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Rezension

Iwona Mickiewicz (Hg.) - "Die neuen Mieter"

Fremde Blicke auf ein vertrautes Land. Mit einem Vorwort von Richard Wagner
Aufbau Taschenbuch Verlag, Berlin 2004
203 Seiten, 7,50 Euro [D]
ISBN 3-7466-2092-0


Mit ethnographischem Blick

Man könnte meinen, Berlin existiere gar nicht wirklich. Man könnte auch behaupten, es sei eine hartnäckige Projektion der vielen, weitgereisten Menschen, die dort leben. In der Erinnerung an die jahrzehntelange Teilung könnte man die Stadt gar als gigantischen Truppenübungsplatz, als postnationalistisches Raumschiff betrachten, nicht ganz von dieser Welt. Und so ganz falsch läge man damit sicher nicht.
Woran mag das liegen? Vielleicht daran, daß dieses zwischen Spree und Havel gebettete Stadtgewächs seine atemberaubende Vitalität in den letzten hundert, zweihundert Jahren vor allem aus den unendlichen Strömen von Menschen destilliert hat, die sich dort niedergelassen, eingemietet, ja geradezu eingegraben haben?
Doch geht es in dem schmalen Bändchen, das die Schriftstellerin und Übersetzerin Iwona Mickiewicz jüngst beim Aufbau Taschenbuch Verlag herausgegeben hat, überhaupt um Berlin? Die Antwort lautet: Ja und nein. Der Titel der Anthologie, „Die neuen Mieter“, bezieht sich zunächst einmal darauf, daß alle der dreizehn Autoren sich in einer neuen Umgebung niedergelassen haben. Sie stammen aus Gegenden, die im Osten und Südosten Europas liegen. Sie alle haben diese Gegenden aufgegeben und sich im deutschen Wohn-, manche sogar im deutschen Sprachraum eine neue Heimat gesucht.
Erfindung von Heimat
Und von Heimat und Verlust handelt dieses Buch, von den Erfahrungen der Fremde und zugleich ein wenig von den Nachwehen der charakteristischen Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts, die auch nach seinem Ende fortbestehen. Kein Wunder vielleicht, daß Bora Cosic, der jugoslawische Altautor, sogar in einem Laden „an der Ecke Clausewitzstraße“ die „Endlösung“ ausmachen will, auch wenn es nur um Blumen geht.
Es ist immer schwierig, den Vielklang, den eine Textsammlung produziert, zu bündeln. Das geschieht in der literarischen Auseinandersetzung mit der neuen Umgebung – und die heißt, in den meisten Fällen zumindest, tatsächlich Berlin. Es ist eine Umgebung, die nicht freundlich auftritt. Wer Greta Nüßings Bericht über ihre erste Stellensuche im neuen Land liest, ihre Euphorie, die herbe Enttäuschung und schließlich das kleine Glück, als ausgebildete Akademikerin wenigstens einen Putzjob ergattert zu haben, dürfte über Stammtischmeinungen erhaben sein. Hier schreibt kein erfundener persischer Gesandter amüsant und kritisch über die putzige Pariser Gesellschaft wie weiland Montesquieu in seinen „Lettres persanes“. Diese Erfahrungen sind deshalb echt, weil sie gemacht wurden.
Doch wer von den „neuen Mietern“ schlichte reality erwartet, sollte das Buch besser gar nicht erst in die Hand nehmen. Der Spiegel, in den man beim Lesen mancher Texte zu blicken meint, ist eher ein Nebenprodukt. Trotz kathartischer Effekte geht es den Autoren vor allem um die poetische Verarbeitung ihrer Erfahrungen. „Städte und Jahre. Das sind die realen Kriterien des menschlichen Seins“, schreibt Alla Kisseleva schwärmerisch in einem gedankenverlorenen kleinen Essay, in dem sie das aktuelle Leben in Berlin mit Bildern aus ihrer Jugend anreichert, mit Erinnerungen an Moskau, Tallinn, Sotschi.
„Du bist aber keine Urdeutsche?“
Andere Autoren sind ganz konkret mit der Herstellung von Heimat befaßt. Maria Kolenda etwa in ihrer gelungenen Posse „Der Knochen“, in der die endgültige Integration in die dekadente Zielgesellschaft an einem verschluckten Hühnerknochen hängt, oder auch Viktoria Korb in „Leben mit 68ern“, ihrem über 30seitigen Studententagebuch aus Schlachtensee. Selbstverständlich wird die Autorin wegen ihrer leicht verschobenen, polnischen Perspektive von den Kommilitonen auf ihre „Urdeutschheit“ geprüft, wie sie am 20. April 1971 notiert:

"Er fragt mich, welcher Nationalität ich bin. Ich sage: ‚dem Paß nach eine Deutsche.'
Er fragt: ‚Du bist aber keine Urdeutsche?'
‚Nein', gebe ich zu."

