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Rezension

Slavenka Drakulic: Keiner war dabei. Kriegsverbrechen auf dem Balkan vor Gericht.

Deutsch von Barbara Antkowiak, Zsolnay
Wien 2004, 196 S., € 17,90
ISBN 3-552-05290-9


Da sitzen sie also, die Freischärler, Plünderer und Vergewaltiger, Drahtzieher, Oberbefehlshaber und ein Staatschef, im Saal des Internationalen Gerichtshofes für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien (ICTY) von Den Haag. Jene Menschen, die in den Neunzigerjahren unsere Fernsehstuben allabendlich mit Nachrichten von ihren Gräueltaten auf dem Balkan überfluteten. Damals gab es – dies zur Erinnerung – zwei Reaktionen darauf: Während sich die einen kopfschüttelnd fragten, wie so etwas mitten in Europa am Ende des 20. Jahrhunderts noch möglich sei, wussten die anderen gleich die Antwort: es ist eben der Balkan; das Böse ist dort zu Hause.

Da sitzen sie nun, die Kellner, Automechaniker, Polizisten, Berufsoffiziere und Politiker, vor den Richtern, die die Schuld der Täter zu ermessen trachten. Und nun, da das Böse von einst beginnt, ein Gesicht zu bekommen, da die Opfer endlich die lange ersehnte Gerechtigkeit erhalten, nun interessiert es plötzlich niemanden mehr. Die Gerichtsverhandlungen finden vor leeren Publikumsrängen statt, die Medien stellen ihre Kameras und Mikrophone nur dann auf, wenn Strafen verkündet werden. So sehr die Aufarbeitung dieses düsteren Kapitels der Zeitgeschichte in den Medien auch verlangt wird – in Wirklichkeit ist die juristische Wahrheitsfindung nicht medienattraktiv.

In den Ländern des ehemaligen Jugoslawien hingegen wird der Prozess medial akribisch genau verfolgt. Dabei liegt der Fokus allerdings weniger auf den juristischen Inhalten, da die Institution des Gerichts von der breiten Mehrheit von vornherein abgelehnt wird. Eine Haltung, die tief blicken lässt in das Verständnis von Gerichtsbarkeit auf dem Balkan; eine Haltung, die kein Schuldeingeständnis der Täter kennt. Haben sie sich während des Krieges zu einer Propagandamaschinerie umfunktionieren lassen, so bilden die dortigen Medien heute eine breite Plattform für Stimmungsmache gegen das Gericht, wodurch die Mörder von einst zu den Helden von heute stilisiert werden. Über Untaten wird hingegen geschwiegen.

Die kroatische Schriftstellerin und Essayistin Slavenka Drakulic hat die Täter im Gerichtssaal von Den Haag also fünf Monate lang ungestört beobachten können. Daraus ist ein Buch mit elf, dem deutschen Zeitungspublikum zum Teil schon bekannten Täterporträts entstanden. Es ist geschrieben gegen die Ignoranz in Europa und gegen die Vertuschung auf dem Balkan. Obwohl Drakulic dem russischen Schriftsteller Warlam Schalamow („Geschichten aus Kolyma“) beipflichtet, dass das Vergessen es Menschen ermögliche zu überleben, und obwohl sie glaubt, das Vergessen sei das notwendige Mittel der mentalen Gesundheit und des Selbsterhaltungstriebs, hält es Drakulic für geboten, das Geschehene zur Sprache zu bringen – weil jedes Schweigen darüber den ersten Schritt zur Verklärung und zur Mythenbildung bedeutet. Welch fatale Folgen dies haben kann, hat eben die Erinnerungskultur im sozialistischen Jugoslawien gezeigt, in der sich das private Schweigen mit der offiziellen Version des Partisanenkampfes im Zweiten Weltkrieg mischte. Auf diese Weise ebnete sie den Weg in den Bürgerkrieg.

