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Rezension

PETR GINZ: Prager Tagebuch 1941–1942.

Aus dem Tschechischen von Eva Profousová, hrsg. v. Chava Pressburge
Berlin Verlag 2006. 187 Seiten, 19,90 Euro


Vexierbilder des Alltags zwischen Normalität und Schrecken:
Das „Prager Tagebuch“ (1941-1942) des jüdischen Jungen Petr Ginz

„Auf dem Zeugnis werde ich lauter Einsen haben“, schreibt ein 12-jähriger Junge stolz in sein Tagebuch. Seine Lehrerin, notiert er weiter, habe es ihm im Voraus erzählt, „damit ich es noch Oma sagen kann, bevor sie wegfährt“. Bei der Wegfahrt der Großmutter handelt es sich um deren drohende Deportation. Denn als der jüdische Junge Petr Ginz, der mit seinen Eltern in Prag lebt, diese Zeilen verfasst, schreibt man das Jahr 1942. Der nationalsozialistische Massenmord an der jüdischen Bevölkerung Europas ist bereits in die Wege geleitet. Petr selbst wird zunächst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz deportiert. Seine Schwester Chava Pressburger hat das Tagebuch ihres Bruders, das auf einem tschechischen Dachboden gefunden wurde, sorgfältig ediert und herausgegeben. Es stellt ein bewegendes Zeugnis jüdischen Alltags unter deutscher Besatzung dar und wurde schon mit Anne Franks Tagebuch oder den Tagebüchern von Victor Klemperer verglichen. Das Tagebuch von Petr Ginz hat jedoch einen ganz eigenen, einzigartigen Ton: Petr schildert seinen Alltag in knapp gehaltenen, lakonischen Sätzen. Oft notiert er einfach nur, dass er „vormittags zuhause, nachmittags draußen“ war. Auch Bedrohung und Gewalt werden in einer einfachen, nüchternen Sprache geschildert, Reflexionen eher ausgespart. So entstehen Vexierbilder, die hin- und herspringen zwischen einer bedrohten Normalität und alltäglichem Schrecken.

Petr beginnt sein Tagebuch, als die Diskriminierung der Prager Juden eine neue Stufe erreicht: „Es ist neblig. Die Juden müssen ein Abzeichen tragen“, so lautet der erste Eintrag vom 19. September 1941. Bald folgen Schlag auf Schlag neue antisemitische Erlasse, die Petr gewissenhaft aufzeichnet: „Vormittags in der Stadt. Ab heute Nachmittag um 3 Uhr dürfen die Juden keine Elektrische mehr benutzen“, notiert er beispielsweise, oder: „Gestern kam eine Mitteilung, dass […] jede Mundharmonika oder jedes andere tragbare Musikinstrument, alle Thermometer usw. wie auch Fotoapparate mit Zubehör abgegeben werden müssen.“

Die Diskriminierung mündet zunehmend auch in die Androhung physischer Gewalt und trifft Petr ganz direkt. So schreibt er im Juni 1942: „Wurde grob von einem Deutschen aus der Elektrischen herausgeschmissen. […] Musste daher im heftigen Regen zu Fuß bis zur Hilfsarbeiterstelle laufen.“ An anderer Stelle schildert Petr eine ebenfalls bedrohliche Situation im Zusammenhang mit dem Raub jüdischen Eigentums: „Nachmittags in der Stadt bei Orlický (Glasgeschäft) ließen die Arbeiter eine große Kiste […] Glas fallen und alles ging kaputt; ich sah zu, wie sie die Scherben hinaustrugen, aber ein Jude kam vorbei und sagte, ich solle lieber weggehen, es sei ein deutscher Laden und man könnte mich verprügeln. Das Geschäft hieß früher Ohrenstein & Orlický (ein Deutscher), aber der Deutsche hat dem Juden Ohrenstein den Laden weggenommen, und jetzt steht nur noch Orlický auf dem Firmenschild.“ Die Ungeheuerlichkeit dieser Alltagsgewalt wird zur scheinbaren Normalität. So notiert Petr: „Das was heute ganz gewöhnlich ist, hätte in einer normalen Zeit bestimmt Aufsehen erregt“.

Dennoch setzt sich für ihn auch der Alltag eines 12-jährigen fort: So finden sich Eintragungen zum „Knallstift“, den er einem Klassenkameraden anfertigt, Schulstreichen, der Tombola, die Petr für einen kranken Mitschüler veranstaltet; er bastelt sich eine Geige, er malt, liest Abenteuerromane und schreibt diese sogar selbst. Gerade das Nebeneinander einer fast unbeschwerten Weltentdeckung und des nüchternen Blicks eines Beobachters, der zu ahnen scheint, was geschehen wird, macht das Erstaunliche und Charakteristische dieses Tagebuchs aus.
Doch die Unbeschwertheit weicht nach und nach etwas: zunehmend sind die Eintragungen geprägt von den anrollenden Deportationswellen, die nun auch das direkte Umfeld Petrs erfassen. Tragikomisch und grotesk gestalten sich manche Abschiede der zur Deportation Bestimmten: Für den kleinen Sohn von Verwandten, die „nach Polen fahren“, kauft Petr „einen Panzer und einen Affen […] damit er unterwegs etwas zum Spielen hat. Der Affe hüpft und schlägt Purzelbäume“, notiert Petr weiter, „Pavlièek hat aber Angst vor ihm“.

Petrs vorletzter Eintrag stammt vom 8. August 1942. Es ist ein idyllisches Bild: „Am Schlachthof. Auf den Flößen gelegen, Sonne und Wasser genossen, es uns gut gehen lassen.“ Doch das Vexierbild wird umspringen. Wenig später deportiert man Petr Ginz nach Theresienstadt. Dort gibt er die Lagerzeitung „Vedem“ heraus, in der es heißt: “Der Samen eines schöpferischen Gedankens geht nicht in Schlamm und Kot unter. Auch da treibt er aus und entfaltet seine Blüten wie ein Stern, der inmitten der Finsternis leuchtet“. Tatsächlich bleibt Petr schöpferisch tätig, so weit ihm das möglich ist: Er verfasst Geschichten, er dichtet und malt. Es war eine Zeichnung Petrs, durch die man schließlich auf die Tagebuchhefte aufmerksam wurde: Der israelische Astronaut Ilan Ramon hatte Petrs Bild „Die Erde vom Mond aus gesehen“ aus der Gedenkstätte Yad Vashem mit auf seine Fahrt in den Weltraum genommen. Zwei Jahre lang hat Petr Ginz in Theresienstadt überlebt. Dort erinnerte er sich schreibend an seinen letzten Tag in Prag, an dem er morgens vom Deportationsbefehl erfahren hatte: „Mama öffnete die Tür und wunderte sich, wieso ich so früh da war. `Mama, bleib ganz ruhig, ich bin auf der Liste`. Mama war wie vor den Kopf geschlagen, sie begann zu weinen. […] Antreten sollte ich um 6 Uhr abends am Messeplatz. Ein Riesenchaos war ausgebrochen, alle packten […]“. In der Rückschau überfällt Petr noch einmal die Sehnsucht nach der Normalität eines heilen Alltagslebens, wie sie auch das gesamte Tagebuch durchzieht, er schreibt im Anschluss: „Währenddessen aßen wir zu Mittag. Ich erinnere mich nicht mehr, was es damals gab, würde es aber sehr gerne wissen; ich vermute, dass wir Fleischklößchen hatten“. Petr Ginz wurde 1944 in Auschwitz ermordet.


Birgit Hofmann - red / 23. Dezember 2006
ID 2874


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