Wenn die meisten Autoren auch kaum beim naiven „Woher kommst du?“ stehen bleiben, so wird doch sehr bald deutlich, daß die eigene Herkunft sich unmöglich abstreifen läßt. Und dabei ist es ganz gleich, ob sich nun Andrea Clucerescu „achtundzwanzig Jahre später“ von der Erinnerung an eine rumänische Weinlese in den Bann schlagen läßt oder ob sich die Ich-Erzählerin in Irena Vrkljans „Briefen an eine junge Frau“ trotz der Tristesse ihrer Jugend im Nachkriegs-Jugoslawien, die sie beschreibt, nicht an das Leben ihrer Adressatin in der fernen Großstadt gewöhnen kann.
Hofnarr vs. Papalagi
Es sind tatsächlich, wie es schon der Untertitel verspricht, „fremde Blicke“ auf das Eigene. Aber es läßt sich bereits erahnen, wie weit es mit der „Vertrautheit“ des Eigenen her ist. Darüber hinaus aber wird ganz offensichtlich, daß mit diesen fremden Blicken zunächst einmal niemand rechnet. Das ist das Dilemma, in dem alle Autoren gemeinsam stecken.
„Plötzlich hat die eigene Sprache kein Territorium mehr“, analysiert der Schriftsteller Richard Wagner – ein Landsmann von Clucerescu – in seinem klugen Text „Bleiben und Schreiben“ über das „osteuropäische Berlin“, der der Sammlung vorangestellt ist. Ob die Autoren ihre Muttersprache beibehalten, ob sie sie gegen die der neuen Umgebung eintauschen sollen oder ob, wie in Wagners Fall, die alte mit der neuen identisch ist – verständlich machen können sie sich nicht. Der Emigrant als „wilder Südseehäuptling, der vom komischen weißen Papalagi erzählt“, hat dem Einheimischen, welcher „wiederum meint, sich den Zugereisten als Hofnarren halten zu können“, einfach nichts zu sagen. Und umgekehrt.
Dafür ist Bora Cosics kleine, bereits 1996 auf Deutsch erschienene Erzählung „Der neue Mieter“, die für das Buch Stichwortgeber war, ganz typisch. In ihr sieht sich nämlich der Ich-Erzähler als Berliner Nachmieter des polnischen Journalisten Ryszard Kapuscinski ständigen Anrufen und Nachfragen ausgesetzt, die zu immer absurder werdenden Mißverständnissen führen. „Was ich denn sonst sei, wenn nicht Pole? Ich sage, daß ich aus einem Land komme, das es nicht mehr gibt und demnach die Frage nicht exakt beantworten kann.“
Aus einem Land, das es nicht mehr gibt
Das zerbrochene Jugoslawien ist besonders in den Gedichten im letzten Teil des Buches anwesend. „Ich komme nicht mehr in die Stadt, / weil ich die Menschen an ihr hundertjähriges Unglück erinnere“, schreibt die Slowenin Maruša Krese. In dem beinahe zynischen Gedicht „Die Reise nach Paris“ umschreibt der Bosnier Stevan Tontic dieses Unglück mit dem Wörtchen „sogenannt“: die Intellektuellen – darunter er selbst –, der Bürgerkrieg, Frankreich, Europa – sie alle sind „sogenannt“, stellen keine Realitäten dar, sondern allenfalls Begriffe zur Verfügung.
Doch mit diesen Worten über das eigene Elend, über Krieg, Exil, ja Verbannung zu sprechen, bleibt vergeblich, und deshalb sind diese Gedichte so wichtig für „Die neuen Mieter“. Es geht in ihnen auch nur nebenbei um die Projektionsfläche Berlin – obwohl viele der Texte ohne das Engagement des dortigen „südost Europa Kultur e.V.“ kaum in die Anthologie Eingang gefunden hätten. Da die „Verortung“ kein Territorium mehr findet, muß sie eben aus der literarischen Tradition gewonnen werden, aus dem mitteleuropäischen Geist eines Danilo Kiš, wie er einem aus Bora Cosics „Leben in der Redaktion“ entgegenfunkelt:

... Giacomo Joyce beinah blind
irrt herum zwischen den Tischen
tastet mit den Händen
sucht die Korrekturen
so vergeht ein ganzes Jahrzehnt
dann im Jahr 1957 oder 1958
kommt Samuel Beckett zu uns in den dritten Stock
aber nicht als Geist sondern lebendig
bringt wichtige Dokumente
Bestätigungen daß wir nicht verrückt sind
...
da steht es schwarz auf weiß
ein Teil des europäischen Erbes
steht uns zu


Neue Seelenlandschaft des Exils
So ergeben denn die Erzählungen, Aufsätze und Gedichte dieses Bändchens einen vorsichtigen, unaufdringlichen und doch eindrücklichen Überblick über die verborgene Seelenlandschaft des Exils, die sich im zeitgenössischen Berlin, synonym für alle Migrantenstädte, ihre Nischen sucht. Damit gewinnen die Autorinnen und Autoren, wiewohl viele von ihnen schon lange in Deutschland und auch im deutschen Literaturbetrieb beheimatet sind, einen Teil des verlorenen Terrains für sich und ihre Arbeit zurück.
Der einzige Mißgriff bei „Die neuen Mieter“ besteht vielleicht darin, daß Richard Wagners Essay an den Anfang gestellt wurde. Er ist mehr als eine Einleitung, seine Gedanken machen nicht nur neugierig, sondern nehmen den nachfolgenden Texten fast ein wenig den Wind aus den Segeln. Gleichwohl ist der „ethnographische Blick“, wie ihn Wagner vorschlägt, die beste Gebrauchsanweisung. Wer es versteht, ihn sich zueigen zu machen, wird, auch nachdem er das Buch zugeklappt hat, mit neuen Augen durch die Welt laufen.

p.w. – red. / 31. Januar 2005
ID 1582
Mit Beiträgen von Andrea Clucerescu, Bora Cosic, Otto Horvath, Alla Kisseleva, Maria Kolenda, Viktoria Korb, Maruša Krese, Iwona Mickiewicz, Jovan Nikolic, Greta Nüßing, Stevan Tontic, Richard Wagner und Irena Vrkljan.

Siehe auch:
http://www.aufbau-taschenbuch.de
http://www.suedost-ev.de




Literatur siehe auch:

Porträts

Literatur notiert
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siehe auch: Kinder- und Jugendbücher


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