Über die Notwendigkeit der Erinnerung an den Krieg hinaus stellt Drakulic eine weitere Frage ins Zentrum ihres Buches. Was sind die Beweggründe der gewöhnlichen Menschen, der anständigen Bürger, in ihren Nachbarn und Kollegen von einst auf einmal Feinde zu sehen? Wie ist es möglich, dass Hass, Demütigung und Brutalität zum Normalverhalten werden, ja überhaupt, dass sich Menschen in Mörder verwandeln? Die Autorin ist sich bewusst, dass sie es mit einem alten Rätsel zu tun hat, und sie verweist daher mit Raul Hilberg, Theodor W. Adorno, Zygmunt Bauman, George Steiner, Christopher R. Browning und Victor Klemperer auf eine ganze Bibliothek zu diesem Thema. Aber wie das Verbrechen zum Menschen gehört, so ist es auch normal, es verstehen zu wollen.

Und doch ist Drakulics Buch keineswegs noch eines in der Reihe der schon bekannten Versuche, sich diesem Thema zu nähern. Ihr Zugang ist weniger wissenschaftlich als der der genannten Autoren, dafür aber nicht minder überzeugend. Als streitbare Essayistin verfügt die Autorin über das Instrumentarium der nüchternen Analyse und als Schriftstellerin setzt sie zugleich auf einfühlsame Beobachtung. Für den Leser macht sich außerdem der biographische Hintergrund der Autorin bezahlt, die in einer Offiziersfamilie aufwuchs. Denn das Einfühlungsvermögen, das nötig ist, um die Täter verstehen zu können, stellt sich erst dann ein, wenn man mit ihnen die gemeinsame Erfahrungswelt teilt. Drakulic schreibt, notgedrungen, aus der Perspektive der teilnehmenden Beobachterin.
Denn „Beobachten“ ist ein Teil der Methode, die Taten der Angeklagten und damit auch den Menschen in den Tätern zu erkennen. Minutiös registriert die Autorin während der Gerichtsverhandlungen jede Regung der Angeklagten, ihre Handbewegungen oder Mimik, auch ihre Kleidung oder ihre Frisuren. Manche gehen sorglos mit ihrem Äußeren um, andere wiederum strahlen großes Vertrauen aus, wie jene Gruppe von drei Männern um die vierzig, angeklagt wegen Vergewaltigung. Nun sitzen sie da vor den Richtern, die eine fremde Sprache sprechen, die teilweise schwarz sind, nicht selten auch Frauen, und die nun über sie urteilen wollen. Zwar antworten die Männer artig auf alle Fragen, oft sie sind aber nur gelangweilt und wirken verloren im Gerichtssaal.

Um dies zu erklären, dringt Drakulic, von der bloßen Beobachtung ausgehend, in tiefere Schichten vor. Wie in einem Puzzle setzt sie einzelne soziale, kulturelle oder politische Elemente zusammen, die auf die Formung des Weltbildes der Menschen im ehemaligen Jugoslawien Einfluss genommen haben. So weiß sie zum Beispiel, dass der ganze Prozess, die Hartnäckigkeit der Richter, die Langwierigkeit des Prozederes auf diese drei Angeklagten irreal wirken muss. Das liegt auch daran, wie die Autorin ahnt, dass die Männer Bilder aus amerikanischen Anwaltsserien vor Augen haben, die in den Achtzigerjahren im jugoslawischen Fernsehen liefen, wo alles viel schneller, glatter und pompöser vonstatten geht. Das mag vielleicht ein trivialer Zusammenhang sein, in die bisherigen Darstellungen des Balkankriegs ist er aber wohl kaum ernsthaft mit einbezogen worden. Vor allem hebt sich die Autorin dadurch von den gängigen kulturologischen Typisierungen ab.

