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Brigitte Reimann/Irmgard Weinhofen

Grüß Amsterdam

Briefwechsel 1956-1973

352 Seiten
Preis: EUR 8,95
ISBN 3-7466-1937-8


erschienen im

Aufbau Taschenbuch Verlag

Februar 2003

"Liebes Irmchen, da hast du mir einen so langen und interessanten Brief geschrieben, und tatsächlich, ich bekomme Fernweh, wenn ich ihn jetzt wieder lese."
Es sind schlichte Worte, mit denen die junge DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann diesen Brief von Hoyerswerda aus an ihre in Amsterdam lebende Jugendfreundin beginnt, Worte, die nicht eben danach suchen, von einer großen Leserschar verschlungen zu werden. Und es sind einfache Briefe zweier junger Frauen, die gerade ins Leben eintreten und dabei sind, ihre Träume auszuleben. Aber es sind auch Briefe, die die Schizophrenie einer Freundschaft zwischen dem kulturellen "Hinterland" DDR und der freigeistigen Grachtenstadt widerspiegeln, Briefe, die auf dem Höhepunkt des Scheiterns, inmitten von Ehekrisen und wuchernden Tumoren, doch eine Innerlichkeit und Herzlichkeit gewinnen, die ihresgleichen sucht.
Über 80 Briefe und Postkarten hat Brigitte Reimann, vielversprechende Schriftstellerin einer jungen DDR-Generation und bis heute ein literarischer Geheimtip, über mehr als fünfzehn Jahre hinweg Irmgard Weinhofen, ihrer Freundin aus Kindertagen, geschrieben - zunächst nach Ostberlin, später nach Amsterdam, wo "Irmchen" seit 1963 mit ihrem Mann, einem Niederländer, lebte. Der Aufbau Taschenbuch Verlag hat zu Brigitte Reimanns dreißigstem Todestag am 20. Februar 2003 diesen Briefwechsel im Rahmen seiner Reimann-Reihe in einer schönen Edition herausgegeben.

"Grüß Amsterdam" dokumentiert zunächst einmal eine Unmöglichkeit, nämlich die, auch äußerlich aus einem Leben auszubrechen, das bestimmt war vom schriftstellerischen Engagement inmitten der steten Auseinandersetzung mit den Abuschs und von Kügelgens der bornierten Kulturkaste, die der jungen DDR-Literatur einen antitragischen Heldenrealismus verordneten. In den ersten Briefen, die von Mitte der fünfziger Jahre datieren, herrscht noch ein sorgloser Aufbruchston. Die beiden Frauen schreiben sich, um sich ihrer alten Kumpanei und einer gemeinsamen Erinnerung zu versichern. Reimann, die ihre erste Scheidung hinter sich hat, bezieht mit ihrem zweiten Ehemann, dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann, in Hoyerswerda eine Wohnung in der gerade entstehenden Wohnstadt für die Arbeiterschaft des Kombinats Schwarze Pumpe.
"Der Zug ist durch. Wir arbeiten jetzt auch direkt zusammen - wir schreiben an einem Hörspiel -, und das vertieft die Bindung noch. Wir sind endlich wieder auf einen steigenden Ast geklettert; jedenfalls scheint es so."
Die Briefe berichten von der Arbeit mit den Handwerkertrupps, von Geld- und Ehesorgen, aber sie schildern auch Reimanns Entwicklung zu einer Persönlichkeit, die 1961 mit der preisgekrönten Erzählung Ankunft im Alltag zur Sinnstifterin einer jungen Autorengeneration in der DDR wurde.
Resignation und Krise lassen nicht auf sich warten. Im März 1965, kurz nach ihrer Sibirienreise, stellt Brigitte Irmchen plötzlich Jon K., ihren dritten Mann, vor. "Wir sind sehr glücklich und so leidenschaftlich verliebt wie am ersten Tag", läßt sie die Freundin wissen. Doch die alte Zuversicht, etwas bewegen zu können, mit der sie seit 1963 an ihrem groß angelegten Romanprojekt Franziska Linkerhand (AtV 1535) arbeitet, weicht der zunehmenden Sehnsucht nach einem kleinen, behaglichen Ambiente. Sie betreibt ihren Umzug ins kleinstädtische Neubrandenburg, wo sie ab 1968 lebt.
Die Brieffreundschaft gewinnt an Intensität, je mehr die beiden Frauen auch ihre Beziehungskrisen in ihren Briefen ansprechen: Seit etwa 1968 hat Irmchen einen Liebhaber, und auch bei Brigitte ist die Ermüdung in der ohnehin auf räumliche Distanz fußenden Ehe mit Jon K. anzumerken: am Ende wird der einst so herzlich erwähnte Liebhaber mit Reimannscher Heftigkeit wieder vor die Tür gesetzt: "Ich wär ja kaputt gegangen bei dem Gezerre. Also, zum Teufel mit ihm!"

