei Oberbegriffe, „Spurensicherung“, „Frontverläufe“ und „Nachbeben“, gruppiert, die auf die Nähe zum Ausgangsereignis, dem Krieg, abheben. Aber obwohl die Geschichten sich teilweise bis auf Tuchfühlung den Ereignissen selber annähern, wird Faktizität geradezu instinktiv vermieden. Selbst Jörg Bernig, der – durchaus nicht unproblematisch – immer mit dem Dresden-Trauma im Hintergrund seine Erzählung in dem Moment ansetzt, da die Kapitulation seiner Heimatstadt W. scheitert, bleibt in der Möglichkeitsform, denn den Parlamentär „Soundso gab es nicht“.
Arne Rautenberg hingegen kleidet seine Erzählung vom heimkehrenden, kriegsversehrten Großvater in eine knappe, aber kunstvolle Familiensaga. In Karin Dorns Erzählung „Memory“ ist es nurmehr ein bestimmter Blick, der eine Frau und einen Mann zueinander führt. Wie sie verwundert feststellen, haben ihre Väter durch Flucht und Vertreibung ähnlich Schreckliches erlebt – ein Wissen, das sich jedoch in einer Weise tradiert hat, daß die Beziehung der beiden am Ende scheitern muß.
Am stärksten sind die Geschichten, in denen die Erzähler ihre eigene Position, ihr Unverständnis und ihre Einwände mit ihrer ganz persönlichen Poetik und Dramaturgie angehen. Bei Tanja Langer steht das Poetische ein wenig zu sehr im Vordergrund; ihre Erzählung „Ruf und Gegenruf“ von der verschwundenen Mutter erinnert allerdings an Tanja Dückers Roman Himmelskörper, in dem auch die – heimatvertriebene – Mutter die große Unbekannte bleibt. Dückers greift mit ihrer kunstvollen, im Protokollstil gehaltenen Geschichte „Der Leuchtturmwärter“ selbst ein Grundmotiv aus ihrem Roman auf: die Versenkung der Flüchtlingsschiffe vor der polnischen Küste.
Als gelungensten Beitrag des Bandes kann man aber wohl Verena Carls Erzählung „Schlachtensee“ betrachten. Sie handelt von einer jungen Architektin, die sich auf dem Weg zum Flughafen an der gleichnamigen Berliner S-Bahn-Haltestelle an ihren Großvater, einen Ingenieur von Albert Speer, erinnert. Und auch das Foto von der Großmutter, die sich an der nämlichen Haltestelle mit ihren beiden Töchtern, darunter die Mutter der Architektin, ablichten ließ, geht ihr nicht aus dem Sinn. Bei Carl merkt man, wie gerade die Mischung aus der Imagination einer Vergangenheit, die für immer verloren ist, und den ganz gegenwärtigen Problemen einer jungen Frau, die gerade im Begriff ist, ins unbekannte Stadt New York umzuziehen, erzählerische Intensität gewinnt – besonders dort, wo ihre Heldin daran scheitert, ihrem New Yorker Geliebten ihre Gedanken um die problematische Vergangenheit ihrer Familie klarzumachen. „Denn der Großvater meines Großvaters ist nicht auf einem Sklavenmarkt verkauft worden. Und meine Großmutter hat auch nie im hinteren Teil eines Busses sitzen müssen, weil der vordere für die Herrenmenschen reserviert war.“

Eines Woody Allen würdig

Es ist ein interessanter Zufall, daß gerade diejenigen Erzählungen, die das ernste Thema des Buches mit Humor angehen, mit dem jüdischen Erbe hantieren. So bildet sich Norbert Krons Protagonist Krohn ein, daß seine Therapeutin Jüdin sei – ja er begehrt sie regelrecht als solche und verstrickt sich in eine psychoanalytische Selbstzerstörung, die eines Woody Allen würdig ist. Vladimir Vertlib, selbst Jude, läßt seinen Helden vor einer österreichischen Zivildienstkommission antreten – und Thomas Bernhard läßt grüßen, wenn der Richter den jungen Blum mit der Frage aus der Fassung bringt, ob sechs Millionen getötete Juden nicht genug seien.
Ein echtes Schelmenstück, politisch unkorrekt und witzig, ist Norman Ohlers Geschichte von einem jungen Deutschen, der in einem New Yorker Edelpuff einen Job findet, bei dem er hinter einem „Schwarzen Vorhang“, so der Titel der Erzählung, sitzt und den Gästen zur Stimulierung deutsche Texte vorliest. Erst später findet er heraus, daß es sich bei diesen Gästen um gut betuchte, orthodoxe Juden handelt.
Es ist müßig, an einer Anthologie, auch wenn sie noch so gut komponiert ist, Stringenz und Geschlossenheit zu loben – letztlich bleibt eine solche Sammlung höchstens eine Einführung in ein Thema, das auch die jüngeren Generationen nicht kalt läßt, eine Einladung zum Weiterlesen. Daß die Herausgeberinnen, obwohl sie betonen, daß es ihnen nicht auf die Bekanntheit ihrer Autoren ankam, trotzdem auf professionelle Schreiber zurückgriffen, die vielfach schon mehrere Erzählungsbände und Romane veröffentlicht haben, kommt „Stadt Land Krieg“ sehr zugute.
Denn eines zumindest haben die 22 Texte geschafft, wenn man das Buch aus der Hand legt: sie haben dem Unbehagen an der deutschen Vergangenheit einen ansprechenden, modernen Ausdruck verliehen. Und das ist letztlich mehr, als alle Jörg Friedrichs und Guido Knopps je zu bewirken vermögen.


p.w. – red. / 24. August 2004
ID 1208





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