Durch die Analyse der sozialen Milieus führt Drakulic dem Leser eine weitere Dimension vor Augen, was sich im Subtext zugleich wie eine Geschichte des sozialistischen Jugoslawien liest. So war Goran Jelisic, ein Altersgenosse der Tochter der Autorin, ein durchschnittlicher Schüler, der später das Automechanikerhandwerk lernte; er ist mit der jugoslawischen und der westlichen Popkultur aufgewachsen, spricht keine Fremdsprachen, ist nie im Ausland gewesen – aber von klein auf ein passionierter Angler. Eine Generation, sozialisiert in den Achtzigern, die relativ unabhängig vom Personenkult der Älteren aufwuchs. So einer musste also nicht unbedingt zum Verbrecher werden. Dennoch brachte Jelisic innerhalb von achtzehn Tagen mehrere hundert Muslime eigenhändig um.
Genauso wenig mussten die Täter der Generation der Autorin zu Mördern werden. Sie wuchsen in einer Zeit auf, als die patriarchalische Mentalität durch die sozialistische Modernisierung gebrochen wurde. Diese ermöglichte es Vielen, der Armut und dem Hunger in ihren Bergdörfern zu entkommen und in der Stadt eine Festanstellung als Kraftfahrer oder Kellner zu finden. Sie bekamen vom Staat eine Zweizimmerwohnung und brachten es zu einem Auto und zu Jahresurlaub am Meer. Ihre mitgebrachten Ansichten über Recht und Gerechtigkeit, über Berufsethos oder die Familie und die Rolle der Frau änderten sie jedoch nicht. Vielmehr mutierten sie unter dem Eindruck des neuen Wohlstands zu biederen sozialistischen Kleinbürgern. Davor waren auch die Eliten im Staate, etwa die Offiziere keineswegs gefeit. Wie im Falle von Ratko Mladic kann uns die Autorin als Offizierstochter unmittelbare Einsicht in die Denk- und Verhaltensstruktur dieser Tätergruppe gewähren.
Zwar sitzt Mladic (noch) nicht im Gerichtssaal von Den Haag, dennoch erreicht die Porträtkunst der Autorin im Kapitel über den bosnisch-serbischen General ihren Höhepunkt. Viele Gesichter hat er, der charismatische Armeeführer, der wie ein Herzinfarktkandidat aussieht. Das eines Mannes, der schon zu Lebzeiten ins Pantheon der serbischen Heiligen gehoben wird, der sich nichtsdestoweniger der Lüge mit beispielloser Dreistigkeit bediente. Als autoritärer Familienvater duldet er keine Gegenrede. Antworten werden durch Anschreien ersetzt, Befehle zu erteilen, hält er für die normale Form, ein Gespräch zu führen. An dieser Stelle führt uns die Autorin in die Innenwelt von Vater und Tochter ein, die nach dem Abendessen das Lieblingsspiel des Generals, „Schiffe versenken“ spielen. Es wird die eisige Atmosphäre in der gemütlichen Stube nachgezeichnet. Mit großer Empathie denkt sich die Autorin in die unausgesprochenen Gedanken der Tochter hinein – ‚mein Vater als Schlächter von Bosnien‘. Ihre Gefühle des Ekels und der Verzweiflung, die nach außen drängen, können, nachdem sie sich unter Vortäuschung von Kopfschmerzen in ihr Zimmer zurückgezogen hat, ihre Entladung nur in einem Kopfschuss aus der Pistole des Vaters finden.

In nüchtern-distanzierten Beschreibungen von Ereignissen wie etwa dem realen Selbstmord von Mladics Tochter versucht Drakulic den Menschen im Augenblick der Entscheidung für eine Tat oder die Tat selbst zu vergegenwärtigen, was höchst dramatische Momente hervorbringt. Problematisch an dieser höchst gelungenen Schilderung ist nur, dass die Autorin, da sie Mladic bescheinigt, sich seiner Rolle beim Freitod seiner geliebten Tochter nicht bewusst zu sein, diesem unabsichtlich eine Aura des Tragischen verleiht.
Weil sich Drakulic den Menschen über das Milieu annähert, aus dem sie kommen, kann also von „dem“ Täter keine Rede sein. Aber so scharfsinnig und facettenreich ihre Milieuanalysen auch sind, weder sie noch die Einfühlung in die Innenwelt der Täter kann eine Erklärung für ihre Untaten liefern. Und was sagen die Täter selbst? Können uns ihre Reaktionen bei der Konfrontation mit ihren Untaten oder den ehemaligen Opfern weiterhelfen? Wohl kaum. Stattdessen macht der Leser hier eine andere Entdeckung. Nicht nur, dass die Täter jede Schuld von sich weisen, sondern sie sehen in ihren Taten keine Untaten. Gemessen an der herrschenden Meinung von dort, woher sie kommen, konnten es die Angeklagten nicht fassen, dass, was sie getan haben, überhaupt Vergewaltigung und damit ein Verbrechen ist. Und nachdem sie dennoch zu mehrjährigen Strafen verurteilt worden waren, konnten sie sich nur die Frage stellen: Warum wurden nur wir so hart bestraft und nicht auch andere? Warum waren wir überhaupt so dumm, uns festnehmen zu lassen?