Es ist schwierig, bei einer Autorin wie Brigitte Reimann, deren vorzeitiger Krebstod 1973 zusammen mit ihrem Nonkonformismus zu ihrem Nachruhm beigetragen hat, nicht alles auf den finalen Wettlauf mit dem Tod zulaufen zu lassen. Dennoch: die stärksten Passagen von "Grüß Amsterdam" finden sich gerade in den letzten Lebensjahren Brigitte Reimanns. Zwar gewinnt die Krebserkrankung seit der ersten Operation 1968 an Einfluß in den Briefen, doch bleibt die damit einhergehende Todesangst zunächst als das "Andere" ausgespart. Der Alltag wird wichtig, geistige und materielle Wünsche wollen über die Systemgrenzen hinweg befriedigt werden. Während Brigitte bei Irmchen neue Bluesplatten von Jimmy Yancey oder Ella Fitzgerald bestellt, schickt sie ihrer Freundin im Gegenzug immer wieder die raren Bücher aus DDR-Produktion, darunter Christa Wolfs Nachdenken über Christa T., das bei seinem Erscheinen 1969 heftig kritisiert wurde. Wolf wurde in Brigitte Reimanns letzten Lebensjahren zu einer wichtigen Vertrauten, die sie in ihren Briefen immer wieder zum Weiterschreiben ermutigte. (Brigitte Reimann/Christa Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen 1964-1973, AtV 1532).
Auch nachdem man ihr 1968 eine Brust amputiert hat, ist von Bestürzung in den Briefen wenig zu spüren, eher die Befremdung sich selbst, ihrer beschnittenen Körperlichkeit gegenüber, die sie in kleine Alkoholexzesse und Affären treibt. Reimann versteht es sogar, ihre schwere Krankheit in die ihr eigentümlichen leichten Worte zu kleiden:
"Übrigens hat die Entfernung der Ovarien überhaupt nichts an meinen weiblichen Empfindungen geändert, bloß meine Stimme ist eine Oktave tiefer geworden, so daß ich am Telefon immer mit 'Herr Reimann' angesprochen werde; und außerdem ist mir ein flottes schwarzes Schnurrbärtchen gewachsen".
1970 lernt sie ihren vierten Ehemann, den Hygienearzt Rudi kennen, den sie im Frühjahr 1971 heiratet - obwohl sie sich gegenüber ihrer Irmchen als "perfekten Junggesellen" bezeichnet. Doch sobald sie weiß, daß die Krankheit unheilbar ist, bleibt auch für dieses Ehe kaum Zeit. Jedes Tröpfchen trinkt sie von nun an von ihrem Lebenselixier, der "Schreiberei". So schreibt sie im März 1972 an Irmchen:
"Diese Tage haben mich mächtig zurückgeworfen, ich war seelisch angeknackst, leide sowieso unter ständiger Versager-Angst, esse nichts mehr und bestehe bloß noch aus Zigaretten. Eine langsame, aber sichere Selbstzerstörung. Aber das begreift nur, wer selber schreibt,- diese Qual mit dem Buch, bei dem einem längst die Luft ausgegangen ist, der Termindruck, zu schweigen von den Schmerzen, die in letzter Zeit wieder ärger werden und mich nur allzu oft an das Gewisse erinnern."
Das Buch, Franziska Linkerhand, das wußte auch die Autorin, war nicht mehr zu beenden, auch da jegliche Identifikation mit ihrem Projekt durch Umzug, Scheidungen und Krankheit unmöglich geworden war. "Ich möchte ein böses Buch schreiben, ein trauriges Buch; und alles soll schlimm ausgehen", hatte sie noch wenige Jahre zuvor notiert. Daß sie diesen Faustschlag ins Gesicht der herrschenden literarischen Doktrin mit dem eigenen Leben quittieren würde, konnte sie wohl kaum ahnen.

Ein Vorzug der Briefausgabe ist, daß nicht nur die Schriftstellerin Brigitte Reimann im Vordergrund steht. Ihre Briefpartnerin ist ihr menschlich und stilistisch durchaus gewachsen. Aus der alten Kumpanei wird ein inniges Verhältnis. Brigittes Anerkennung für Irmgard, die in dem fremden, "kapitalistischen" Land das soziale Einmaleins neu lernen muß, sich wacker mit Jobs durchschlägt, nebenher studiert und unterrichtet und den schlaffen Ehegatten mitzieht, ist kaum zu übersehen. "Ich bewundere immer wieder Deinen Mut und Elan, mit dem du dich ständig auf neue Ziele stürzt", bescheinigt ihr Brigitte bereits 1959. Als die Freundin im fernen Amsterdam sich wegen einer längeren Affäre von ihrem Mann trennt, findet sie tröstende Worte: "sowas geschieht eben, wenn man verzweifelt ist, das kenne ich auch". Noch ein halbes Jahr später entlädt sich geballter Zynismus:
"Also schreien, sich besaufen, arbeiten bis zum Umfallen - und abwarten, den langen schmerzlichen Prozeß des allmählichen Vergessens. Wie sich unsere Geschichten gleichen, und die von Tausenden anderen! Variationen auf ein Thema."
In den letzten Lebensjahren reagieren die Briefe umgehend aufeinander, als hätten die Freundinnen Angst, zu spät zu kommen. Irmchen quittiert das zunehmende Vertrauen, das ihr Brigitte schenkt, auf ihre persönliche Art und Weise. "Du hast mir einen so wunderbaren, ergreifenden und von tiefer Menschlichkeit erfüllten Brief geschrieben", dankt sie Brigitte kurz nach Weihnachten 1968, "dass es mir beim Lesen Deiner lieben Zeilen nicht nur warm ums Herz wurde, sondern nach Beendigung eine nur uns Frauen eigene und ganz natürliche Reaktion hervorrief: Ich heulte wie ein Schlosshund."
Geheult wird in diesen Briefen immer wieder, an manchen Stellen ausgiebig. "Heul' nicht, es ändert nichts", schreibt Juergen, der Journalist und Intimus aus Brigittes letzten Jahren, kurz nach ihrem Tod nach Amsterdam, "sie würde sich bestimmt am meisten ärgern, wenn wir wie Trauerklöße durch die Gegend laufen."

Die Frage indes, warum wir vierzehn Jahre nach der Wende und dreißig Jahre nach Reimanns Tod ihre privaten Briefe noch einmal zur Hand nehmen sollen, ist nicht leicht zu beantworten. Obwohl Rolf Michaelis in der ZEIT vom 20. März 2003 eine Antwort versucht, indem er von der "gnadenlos ehrlichen Innenansicht der DDR" spricht, die die "kritische Sozialistin" Brigitte Reimann liefert, verliert er sich nur in Verallgemeinerungen: "Große Autorin? Eine wichtige Autorin für die deutsche Literatur - und Geschichte -, für unser Verständnis für DDR und Bundesrepublik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts."
Reimanns Briefe - und die ihrer Adressatin und ihrer Freunde, die ebenfalls Aufnahme in die Edition gefunden haben - sprechen zunächst einmal ihre eigene Sprache, die zum Lesen und zur Teilnahme herausfordert. Man sollte auch nicht vergessen, daß Reimanns tragischer Tod, wie man heute vielleicht sagen würde, literaturpolitisch nicht korrekt war. Diese Tragik lebte fort in dem Romanfragment Franziska Linkerhand, das postum von namhaften Kritikern wie Günter Ebert oder Annemarie Auer ungekürzt zur Publikation empfohlen wurde, obwohl darin einschlägige Tabus verletzt werden. Die leicht zensierte Ausgabe des Buches von 1973 wurde denn auch, wie die Angela Drescher, die Herausgeberin der Neuausgabe von 1998, schreibt, von ihrer Generation "aufgeregt und aufmerksam" gelesen, weil man noch nach "Identifikationsfiguren im eigenen Land" suchte. "Grüß Amsterdem" sollte man auch in diesem Zusammenhang lesen - und der ausführliche Apparat und das detaillierte Personenregister liefern dazu die wichtigsten Namen, Daten und Diskussionen aus der damaligen DDR.
Es ist ein persönliches Buch, das man sich erst ein wenig erschließen muß; dann aber gewinnt es eine Intensität, die ein gesamtdeutsches Publikum von heute durchaus zu fesseln vermag.

Patrick Wilden / 6. April 2003



 
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