So hat Drakulic in ihrem Buch auf der Suche nach einer Erklärung für die Verbrechen auf dem Balkan die Psychogramme von Menschen gezeichnet, die kaum Schuld und Sühne kennen. Und deswegen erweist sich der Titel des Buches auch als irreführend. Denn konfrontiert mit den Tatsachen leugnen die Täter ihre Untaten nicht – sie sind sich ihrer Schuld gar nicht erst bewusst, vor allem weil diese Untaten für ein höheres Ziel begangen wurden. Nach dieser Logik ist Ablehnung von Den Haag also nur konsequent. Je aufmerksamer Drakulic die Gefangenen von Den Haag beobachtete, je schärfer sie ihre Biographie analysierte, je tiefer sie in ihre Gefühlswelt eindrang, desto mehr entdeckte die Autorin in den Angeklagten normale Menschen und keine Ungeheuer. Die Monstrosität liegt vielmehr darin, dass Brutalität eher eine Frage der Umstände als des Charakters ist, dass offenbar jeder dem Hassbazillus gegen andere anheimfallen und zum Mörder mutieren kann. „Sie könnten keiner Fliege etwas zuleide tun“, der serbokroatische Originaltitel, nach dem sich auch die englische Erstpublikation „They would never hurt a Fly. War Criminals on Trial in The Hague“ richtet, drückt diese zentrale These des Buches darum auch genauer aus als der deutsche. „Keiner war dabei“ ist vielmehr als ein Reflex auf die deutsche Diskussion um die Nazi-Verbrechen zu verstehen, was den Unterschied zur Aufarbeitung des Jugoslawien-Krieges eher verdeckt als hervorhebt.

Das Böse ist für Drakulic nicht ausschließlich männlich, dafür stehen die Porträts von zwei Frauen. Und genauso wenig ist das Böse eine Spezialität des Balkans. Dabei lehnt die Autorin die These von der Kollektivschuld für Gräueltaten ab: Gerade das Tribunal steht für eine Individualisierung der Schuld. Das heißt aber nicht, dass die Nationen von ihrer politischen und moralischen Verantwortung für Kriegsverbrechen freigesprochen werden können, oder wie es kürzlich Alfred Grosser formuliert hat: Jedes Verbrechen unterliegt der kollektiven Haftung. Drakulic liefert in ihrem Buch eine plausible Analyse und ergreift doch Partei. Engagiert verteidigt sie eine klare moralische Position, ohne indes pathetisch-moralisierend zu werden.

Man kann sich an Drakulics Verständnis von Wahrheit stören, die sie mit der Feststellung der Tatsachen mit juristischen Mitteln verwechselt; man kann auch ihren Glauben bezweifeln, dass die Aufdeckung der Tatsachen unmittelbar zu moralischer Einsicht führt. Man kann sogar ihren aufklärerischen Enthusiasmus, dass auf Wahrheit Gerechtigkeit folgt, als naiv bezeichnen – letztendlich hat sie selbst die Macht der Vorurteile, Emotionen und Ideologien nachdrücklich dargestellt. Man kann schließlich angesichts der Tatsache, dass die einstigen Todfeinde heute im Scheveninger Gefängnis wieder in „Einheit und Brüderlichkeit“ zusammen leben, mit der Autorin Wut und Resignation teilen und mit ihr zu der traurigen Erkenntnis kommen, dass zweihunderttausend Menschen umsonst gestorben sind. Ermutigend ist aber, dass so ein Buch trotzdem, dass es überhaupt geschrieben wurde – obwohl es in den ehemaligen Kriegsgebieten totgeschwiegen wird.


Jovica Lukovic, 7. April 2005
ID 1863


Siehe auch:
www.hanser.de




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